Psychologie politischer Reden und Kommunikation
Politische Psychologie: Denkorientierungen und Denkmuster von Führenden in der Politik
CMC Forschungsprojekt WORTSTROM
Artikel
Trends in politischen Reden. Eine vergleichende Trendanalyse anhand der Reden von US-Präsident George W. Bush und Bundeskanzler Gerhard Schröder vor und nach 9/11.
Dr. Peter Niebisch
Einführung: Die Modell-Studie von Bligh, Kohles & Meindl
2004 veröffentlichten Bligh, Kohles & Meindl im renomierten Journal of Applied Psychology eine Studie mit dem Titel: „Charting the language of leadership: A methodological investigation of President Bush and the crisis of 9/11“.
Die Forscher gingen der Frage nach, ob und in welchem Maße Krisenereignisse, wie z.B. der Terroranschlag vom 11. September 2001, Inhalte und Stil der Komunikation von Politikern verändern. Sie analysierten dies am Beispiel des damaligen Präsidenten George W. Bush.
Dazu wurden u.a. 74 Reden von Bush, verteilt auf die Zeit vor und nach 9/11, mit dem inhaltsanalytischen Programm DICTION (Version 5, 2000 sowie Version 7, 2013) untersucht. Bei fünf von sechs Hauptkategorien des Diktionärs zeigten sich signifikante Veränderungen in erwarteter Richtung: Collectives, Faith, Patriotism, Ambivalence und Aggression.
In ihrer Diskussion der Ergebnisse betonen die Autoren, dass es ihnen mit ihrer Analyse nicht nur um die rein inhaltliche Fragestellung ging. Sie sehen in ihrer Studie auch einen Beleg dafür, dass mit Hilfe computer- bzw. diktionärgestützter Inhaltsanalysen interessante und vor allem valide Einsichten zur politischen Kommunikation/Führung gewonnen werden können. Insofern hatte die Studie von Bligh, Kohles & Meindl für unser Projekt eine gewisse Modellwirkung.
Die Ereignisse vom 11.9.2001 fallen in der Regierungszeit von Gerhard Schröder, so dass es sinnvoll erschien, entsprechende Analysen auch für seine Reden durchzuführen. Wie Bligh, Kohles & Meindl interessieren wir uns für die Veränderungen in der Kommunikation - nun von Bush und Schröder vor und nach 9/11. Dabei geht es uns vor allem um die Veränderungssensitivität (Konstanz und Variabilität) unserer inhaltsanalytischen Textkennwerte aus DOTA ► und SymTex ►.
Methodische Aspekte und Erwartungen zur eigenen Studie
Für die Analyse von Bush wurden alle 87 verfügbaren Reden in deutscher, autorisierter Übersetzung im Zeitraum vom 3.8.2000 (Nominierung als Präsidentschaftskanndidat) bis zum 8.9.2008 (Rede zur ehrenamtlichen Arbeit kurz vor Amtsende) herangezogen. Drei Phasen wurden definiert:
Analog dazu für Schröder:
Das von Bligh, Kohles & Meindl verwendete Diktionärsystem DICTION ist ähnlich aufgebaut wie unsere Diktionäre (insbesondere SymTex), verwendet allerdings andere inhaltlich definierte Kategorien und abgeleitete Indexwerte. Ein unmittelbarer Ergebnisvergleich ist daher kaum möglich.
Bush galt in der Zeit vor dem 9. September als noch „suchend“ und recht orientierungslos. Wie einer seiner Chronisten betonte, „musste (Bush) in sein Amt zunächst hineinwachsen. Das entscheidende Datum ist nicht das seiner Amtseinführung, sondern das des Angriffs auf Amerikas Selbstverständnis und Sicherheit, der 11. September 2001“ (Joachim Widmann, Porträt zu George W. Bush „Der Polarisierer“, 2004 ►).
Nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund der Ergebnisse von Bligh, Kohles & Meindl erwarteten wir also bei Bush recht „dramatische“ Veränderungen in der Kommunikation vor und nach 9/11 - und zwar bezogen auf die meisten Kenn- und Indexwerte der von uns verwendeten Diktionäre.
Auch Bundeskanzler Schröder reagierte mit seiner Regierungserklärung vom 12.09. recht betroffen und sicherte mehrfach die „uneingeschränkte Solidarität“ mit den USA zu - was sich allerdings im nachfolgenden Irakkrieg stark relativierte. Außerdem hatte Schröder vermutlich zu dieser Zeit schon andere Themen in Vorbereitung - gewissermaßen auf seiner „Agenda“. Von da her gesehen erwarteten wir nur wenige und mäßige Veränderungen in der Kommunikation von Schröder - nicht zuletzt auch aufgrund der geringeren (unmittelbaren) Betroffenheit.
Erweiterte Perspektive:
Nach dem Terroranschlag setzte (nicht nur) in Deutschland eine intensive Diskussion über die politischen Folgen von 9/11 ein, die u.a. Prantl mit seiner Veröffentlichung von 2008 auf den Punkt brachte: „Der Terrorist als Gesetzgeber. Wie man mit Angst Politik macht“ (siehe u.a. auch Lakoff & Wehling, 2007; Sunstein, 2007).
Die zentrale These dieser Autoren ist, das angstförderliche Kommunikation von Politikern bewusst eingesetzt wird, vor allem um Gesetze und Vorhaben (häufig unter dem Vorwand des Präventionsprinzips) durchzusetzen, die im Kern freiheitlich-demokratische Rechte einschränken und ein höheres Maß an gezielter, unverhohlter Bürgerkontrolle erlauben. Die kognitiven Linguisten Lakoff & Wehling beziehen sich in ihrer Veröffentlichung mit dem Titel „Auf leisen Sohlen ins Gehirn“ direkt auf die politische Kommunikation von George W. Bush:
„Sagen Sie den US-Amerikanern und der Welt oft genug: ‚Krieg gegen den Terror!', so ist das ein sicheres politisches Mittel, um ein Gefühl von Terror, also von Angst, permanent aufrechtzuerhalten. … Angst aktiviert das Bedürfnis nach einer starken Führerfigur, nach einer Vaterfigur mit absoluter Entscheidungsgewalt, die sich schützend vor die Nation stellt. Mit anderen Worten: Angst aktiviert in uns die konservative Weltsicht, … Das Schüren der Angst durch Begriffe wie ‚Krieg gegen den Terror' folgt einem politischen Ziel: der Stärkung der konservativen Partei. … Nicht ohne Grund beginnen noch heute, sechs Jahre nach den Anschlägen vom 11. September 2001, viele Reden konservativer Politiker mit den Worten: ‚9/11 hat unsere Welt verändert.' Es ist beinahe amüsant zu beobachten, wie selbst Reden zur Steuerpolitik und anderen innenpolitischen Themen sinngemäß mit Sätzen beginnen wie: ‚9/11 hat Angst und Schrecken über jeden US-Amerikaner gebracht, wir sollten die Steuern senken!'." (2007, 121-122)
Mit anderen Worten: Zumindest Lakoff & Wehling unterstellen indirekt, dass der Terroranschlag vom 9. September 2001 für Bush selbst (und Politiker der Republikaner) eine durchaus willkommene „Argumentationshilfe“ war, um die eigenen politischen Intentionen durchzusetzen.
In Deutschland hält sich bis heute die politische Kontroverse um mehr Sicherheit gegenüber bürgerlicher Selbstbestimmung - wenn sich inzwischen auch die thematischen Aufhänger geändert haben (Stichworte: Flüchtlinge, Video-Kontrolle, Big Data, NSA, BND, Internet-Security, „auf dem Weg zum Überwachungsstaat“, Terror-Gefahr und Terror-Prävention, etc.).
Aber wie stellt sich das Ganze nun im Lichte einer quantitativen Inhaltsanalyse der Reden von zwei Spitzenpolitikern dar? Haben Prantl, Lakoff & Wehling, Sunstein und andere Recht, wenn sie vermuten, dass terroristische Anschläge oder andere angsteinflößende Krisen (bewusst oder unbewusst eingeleitet) zu einem grundsätzlichen und langfristigen Wandel der politischen Kommunikation in Richtung auf mehr Sicherheitsorientierung, Bürgerkontrolle, verstärkter Überwachung, Freiheitsbeschränkungen, etc. - also letztlich zu einem (kommunizierten) politischen Wertewandel - führen?
Zwei explorative Einzelfallstudien können hierauf keine abschließende Antwort geben - zumal uns hier in erster Linie die generelle Veränderungssensibilität unserer Kennwerte interessiert -, aber dennoch am Beispiel dieser beiden Politiker erste empirische Tendenzen aufzeigen.
Ergebnisse: George W. Bush und Gerhard Schröder vor und nach 9/11
Vorbemerkung: Für die grafische Darstellung der Daten wird eine einfache, lineare Prozentwert-Transformation unter Berücksichtigung von Referenzwerten vorgenommen. Die Referenzwerte ergeben sich derzeit aus 3678 Reden von 264 Politikern. Das Referenzmittel der jeweiligen Variable/ Kategorie ist immer auf 100 gesetzt - berechnet wird dann die prozentuale Abweichung für den einzelnen Politiker entsprechend seinem korrespondierenden Wert (also im Kern ein schlichter Dreisatz). Mit anderen Worten: Deutliche Abweichungen von 100 (nach oben oder unten) sind bedeutsam und bemerkenswert. Hinweis: Die statistischen Vertrauensintervalle für jede einzelne Variable sind bei Niebisch (2015) zu finden.
Die Abbildungen 1 bis 5 stellen die Ergebnisse auf der Redenebene dar, wobei in Abbildung 1 und 2 die Ergebnisse für Bush und Schröder gegenübergestellt sind - und zwar für die DOTA-Variable Referentielle Prägnanz (dem eigentlichen Dogmatismuskennwert).
Abb. 1: Referentielle Prägnanz in 87 Reden für Bush - verteilt nach 3 Phasen (Erläuterung im Text).
Abb. 2: Referentielle Prägnanz in 439 Reden für Schröder - verteilt nach 3 Phasen (Erläuterung im Text).
Wie nach der Dogmatismustheorie zu erwarten war (Stichwort: emotionales „Arousal“), steigen die Werte für die referentielle Prägnanz in der jeweils ersten Rede nach 9/11 deutlich an - bei Bush auf 198 und bei Schröder auf 136 Punkte - und sinken in beiden Fällen danach wieder ab, allerdings bei Schröder deutlich niedriger.
Gemessen am Mittelwert für die Reden der restlichen Amtsperiode erhöht sich der Wert für Bush von 105 (Baseline) auf 122, während er sich für Schröder von durchschnittlich 89 auf 83 Punkte leicht senkt. Bemerkenswert für Bush ist hingegen auch das durchschnittliche Absinken der Werte in seiner zweiten Amtszeit auf 89 Punkte, während bei Schröder die Werte auf etwa gleichem Niveau bleiben.
Insgesamt fällt darüber hinaus bei beiden Politikern die hohe Volatilität der Werte auf, was aber aufgrund der jeweils unterschiedlichen Redeanlässe und Themen auch zu erwarten war.
Mit den Abbildungen 3 bis 5 werden einige Detailaspekte bei Bush auf der Faktorenebene näher beleuchtet: Domination, Lektion und Kohasion. Hier erwarteten wir vor dem Hintergrund motivationspsychologischer Annahmen a) eine deutliche Erhöhung der Dominations- und Lektionswerte nach 9/11 sowie b) eine sichtbare Verminderung der Kohäsionswerte. Beide Thesen werden durch die Daten grundsätzlich gestützt. Definition und Zusammensetzung der Faktoren:
Domination: Konfrontative Durchsetzung politischer Ideologien (Weltanschauungen) oder Machtinteressen
= (Ideologie + Konfrontation + Macht + Wettbewerb + Referentielle Prägnanz) / 5
Lektion: Kritik und Bekämpfung von gesellschaftspolitischen Missständen, Krisen, politischen Programmen, Parteien, etc.
= (Negative Emotion + Destruktion + Negative Evaluation + Religion + Beschimpfung) / 5
Kohäsion: Stabilisierung und Entwicklung des gesellschaftlichen Zusammenhalts
= (Konformität + Gemeinschaft + Wohlfahrt + Stabilität + Positive Sanktion + Sicherheit) / 6
Abb. 3: Faktor Domination in 87 Reden für Bush - verteilt nach 3 Phasen (Erläuterung im Text).
Abb. 4: Faktor Lektion in 87 Reden für Bush - verteilt nach 3 Phasen (Erläuterung im Text).
Abb. 5: Faktor Kohäsion in 87 Reden für Bush - verteilt nach 3 Phasen (Erläuterung im Text).
Zur Abrundung werden in den folgenden Abbildungen einige zusätzliche Kennwerte für Bush und Schröder auf der Phasenebene gegenübergestellt:
Abbildung 6 und 7 - Norm/Ordnung, Negative Sanktion, Positive Sanktion
Bei Busch steigen die Werte für Negative Sanktion in der zweiten Phase dramatisch an (von 64 auf 271 Punkte) und bleiben auch in der dritten Phase auf hohem Niveau (157). Bei Schröder verharren die Werte für Negative Sanktion auf gleichbleibend niedrigem Niveau (36 bis 42 Punkte).
Abb. 6: Norm-/ordnungsthematische sowie negative/positive Sanktionsausdrücke für Bush in 3 Phasen.
Abb. 7: Norm-/ordnungsthematische sowie negative/positive Sanktionsausdrücke für Schröder in 3 Phasen.
Abbildung 8 und 9 - Religion, Erkenntnis/Wissenschaft, Ökologie
Die bei Bush ohnehin schon extrem hohen Werte für Religion in der Baselinephase (430) erhöhen sich in der zweiten Phase nochmals „leicht“ um 39 Punkte (auf insgesamt 469), die Punkte für Erkenntnis/Wissenschaft sowie Ökologie fallen drastisch ab. Bei Schröder zeigen sich kaum nennenswerte Veränderungen - bis auf den Anstieg bei Erkenntnis/Wissenschaft von der zweiten zur dritten Phase mit 60 zu 108 Punkten.
Abb. 8: Religions-, erkenntnis- und ökologiethematische Ausdrücke für Bush in 3 Phasen.
Abb. 9: Religions-, erkenntnis- und ökologiethematische Ausdrücke für Schröder in 3 Phasen.
Abbildung 10 und 11 - Zusammenfassende Kommunikationskomponenten: Domination, Lektion, Kohäsion, Lokomotion, Regulation
Bei Bush zeigen sich dramatische Veränderungen bei den Faktoren Domination (von 90 auf 144 Punkte), bei Lektion (von 173 auf 231 Punkte) und Regulation (von 57 auf 171 Punkte, ein Unterfaktor von Regulation ist Negative Sanktion). In seiner zweiten Amtsperiode nivellieren sich alle fünf Faktoren auf etwa gleichem Niveau (zwischen 116 und 130 Punkten). Bei Schröder bleibt die Konstellation der fünf Faktoren in allen drei Phasen in etwa gleich.
Abb. 10: Domination, Lektion, Kohäsion, Lokomotion und Regulation für Bush in 3 Phasen.
Abb. 11: Domination, Lektion, Kohäsion, Lokomotion und Regulation für Schröder in 3 Phasen.
Abbildung 12 und 13 - Krise, Arbeitslosigkeit, Terror, Krieg, Naturkatastrophe
Auch bei Schröder verstärkt sich „das Reden über Terror“ von der ersten Phase (14 Punkte) auf 429 Punkte in der zweiten Phase (dritte Phase 155), allerdings erscheinen diese Werte gegenüber denen von Bush geradezu „niedlich“: Erste Phase 41 Punkte, zweite Phase 2051 (!) und dritte Phase 866 Punkte. Auffallend ist zudem, dass Schröder das „Reden über Krieg“ offensichtlich eher „vermeidet“: Erste Phase 57, zweite Phase 51 und dritte Phase 96 Punkte. Bei Bush: Erste Phase 104, zweite Phase 365 und dritte Phase 203 Punkte.
Abb. 12: Bedrohungsthematische Bezüge für Bush in 3 Phasen.
Abb. 13: Bedrohungsthematische Bezüge für Schröder in 3 Phasen.
Schlussbemerkungen
Mit dieser Trendanalyse orientierten wir uns an einer Vorgängerstudie von Bligh, Kohles & Meindl (2004), die mit Hilfe des Diktionärsystems DICTION die Veränderungen in der Kommunikation von US-Präsident Bush vor und nach 9/11 untersuchten und dabei entsprechend ihrer Hypothesen starke und signifikante Differenzen zwischen Phase 1 und 2 entdeckten.
Uns ging es mit unseren Studien vor allem darum, die Veränderungssensibilität unserer Textkennzahlen zu prüfen. Anhand der Reden von Bush und Bundeskanzler Schröder (im etwa gleichen Zeitraum) konnte gezeigt werden, dass bei Bush (auch mit unseren Text-Statistiken) zum Teil „dramatische“ Veränderungen zu beobachten sind, während bei Schröder insgesamt gesehen nur kurzfristige, mäßige bis gar keine vorliegen. In der Gesamtbetrachtung bestätigen die Ergebnisse unsere eingangs beschriebenen Hypothesen.
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