Psychologie politischer Reden und Kommunikation

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Politische Psychologie: Denkorientierungen und Denkmuster von Führenden in der Politik

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CMC Forschungsprojekt WORTSTROM

Tabellen

Einführung in das WORTSTROM-Kommunikationsprofil

 

Für die Einzelfallbetrachtungen (auf Politiker- oder Redenebene) wurde ein standardisiertes, grafisches Screening-Verfahren entwickelt, was wir als WORTSTROM-Kommunikationsprofil bezeichnen. Ziel ist es, einen schnellen und komprimierten Überblick über die wichtigsten Kenn- bzw. Indexwerte für den jeweiligen Textkorpus zu erhalten. Insgesamt werden mit dem Kommunikationsprofil 63 Variablen verteilt auf 10 Grafiken dargestellt.

 

Wir veranschaulichen dieses Verfahren im Folgenden am Beispiel von 20 Reden der ehemaligen Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn, SPD (im Zeitraum 2002 bis 2005).

 

Grundsätzlich: Für die grafische Darstellung der Daten wird eine einfache, lineare Prozentwert-Transformation unter Berücksichtigung von Referenzwerten vorgenommen. Die Referenzwerte ergeben sich derzeit aus 3678 Reden von 264 Politikern. Das Referenzmittel der jeweiligen Variable/ Kategorie ist immer auf 100 gesetzt - berechnet wird dann die prozentuale Abweichung für den einzelnen Politiker entsprechend seinem korrespondierenden Wert (also im Kern ein schlichter Dreisatz). Mit anderen Worten: Deutliche Abweichungen von 100 (nach oben oder unten) sind bedeutsam und bemerkenswert. Hinweis: Die statistischen Vertrauensintervalle für jede einzelne Variable sind bei Niebisch (2015) zu finden.

 

Die ersten drei Abbildungen informieren über die Kennwerte für die ...

 

 

Die Werte für die Kommunikationsdimensionen (aus unserer Sicht = Motive, vgl. Dimensionen politischer Kommunikation) werden über Faktorsummenscores gebildet, wobei nur die positiv gerichteten Variablen (der Faktorenanalysen) berücksichtigt werden:

 

 

In der nachfolgenden (zweiten) Grafik sind die Werte in Prozentanteile umgerechnet und als Tortengrafik dargestellt.

 

Politische Reden sind auf „Wirkung“ hin angelegt. Mit ihnen soll in aller Regel nicht nur informiert werden, sondern sie dienen vor allem dazu, ihre Rezipienten zu überzeugen, um damit eine möglichst positive Resonanz zu erhalten. Aber was zeichnet überzeugende, wirkungsvolle Reden aus?

 

Die einschlägige rhetorische und kommunikationspsychologische Literatur (u.a. Mentzel, 2000; Schulz von Thun, 1981; Winkler & Commichau, 2008) enthält dazu eine Menge an Hinweisen und Tipps. Verdichtet man diese, sollten Reden zumindest drei Merkmale aufweisen, um überzeugend und „wirksam“ zu sein:

 

 

Betrachtet man nun die in den bisherigen Abbildungen dargestellten Kennwerte und Indexwerte unter diesen Gesichtspunkten, wird deutlich, dass einige von ihnen herangezogen werden können, um die Verständlichkeit, Eindringlichkeit und den Aktivierungsgrad von Reden einschätzen zu können.

 

Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Grad an Verständlichkeit, Eindringlichkeit und Aktivierung von Reden nicht nur von den diesbezüglichen Merkmalen abhängig ist, sondern bekanntlich im starken Maße von den Rezipienten (Zuhörern, Lesern) selbst. Was für den einen verständlich ist (z.B. aufgrund seiner Vorkenntnisse), bleibt einem andereren Zuhörer (trotz leichter Wortwahl und guter Gliederung) womöglich völlig unverständlich. Was auf den einen Zuhörer als emotional-engagiert wirkt, wird womöglich von anderen als fade und abgedroschen wahrgenommen - je nach Einstellung und Haltung zum „Sender“. Deswegen sprechen wir in diesem Zusammenhang von (Wirkungs-) Potenzialen und schätzen diese gewissermaßen aus der oder den Rede/n selbst heraus ein.

 

Dazu dienen die drei folgenden Positionierungscharts, mit denen jeweils zwei (statistisch) unabhängige Kriterien gegenüberstellt sind, wobei die ersten vier Kennwerte bzw. Indizes schon der Abbildung (Stilistische Kategorien und Indexwerte) zu entnehmen sind.

 

Zur Einschätzung des Verständlichkeitspotenzials bilden in ersten Abbildung die beiden Kategorien Konkretion (konkret-anschauliche Ausdrücke) und Abstraktion (abstrakt-problemstrukturierende Ausdrücke) das Portfolio.

 

Seit langem geht man in der (Kognitions-) Psychologie davon aus, dass konkret-anschauliche Ausdrücke (wie z.B. Vogel, Baum, Haus, Hund, Katze, Wolke, Elefant, etc.) einfach „eingängiger“ sind - sie führen beim Rezipienten häufig zu einer unmittelbaren Sinneswahrnehmung, zu einem inneren, prototypischen „Bild“. In manchen Fällen werden solche sinnesnahen Ausdrücke gerade in politischen Reden auch bewusst metaphorisch eingesetzt. Man denke hierbei z.B. an die „Heuschrecken“ von Franz Müntefering oder die soziale „Hängematte“ von Helmut Kohl.

 

Bei den abstrakt-problemstrukturierenden Ausdrücken handelt es sich nicht um abstrakte Wortmonster wie z.B.  Verkehrsinfrastrukturfinanzierung oder Verkehrswegeausbaubeschleunigungsgesetz, sondern um Ausdrücke, mit denen häufig der Text strukturiert (indirekt gegliedert) wird - beispielsweise: Was ist unsere Zielsetzung? Worin sehen wir die Ursachen dieser Probleme? Welche Maßnahmen erscheinen uns sinnvoll? Mit welchen Konsequenzen, Wirkungen, Nebeneffekten, etc. haben wir zu rechnen? Von welchen Prämissen gehen wir aus? etc. Im meta-kommunikativen Sinne wird mit diesen Ausdrücken eine Orientierung für den Rezipienten gegeben - man sagt, worüber man gerade spricht, was aber dem (Rede-) Text, sofern dieses Stilmittel zu stark dominiert, eine sachliche, nüchterne, trockene Note gibt.

 

In der nächsten Abbildung sind die beiden Indexwerte Operative Prägnanz (Tendenz zur Gewissheit und Notwendigkeit) und Referentielle Prägnanz (Tendenz zur Generalisierung und übermäßigen Simplifizierung) gegenübergestellt.

 

Aus einer rhetorischen, kommunikationspsychologischen Sicht wird eine aus- und nachdrückliche, unmissverständliche, direkte Sprache, die mit Bestimmtheit das Wesentliche zum Ausdruck bringt, häufig positiv eingeschätzt - vor allem im Gegensatz zu einem vagen, nebulösen, unpräzisen verschwommenen, ausweichenden Sprachgebrauch, der gerade im politischen Bereich ja immer wieder von Bürgern kritisiert wird. Insofern ist sprachliche Prägnanz zunächst einmal ein gefragtes, willkommenes Stilmittel politischer Kommunikation - zumindest in unserem (westlichen) Kulturkreis, wie interkulturelle Studien belegen.

 

Das Ganze scheint aber dort seine Grenze zu haben, wo die Sprache zu dogmatisch, apodiktisch, rigide, doktrinär, etc. wird  (was insbesondere am Indexwert Referentielle Prägnanz ablesbar ist) oder der Ratio- und Appellcharakter der Ausführungen so stark ausgeprägt ist, dass schon Reaktanzeffekte bei den Empfängern zu befürchten sind (ablesbar an der Operativen Prägnanz).

 

Mit der nachfolgenden Abbildung wird die vorherrschende Tonalität der Rede/n eingeschätzt, wobei wir hierbei davon ausgehen, dass diese Stimmung im psychologischen Sinne aktivierend ist - oder eben kaum oder gar nicht. Ähnlich wie bei der Wahrnehmung eines künstlerischen Werkes (einem Gemälde, Musikstück, einer Skulptur, etc. also einer „Komposition“ im weitesten Sinne) wird ein mehr oder weniger starkes „Arousal“ beim Rezipienten hervorgerufen. Diese „Erregung“ (Stimulation) kann dann - je nach „Priming“ - eher emotional negativ oder positiv gefärbt sein (u.a. Kroeber-Riel, 1980, 64-111).

 

Unsere diesbezüglichen (faktorenanalytischen) Studien zeigen zwei statistisch unabhängige Sentiment-Komponenten, die sich folgendermaßen zusammensetzen und der Abbildung zugrunde liegen:

 

 

Die letzten beiden Charts haben ergänzenden Charakter und vervollständigen das Bild mit weiteren thematischen Kategorien.

 

In Anbetracht der zunehmenden Komplexität politischer Verhältnisse und Entscheidungen (man denke in diesem Zusammenhang nur an Europa) wird von Politikerinnen und Politikern - zumindest hin und wieder - die menschliche Dimension ihres Tuns betont und damit besonders hervorgehoben - wie beispielsweise Angela Merkel es auf ihrer ehemaligen Webpage getan hat:

 

„ … Im Mittelpunkt unserer Politik steht nicht irgendein abstraktes Konzept. Im Mittelpunkt unserer Politik steht der Mensch. Denn wir wissen: Jeder Mensch ist einmalig“ (ehemals auf angela-merkel.de).

 

Aber findet sich das auch in den Redeauftritten der jeweiligen Politiker - wenn man so will im politischen Tagesgeschäft - wieder?  Darüber informiert die folgende Abbildung. Beispielausdrücke:

 

 

In der letzten Abbildung sind einige Kategorien zusammengefasst, die darüber informieren, mit welchen politisch relevanten Bedrohungen sich der Politiker in seinen Reden auseinandergesetzt hat. Es gibt bedeutend mehr Bedrohungsthemen (z.B. Armut/Elend/Not, Unfall, Krankheit/Seuche, Beschaffungskriminalität/Korruption, Entführung/en, etc.), die aber hier (noch) nicht berücksichtigt wurden. Beispielausdrücke:

 

 

Einige der hier angeführten Kategorien verdeutlichen dabei im Nachhinein, warum beispielsweise gerade die Sentimenteinschätzungen besonders negativ ausgefallen sind - was z.B. häufig dann der Fall ist, wenn starke Bezüge zu den Kategorien Terror und/oder Krieg in der oder den Rede/n vorherrschen.

Mit Hilfe dieses Screening-Verfahrens wurden nun mehrere dutzend Einzelfälle auf der Politiker- sowie auf der Redenebene untersucht - und zwar vor dem Hintergrund historischer und biografischer Informationen/Daten. Dabei standen zwei Zielsetzungen im Vordergrund:

 

 

Allerdings muss zum ersten Punkt kritisch angemerkt werden, dass historisch-biografische Informationen häufig zwar den (privaten und politischen) Lebensweg, wichtige Stationen und Entscheidungen, etc. beschreiben, aber eben auf den Gegenstand dieser Arbeit - die (politisch-psychologischen) Denkorientierungen, das „Gedankengut“, die Weltanschauung und (Wert-) Überzeugungen der betreffenden Politiker - wenn überhaupt, nur am Rande und wenn, nur recht indirekt und unsystematisch (kursiv) eingehen.

 

Bei der Analyse der biografischen Informationen sowie einiger journalistisch geprägter Artikel/Bücher entstand darüber hinaus der Eindruck, dass viele dieser Schriften gefärbt sind von der persönlichen Haltung der Autoren zum jeweiligen Politiker oder aus einer gewissen „politischen Perspektivhaftigkeit“ geschrieben wurden (vgl. u.a. Hebel, 2013; Höhler, 2012; von Sternburg, 2007).

 

Damit stellt sich aber die Frage, welche Informationen letztlich zuverlässiger und gültiger sind: Unsere (Stichproben-) Screening-Daten oder die der jeweiligen Autoren. Die Frage kann und soll hier nicht weiter verfolgt werden.

 

Zumindest aber entstand bei den diesbezüglichen Analysen der Eindruck, dass unsere Screening-Daten geeignet sind, gewisse (Vor-) Urteile (Voreingenommenheiten) zu korrigieren (oder in manchen Fällen auch zu bestätigen) und einige Aspekte im Denken der jeweiligen Politiker - aus einer psychologischen Perspektive - deutlicher zu vertiefen und zu präzisieren.

 

Auf der Grundlage dieses Screening-Verfahrens veröffentlichen wir hier einige weitere Analysen zu einzelnen Reden oder Politikern, die wir allerdings (noch) nicht weiter kommentieren bzw. interpretieren. Dies ist Gegenstand weiterer Arbeiten. Wie das aussehen kann, ist bei Niebisch (2015) am Beispiel eines Politikers dargestellt.