Psychologie politischer Reden und Kommunikation
Politische Psychologie: Denkorientierungen und Denkmuster von Führenden in der Politik
CMC Forschungsprojekt WORTSTROM
Politische Rede im Wortlaut
Gerhard Schröder: Große Regierungserklärung am 10.11.1998
Redeanalyse (Kommunikationsprofil) ►
„Herr Präsident,
meine sehr verehrten Damen und Herren,
erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland haben die Wählerinnen und Wähler durch ihr unmittelbares Votum einen Regierungswechsel herbeigeführt. Sie haben Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen beauftragt, Deutschland in das nächste Jahrtausend zu führen. Dieser Wechsel ist Ausdruck demokratischer Normalität und Ausdruck eines gewachsenen demokratischen Selbstbewußtseins. Ich denke, meine sehr verehrten Damen und Herren, wir können alle stolz darauf sein, daß die Menschen in Deutschland rechtsradikalen und fremdenfeindlichen Tendenzen eine deutliche Abfuhr erteilt haben.
An dieser Stelle möchte ich noch einmal meinem Vorgänger im Amt, Herrn Dr. Helmut Kohl, für seine Arbeit und für seine noble Haltung bei der Amtsübergabe danken.
Vor uns liegen gewaltige Aufgaben. Die Menschen erwarten, daß eine bessere Politik für Deutschland gemacht wird. Wir wissen: Ökonomische Leistungsfähigkeit ist der Anfang von allem. Wir müssen Staat und Wirtschaft modernisieren, soziale Gerechtigkeit wiederherstellen und sie sichern, das europäische Haus wirtschaftlich, sozial und politisch so ausbauen, daß die gemeinsame Währung ein Erfolg werden kann. Wir müssen die innere Einheit Deutschlands vorantreiben; und vor allem und bei allem: Wir müssen dafür sorgen, daß die Arbeitslosigkeit zurückgedrängt wird, daß bestehende Arbeitsplätze erhalten bleiben und neue Beschäftigung entsteht.
Dafür brauchen wir neue Unternehmen, neue Produkte, neue Märkte und vor allen Dingen schnellere Innovation. Wir brauchen eine bessere Ausbildung und eine Steuer- und Abgabenpolitik, die vor allem die Kosten der Arbeit entlastet. Diese Bundesregierung wird die Probleme schultern, und sie wird die schöpferischen Kräfte, die es in unserem Land überreich gibt, mobilisieren.
Die Bedingungen, unter denen wir an den Start gehen, sind alles andere als günstig. Entgegen dem, was gelegentlich von der Opposition im Haus verbreitet wird, hat uns die alte Bundesregierung keineswegs ein bestelltes Haus hinterlassen.
Das Ergebnis unseres vorläufigen Kassensturzes zeigt den Ernst der finanzpolitischen Lage. Die Verschuldung des Bundes ist auf weit über eine Billion D-Mark getrieben worden. Der laufende Bundeshaushalt ist mit Zinsverpflichtungen von mehr als 80 Milliarden D-Mark belastet. Das heißt, jede vierte Mark, die der Bund an Steuern und Abgaben einnimmt, muß für diese gewaltigen Zinslasten ausgegeben werden. Hinzu kommt - ich muß das sagen, auch wenn es Ihnen nicht paßt -: Milliardenschwere Haushaltsrisiken wurden ignoriert; Einnahmen wurden zu hoch veranschlagt; Ausgaben wurden zu niedrig veranschlagt: Jahrelang hat man den Haushalt nur durch Einmaleffekte ausgeglichen. Deren Wirkung ist gleich wieder verpufft. Die großen Haushaltslasten aber, die schwerwiegenden strukturellen Probleme des Bundeshaushaltes, hat man einfach in die Zukunft verlagert.
Nach den jetzt ermittelten Zahlen müßte die jährliche Neuverschuldung mittelfristig um bis zu 20 Milliarden D-Mark höher ausgewiesen werden, als Sie, Herr Waigel, das im Finanzplan gemacht haben. Das ist Ihr Problem, und das belastet jeden, der damit fertig werden muß.
Meine Damen und Herren, das kann und will ich nicht akzeptieren. Deshalb sage ich gleich am Anfang dieser Regierungserklärung: Diese finanzielle Erblast, die uns hinterlassen worden ist, zwingt uns zu einem entschlossenen Konsolidierungskurs. Wir werden angesichts dessen, was wir vorgefunden haben, um strukturelle Eingriffe nicht herumkommen. Alle Ausgaben des Bundes müssen auf den Prüfstand. Der Staat muß zielgenauer und vor allen Dingen wirtschaftlicher handeln.
Der Mißbrauch staatlicher Leistungen muß eingedämmt werden. Subventionen und soziale Leistungen werden wir stärker als bisher auf die wirklich Bedürftigen konzentrieren. Die Bürgerinnen und Bürger erwarten von uns nicht, daß wir alles in kurzer Zeit schaffen. Aber sie haben einen Anspruch darauf, daß wir nicht nur reden - wie das bisher getan worden ist -, sondern auch handeln.
1. Wir haben gesagt: Wir wollen nicht alles anders, aber vieles besser machen. Daran werden wir uns halten. Das sagen wir denen, die heute die Schlachten des Wahlkampfes noch einmal schlagen wollen. Das scheint auch auf der rechten Seite des Hauses so zu sein. Nur, besonders erfolgreich sind Sie nicht gewesen. Das werden Sie zugeben müssen.
Da gibt es diejenigen, die schon wieder Schwarzmalerei betreiben und diesen lähmenden Pessimismus verbreiten, der unser Land lange genug gehindert hat, die nötigen Schritte zur Anpassung an die Wirklichkeit zu tun. Aber das rufen wir auch denjenigen zu, die meinen, das jetzt Beschlossene gehe nicht weit genug.
Wir wollen die Gesellschaft zusammenführen, die tiefe soziale, geographische, aber auch gedanklich-kulturelle Spaltung überwinden, in die unser Land geraten ist. Wir werden Deutschland entschlossen modernisieren und die innere Einheit vorantreiben. Voraussetzung dafür ist eine schonungslose Beurteilung der Lage, aber auch und vor allem das Besinnen auf die Stärken der Menschen in unserem Land und das Zutrauen darauf, daß wir es schaffen können.
Dieser Regierungswechsel ist auch ein Generationswechsel im Leben unserer Nation. Mehr und mehr wird unser Land heute gestaltet von einer Generation, die den Zweiten Weltkrieg nicht mehr unmittelbar erlebt hat. Es wäre nun gefährlich, dies als einen Ausstieg aus unserer historischen Verantwortung mißzuverstehen. Jede Generation hinterläßt der ihr nachkommenden Hypotheken, und niemand kann sich mit der ‚Gnade’ einer ‚späten Geburt’ herausreden.
Für manche ist dieser Generationswechsel eine große Herausforderung. Schon ein Blick auf die Regierungsbank oder auch in dieses Parlament zeigt, was die große Mehrheit unter uns politisch geprägt hat. Es sind die Biographien gelebter Demokratie.
Wir haben den kulturellen Aufbruch aus der Zeit der Restauration miterlebt und mitgemacht. Viele von uns waren in den Bürgerbewegungen der siebziger und achtziger Jahre engagiert. Die ehemaligen Bürgerrechtsgruppen aus der DDR, die gemeinsam mit den ostdeutschen Sozialdemokraten die friedliche Revolution mitgestaltet haben, sind an dieser Regierung beteiligt.
Diese Generation steht in der Tradition von Bürgersinn und Zivilcourage. Sie ist aufgewachsen im Aufbegehren gegen autoritäre Strukturen und im Ausprobieren neuer gesellschaftlicher und politischer Modelle. Jetzt ist sie - und mit ihr die Nation - aufgerufen, einen neuen Pakt zu schließen, gründlich aufzuräumen mit Stagnation und Sprachlosigkeit, in die die vorherige Regierung unser Land geführt hat. An ihre Stelle setzen wir eine Politik, die die Eigenverantwortlichkeit der Menschen fördert und sie stärkt. Das verstehen wir unter der Politik der Neuen Mitte.
Diesen Weg werden wir partnerschaftlich beschreiten. Jeder im In- und Ausland kann sich darauf verlassen, daß diese Regierung zu ihrer politischen, aber eben auch zu ihrer sozialen Verantwortung steht. Die Hoffnungen, die auf uns ruhen, sind fast übermächtig. Aber eine Regierung allein kann das Land nicht verbessern. Daran müssen alle mittun. Je mehr Menschen sich mit ihrer Initiative und ihrer Leistungsbereitschaft an der Reform unserer Gesellschaft beteiligen, desto größer werden die Erfolge sein.
Den Menschen in Deutschland mangelt es nicht an schöpferischen Kräften. Wir werden helfen, sie zur Entfaltung zu bringen.
2. Meine Damen und Herren, es ist kein Zweifel: Unser drängendstes und auch schmerzhaftestes Problem bleibt die Massenarbeitslosigkeit. Sie führt zu psychischen Zerstörungen, zum Zusammenbruch von Sozialstrukturen. Den einen nimmt sie die Hoffnung, und den anderen macht sie Angst. Sie belastet unser Gemeinwesen derzeit mit Kosten von jährlich 170 Milliarden D-Mark.
Die Bundesregierung ist sich völlig im klaren darüber, daß sie ihre Wahl wesentlich der Erwartung verdankt, die Arbeitslosigkeit wirksam zurückdrängen zu können. Genau dieser Herausforderung werden wir uns stellen.
Jede Maßnahme, jedes Instrument kommt auf den Prüfstand, um festzustellen, ob es vorhandene Arbeit sichert oder neue Arbeit schafft. Wir wollen uns jederzeit - nicht erst in vier Jahren - daran messen lassen, in welchem Maße wir zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit beitragen.
Die Steuerreform, mit der wir in diesen Tagen beginnen, ist dazu ein erster Schritt. Wir werden nicht weitere 16 Jahre über die Notwendigkeit einer Steuerreform reden und das Für und Wider der Interessengruppen abwägen. Nein, meine Damen und Herren, wir machen diese Steuerreform.
Die Reform basiert auf der Einsicht in die ökonomischen Notwendigkeiten. Sie verbindet modernen Pragmatismus mit einem starken Sinn für soziale Fairneß. Im Mittelpunkt steht die Entlastung der aktiv Beschäftigten und ihrer Familien sowie der kleinen und mittleren Unternehmer. Deren Innovationskraft wollen und werden wir stärken. Beides zusammen wird helfen, Arbeitslosigkeit abzubauen, neue Arbeitsplätze zu schaffen und bestehende zu sichern.
Unsere Steuerreform erschließt Entlastungen von insgesamt 57 Milliarden D-Mark. Nach der Gegenfinanzierung bleiben Bürgerinnen und Bürgern sowie Unternehmen 15 Milliarden D-Mark als Nettoentlastung. Die Einkommensteuersätze werden nachhaltig gesenkt, das Kindergeld wird erhöht. Über die Legislaturperiode betrachtet, wird das einer durchschnittlich verdienenden Familie mit zwei Kindern eine Nettoentlastung von 2700 D-Mark im Jahr bringen.
Steuerschlupflöcher werden wir stopfen, ungerechtfertigte Vergünstigungen werden wir abbauen. Das macht deutlich, daß wir die Lasten in unserer Gesellschaft gerechter verteilen.
Wir werden auch die Unternehmensbesteuerung grundlegend reformieren. Unternehmenseinkünfte sollen mit höchstens 35 Prozent besteuert werden. Dafür schaffen wir jetzt die gesetzlichen Voraussetzungen. Wir entlasten damit den Mittelstand, dem - ich sage es noch einmal - eine Schlüsselrolle bei der Schaffung von Arbeitsplätzen zukommt.
Meine Damen und Herren, auch sonst haben wir entgegen dem, was gelegentlich verbreitet wird, die Anliegen des Mittelstandes berücksichtigt. Der Verlustvortrag bleibt erhalten. Ein einjähriger Verlustrücktrag bleibt ebenfalls noch für Verluste, die 1999 und 2000 entstehen und nicht mehr als 2 Millionen D-Mark betragen. Die Wiederanlage von Gewinnen aus der Veräußerung von Grund und Boden und Gebäuden wird wie bisher nach § 6b Einkommensteuergesetz begünstigt.
Die Sonder- und Ansparabschreibungen für die Existenzgründer können unverändert in Anspruch genommen werden. Für kleine und mittlere Betriebe bleiben sie bis zum Jahr 2000 erhalten.
Die Tarifermäßigung für Veräußerungsgewinne wird durch rechnerische Verteilung des Gewinns nur umgestaltet; sie wird nicht gestrichen. Damit werden zwar - das gilt es einzuräumen - Verlustzuweisungsmodelle eingedämmt, aber für die Betriebsnachfolge wird das keine Verschlechterung bedeuten.
Wir werden - das ist schon an unseren ersten Schritten sichtbar - das Steuerrecht transparenter und damit effizienter machen. Überflüssige Steuersubventionen sollen abgeschafft und wertvolle Steuergelder nicht länger in unsinnigen Steuersparmodellen verschwendet werden.
Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, einen Satz zu der im Koalitionsvertrag angekündigten umfassenden Verbreiterung der Bemessungsgrundlage sagen. Interessierte Kreise haben ja so getan, als wollten wir mit unserer Steuerreform den Unternehmern buchstäblich die Butter vom Brot nehmen. Dazu ist zu sagen, daß in den vergangenen Jahren nur einige wenige von Steuerentlastungen profitiert haben. Die große Mehrheit hat unter Steuerbelastungen leiden müssen. Jede vernünftige Steuerreform hat diesen von Ihnen verursachten Trend erst einmal zu stoppen.
Inzwischen melden sich - und das ist gut so - immer mehr Ökonomen und weitsichtige Unternehmer zu Wort, die sehen, daß diese Steuerreform für sie eine große Chance ist. Sie sehen die Perspektive, die wir mit unseren schrittweisen Entlastungen aufzeigen. Ich habe überhaupt keine Scheu, den Begriff ‚schrittweise’ dick zu unterstreichen. Für die Betroffenen im Land ist es nämlich besser, sie bekommen schrittweise etwas in die Hand, als daß sie über Jahrzehnte lediglich mit Redereien vertröstet werden. In der Tat unterscheiden wir uns, was das Machen von Politik angeht.
Die Menschen im Land sehen die Trendwende, die wir eingeleitet haben: Entlastung und Vereinfachung statt wie bisher immer höhere Sätze und immer weniger Transparenz. Ich denke, alle diejenigen, die sich wirklich mit inhaltlichen Fragen beschäftigen, nehmen bereitwillig unsere Einladung an, in einer gemeinsamen Kommission über die Strukturreform des Steuerrechtes begleitend zu beraten.
Eines will ich allerdings denen, die uns in den letzten Wochen mit schrillsten Vorwürfen überzogen haben, sagen: Niedrige und einfache Steuersätze wie zum Beispiel in den USA zu wollen, gleichzeitig aber an einer hohen Zahl von Ausnahmetatbeständen wie bisher in Deutschland festzuhalten, das geht nicht.
3. Wir werden - das ist Teil des Konzeptes zur Entlastung der aktiv wirtschaftlich Tätigen - die Nutzung der wirtschaftlichen Ressourcen endlich marktwirtschaftlicher Vernunft unterwerfen. Deshalb steigen wir sofort in eine ökologische Steuer- und Abgabenreform ein. Wir vollziehen damit, meine sehr verehrten Damen und Herren, eine längst überfällige Kehrtwende. Natur und Energie als endliche und mithin knappe Güter werden über den Preis verteuert mit dem einzigen Ziel, Arbeit, die reichlich vorhanden ist, billiger zu machen, damit mehr Menschen Arbeit haben.
Ich unterstreiche es auch hier noch einmal: Es geht uns nicht um die Erschließung einer weiteren Einnahmequelle für den Staat. Mit der Energiebesteuerung folgen wir dem Beispiel unserer Nachbarn in Dänemark, den Niederlanden und Österreich. Wir lösen damit die Probleme einer modernen Gesellschaft mit den Mitteln einer modernen Gesellschaft.
Die Einnahmen - das ist der Kernpunkt - aus der Energiesteuer verwenden wir nur zur Senkung der gesetzlichen Lohnnebenkosten. Mit den Anreizeffekten der Energiesteuer fördern wir die Schaffung neuer Arbeitsplätze in nachhaltigen Zukunftstechnologien. Gerade bei den Lohnnebenkosten ist über die Jahre hinweg über die Notwendigkeit ihrer Senkung geredet worden. Unter der alten Regierung sind sie Jahr für Jahr gestiegen. Wir machen damit Schluß, meine Damen und Herren.
Damit führen wir im Rahmen dessen, was europäisch machbar und - auch das gilt es zu erkennen - sozial vertretbar ist, Marktwirtschaft in die Ressourcennutzung ein. Wir setzen dabei auf die Beschäftigungseffekte einer zukunftsorientierten Produktion.
Das ist für uns moderne Steuer- und Wirtschaftspolitik. Wir streiten eben nicht um die Scheinalternative: Angebots- oder Nachfrageorientierung. Dieser Streit führt nämlich zu nichts. Angebots- und Nachfrageorientierung stehen nicht im Widerspruch zueinander. Wir brauchen eine Nettoentlastung der Haushalte zur Belebung der Binnenkonjunktur, damit die Menschen auch kaufen können, was die Wirtschaft herstellt.
Durch Marktöffnung und Entbürokratisierung, durch die Förderung von Innovation und Zukunftsindustrien verbessern wir die Angebotsbedingungen für Produkte, neue Märkte und neue Verfahren. Beides gehört zusammen. Das eine gegen das andere auszuspielen ist töricht.
Wir müssen alle miteinander lernen, die Dinge zu verknüpfen und in solchen Zusammenhängen zu denken: Wir stehen nicht für eine rechte oder linke Wirtschaftspolitik, sondern für eine moderne Politik der Sozialen Marktwirtschaft.
Die Bundesregierung macht endlich wieder Wirtschaftspolitik. Wir eröffnen den Menschen die Perspektive der Selbständigkeit. Wer eine Existenz gründen, eine gute Idee vermarkten will, dem werden wir nach Kräften helfen. Wir wissen, daß unsere Banken bei der Bereitstellung von Geld für Unternehmensgründungen immer noch zu zögerlich sind. Sie nennen das Risikokapital. Für uns ist das Chancenkapital, das Unternehmensgründern helfen soll. Darauf legen wir Wert.
Neuesten Umfragen zufolge geben heute mehr als die Hälfte derer, die demnächst die Schule oder die Universität abschließen werden, als Ziel die berufliche Selbständigkeit an. Das wäre vor gar nicht so langer Zeit noch undenkbar gewesen. Aber die neue Gründerzeit - das ist auch gut so - hat längst begonnen. Wir als Regierung haben ihre Zeichen begriffen, und wir werden dafür Zeichen setzen.
Wir werden dies vor allem für den Mittelstand tun. Moderne Mittelstandspolitik ist für uns: weniger Bürokratie, schnellere Innovation, besserer Zugang zu den neuen Technologien, effizientere Vermarktung sowie Hilfe und Unterstützung auf internationalen Märkten. Dies wird Kennzeichen einer mittelstandsorientierten Politik der neuen Bundesregierung sein. Ich habe darauf hingewiesen, daß das auch für die Entlastung von Steuern und Abgaben gilt.
Im übrigen: Wenn wir in der Altersvorsorge mehr private Vorsorge wollen, dann müssen wir die Nettoeinkommen auch so entlasten, daß sich die Menschen diese private Vorsorge buchstäblich leisten können, sonst funktioniert das nämlich nicht.
Wenn wir die Leistungsbereitschaft der Menschen fördern wollen, dann müssen wir dafür sorgen, daß sich Leistung auszahlt. Meine Damen und Herren von der FDP, das Problem besteht darin, daß Sie Leistung immer nur als die Leistung ganz weniger ganz oben verstehen. Wir verstehen Leistung in erster Linie als Leistung der Krankenschwestern, der Ingenieure, als Leistung der Facharbeiterinnen und Facharbeiter. Die werden wir entlasten, meine Damen und Herren, auf sie kommt es nämlich in dieser Zeit und in diesem Land an.
Das meinen wir, wenn wir von einer neuen Politik sprechen, einer Politik, die eben nicht in Kästchen denkt, sondern die die Probleme im Zusammenhang begreift. Deshalb sage ich: Unsere Steuerreform ist ein guter Anfang. Aber damit ist das Ziel eines überschaubaren und leistungsgerechten Steuersystems nicht erreicht. Dieses Ziel werden wir Schritt für Schritt verwirklichen, und Sie werden jeden einzelnen Schritt aufmerksam und sicher auch kritisch begleiten dürfen - aber aus der Opposition heraus, meine Damen und Herren.
In den zurückliegenden Jahren ist viel über die Vor- und Nachteile des sogenannten Standorts Deutschland diskutiert worden. Der Begriff ist ein wenig verräterisch: ‚Standort’, das kann auch - und das war es ja auch in der letzten Zeit - ‚Stillstand-Ort’ sein. Wir machen dieses Land wieder zu einem Bewegungs-Ort.
4. Meine Damen und Herren, wir werden mit der Energiewirtschaft und den Umweltverbänden neue Wege der Energieversorgung beschreiten.
Die Nutzung der Kernenergie ist gesellschaftlich nicht akzeptiert. Sie ist mithin auch volkswirtschaftlich nicht vernünftig. Das ist der Grund, warum wir sie geregelt auslaufen lassen werden.
Für die Bundesregierung steht dabei nicht ein Ausstieg im Mittelpunkt. Es geht vielmehr um den Einstieg in eine zukunftsfähige Energieversorgung. Der Anteil der Kernenergie wird schrittweise reduziert und schließlich ganz ersetzt.
Dies, meine Damen und Herren, ist ein gewaltiges Investitionsprogramm, das auch und gerade neue Arbeitsplätze in diesen Bereichen schaffen wird. Dabei setzen wir vor allem auf die Innovations- und Entwicklungspotentiale bei den erneuerbaren Energien. Wir setzen auf eine konsequente Nutzung der Einsparmöglichkeiten: bei der Stromerzeugung, bei elektrischen Geräten, bei den Gebäuden, aber auch im Straßenverkehr. Mit der Energiewirtschaft werden wir auskömmliche Lösungen zu einer Zukunft ohne Atomkraftwerke vereinbaren.
Die Koalitionspartner sind sich darin einig, daß die Beendigung der Kernenergienutzung im Konsens erfolgen soll - ohne daß es zu Regreßansprüchen kommt. Aus den Gesprächen der vergangenen Jahre wissen wir, daß wir zu einer einvernehmlichen Lösung kommen können. Sie ist an dem Widerstand - dem unverständlichen Widerstand - auf der rechten Seite dieses Hauses gescheitert. Das Problem der Entsorgung radioaktiver Abfälle - das gilt es zu erkennen - bleibt uns und unseren Nachkommen allerdings noch auf Jahrtausende erhalten.
Das bisherige Entsorgungskonzept ist inhaltlich gescheitert. Wir werden statt dessen einen nationalen Entsorgungsplan erarbeiten. Entsorgung wird auf direkte Endlagerung beschränkt werden.
Atommülltransporte quer durch die Republik, die nur durch massiven Polizeischutz zu sichern sind, passen nicht zu einer auf Konsens und Zukunftsfähigkeit ausgerichteten Demokratie. Allerdings gilt es hier zu bedenken, daß die vorherigen Regierungen völkerrechtlich bindende Verträge über die Rücknahme atomarer Abfälle abgeschlossen haben. Auch das müssen wir mit unseren Partnern in England und Frankreich einvernehmlich regeln. Wir wollen solche Transporte nur noch dann zulassen, wenn am Kraftwerk selbst keine genehmigten Zwischenlagerkapazitäten existieren.
In einem neuen Energiemix werden wir auch Steinkohle und Braunkohle brauchen. Dabei drängen wir auf die Verwendung modernster Technik mit hohen Wirkungsgraden und auf eine bessere Nutzung von Fernwärme und Kraft-Wärme-Kopplung.
Den Kohlekompromiß vom März 1997 werden wir umsetzen und in Brüssel absichern. Bei der sozial verträglichen Neustrukturierung des deutschen Kohlebergbaus brauchen wir rechtzeitig eine Orientierung auch für die Zeit nach dem Jahre 2005. Es geht uns auch hier darum, Planungssicherheit für die Unternehmen und materielle Sicherheit für die Beschäftigten zu schaffen.
Die Klimaforscher und die vorbildlichen Unternehmen, die vor ein paar Tagen mit dem Bundesumweltpreis ausgezeichnet worden sind, haben der Politik ins Stammbuch geschrieben - wir werden das beachten -: Gerade beim Klimaschutz dürfen die Verantwortlichen nicht auf Erkenntnisse über weitere Schädigungen unserer Umwelt warten; sie müssen aktive Vorsorge treffen. Wir werden das tun.
5. Meine Damen und Herren, der Staat und die verschiedenen Wirtschaftszweige müssen ihre Zusammenarbeit verbessern, um auf diese Weise Synergieeffekte besser nutzen zu können. Wo die Bundesregierung das Ihrige dazu tun kann, da wird sie es tun.
Wir werden die Verwaltung schlanker und effizienter machen, und wir werden hemmende Bürokratie rasch beseitigen. Beispielsweise werden wir die Vielzahl verschiedener Umweltbestimmungen in einem Umweltgesetzbuch zusammenfassen. Dabei werden wir überflüssige Vorschriften streichen und auf diese Weise die Regelungsdichte vermindern.
Eine grundlegende Justizreform werden wir zügig in Angriff nehmen. Unsere Zivil- und Strafjustiz ist heute noch aufgebaut wie vor hundert Jahren. Sie muß entschlackt und sie muß modernisiert werden. Die Bürgerinnen und Bürger wollen und sollen schneller zu ihrem Recht kommen, und die Gerichte müssen entlastet werden. Auch um die Vereinfachung von Gesetzestexten werden wir uns zielstrebig kümmern. Die Rechte der Opfer von Verbrechen werden wir stärken. Dies gilt ganz besonders für die Schwächsten in unserer Gesellschaft: mißbrauchte und mißhandelte Kinder.
Wo immer das möglich ist, werden wir den Täter-Opfer-Ausgleich stärken und die gemeinnützige Arbeit als moderne Sanktionsform ausbauen. Es ist im Interesse der Gesellschaft, daß vor allem Straftäter, die bislang zu kurzen Freiheitsstrafen verurteilt wurden, nicht zusätzliche Kosten für den Staat verursachen, sondern gemeinnützige Arbeit leisten. Soweit die Gemeinschaft nicht vor ihnen geschützt werden muß, sollen sie sich für die Gemeinschaft nützlich machen.
Große Aufmerksamkeit richten wir auf die Förderung der Verfahren zur Schlichtung. Es muß Schluß gemacht werden mit der verhängnisvollen Entwicklung, immer mehr zivile, soziale, wirtschaftliche oder sogar politische Streitfälle auf die Gerichte abzuwälzen. Die Möglichkeiten, Streitfälle außergerichtlich zu regeln, werden wir stärken und bürgernah ausgestalten. Wir verbinden damit den Appell an Bürgerinnen und Bürger, aber auch an Interessengruppen, diese Möglichkeiten auszuschöpfen, bevor die Justiz bemüht wird.
Ich sage es deutlich: Diese Bundesregierung will keinen Bevormundungsstaat, nein, sie will einen Staat, der die Menschen ermutigt. Aber den Staat schlanker und effizienter zu machen, das darf nicht heißen, daß man ihn dort schwächt, wo vor allem die Schwächeren auf ihn angewiesen sind. Wir wollen deshalb einen Staat, der die Bürgerrechte schützt und erweitert. Wir beharren auf dem Schutz der Schwächeren durch das Recht und durch den Staat.
Ich will keine Gesellschaft, in der sich einige wenige Schutz kaufen können und die Mehrheit Angst vor Verbrechen hat. Deshalb sage ich: Härte gegen das Verbrechen und seine Erscheinungsformen, aber eben auch Härte gegen die Ursachen des Verbrechens, das ist meine, das ist unsere Vorstellung von einem Staat, der seine Schutzaufgabe erfüllt.
Wir werden deshalb die Kriminalität in all ihren Erscheinungsformen entschlossen bekämpfen. Die Polizei kann sich darauf verlassen, daß wir sie bei dieser Aufgabe unterstützen. Aber zugleich gilt: Eine gute Politik der inneren Sicherheit darf nicht auf Polizei und Strafrecht beschränkt bleiben.
6. Ein eigenverantwortliches Leben setzt zuallererst voraus, für sich selbst sorgen zu können. Wie sollen unsere jungen Menschen unsere Gesellschaft und unsere Zukunft gestalten, wenn wir ihnen nicht einmal die Möglichkeit geben, für sich selber zu sorgen? Hierin liegt der Grund dafür, warum die Bundesregierung ein Sofortprogramm auflegen wird, um 100000 Jugendliche so schnell wie möglich in Ausbildung und Beschäftigung zu bringen.
Ich sage es noch einmal vor diesem Hohen Hause: Gerade diejenigen, die die Jugendkriminalität zurückdrängen wollen und dies mit aller Entschiedenheit mit Hilfe des Staates durchsetzen wollen, haben auf der anderen Seite die Verantwortung, jungen Menschen eine Perspektive für Ausbildung und Arbeit zu geben.
Wir werden angesichts der Gefährdungen, die sich für die gesamte Gesellschaft aus einem Mangel an Perspektive ergeben, bei der Realisierung dieses Programmes einen besonderen Schwerpunkt in Ostdeutschland setzen. Dies ist - zugegeben - ein erster Schritt, aber ein eminent wichtiger, um dort helfen zu können.
Meine Damen und Herren, Ziel einer aktiven Arbeitsmarktpolitik muß es sein, den Menschen eine Brücke in den ersten Arbeitsmarkt zu bauen. Wir alle wissen, daß eine gute Ausbildung die beste Voraussetzung für eine gesicherte berufliche Zukunft ist. Unser duales System der Ausbildung ist noch immer vorbildlich in Europa. Aber die schleichende Verstaatlichung der Ausbildung muß aufhören.
- Das ist so. Sie haben es noch immer nicht verstanden. Das ist tatsächlich so. Sie werden es nie verstehen. Sie interessiert das nicht. Aber mich macht das besorgt. Daß Sie an den jungen Leuten nicht interessiert sind, merkt man an Ihrem Gebrüll. Man merkt an der Art und Weise, wie Sie mit diesem Thema umgehen, wie wenig Sie das Thema der Ausbildungsperspektiven für junge Leute interessiert.
Ich sage Ihnen eines: Die Zahl der Ausbildungsplätze, die die Wirtschaft zur Verfügung gestellt hat, ist in Ihrer Regierungszeit kontinuierlich zurückgegangen. Das ist das Problem, vor dem wir stehen. Das sollten Sie nicht lächerlich machen. Darüber sollten Sie nicht lachen. Denn der wirkliche Skandal in unserer Gesellschaft ist, daß die jungen Leute von Ihnen allein gelassen worden sind. Das ist das Problem. Deshalb sind Sie auch abgewählt worden. Daß Sie sich beim Thema Ausbildungschancen der jungen Leute hier hinsetzen und so tun, als wenn Sie das nichts anginge, das ist eine Schande. Sie sollten sich schämen!
Für uns jedenfalls ist klar - auch wenn das die rechte Seite dieses Hauses nicht interessiert.
- Da merkt man, welches Interesse Sie an diesen Fragen haben.
Meine Damen und Herren, für uns ist klar - in diesem Punkt lassen wir uns nicht beirren -: Wirtschaft und öffentliche Verwaltung stehen in der Pflicht, die Lehrstellenzahl zu erhöhen und nicht zu senken.
Wir wollen und wir werden erreichen, daß alle Jugendlichen einen qualifizierten Ausbildungsplatz bekommen. Das ist ihre Erwartung an Politik, und die werden wir erfüllen, sosehr Sie auch dagegen schimpfen.
Bei der Mobilisierung der Ausbildungsplätze setze ich auf die Mitarbeit der Wirtschaft. Ich weiß: Hunderttausende von Handwerksmeistern sowie kleine und mittlere Unternehmen tun jedes Jahr ihre Pflicht. Aber bei den großen Unternehmen muß zugelegt werden; das gilt es gemeinsam zu erreichen. Ich setze bei der Mobilisierung von Ausbildungsplätzen darauf, daß wir keine Zwangsmaßnahmen benötigen. - Jetzt könnt ihr auch klatschen!
Aber ich sage unseren Jugendlichen, daß ihr moralisches Recht auf Arbeit und Ausbildung - auch das muß ausgesprochen werden - die Pflicht einschließt, Angebote zur Berufsausbildung anzunehmen. Mobilität darf kein Fremdwort in diesem Sektor sein oder werden. Auch folgendes muß deutlich werden: Nicht jeder wird seinen Traumberuf erlernen können. Wir werden kein Volk von Bankkaufleuten und Versicherungskaufleuten werden können, bei allem Respekt vor dieser Berufsgruppe.
Im europäischen Vergleich brauchen junge Menschen bei uns zu lange, bevor sie berufliche Verantwortung übernehmen können. Uns geht es nicht um eine Verkürzung der Ausbildungszeit und schon gar nicht um eine Verschlechterung der Ausbildung; es geht uns vielmehr um eine bessere Verteilung der Ausbildung auf die Lebenszeit. Das ist das, was im Vordergrund unserer Bemühungen steht. Ausbildung, Ausbildungsordnungen und Ausbildungsinhalte werden wir flexibler gestalten. Die Verbesserung und Modernisierung beruflicher Bildung und Qualifikation sollte ständiges Gesprächsthema im Bündnis für Arbeit sein.
Wir wollen uns fit machen für die europäische Wissensgesellschaft. Darunter soll man sich nicht eine Gesellschaft aus lauter Superhirnen und Weißkitteln vorstellen. Wissensgesellschaft, meine Damen und Herren, das heißt für mich: Qualifikationsgesellschaft. Das betrifft die ganze Breite unserer Gesellschaft, das betrifft alle Menschen und nicht nur die wissenschaftlich-technischen Eliten.
Das ist der Grund, warum die Bundesregierung die Aufgabe einer Bildungs- und Qualifizierungsoffensive rasch anpacken wird. Wir wollen bestmögliche Bildung für alle, mehr Chancengleichheit, die Förderung unterschiedlicher Begabungen, mehr Effizienz, aber auch mehr Wettbewerb.
Diese Regierung hat nichts gegen die Herausbildung von Eliten. Auch unsere demokratische Gesellschaft braucht Eliten. Allerdings kommt es mir darauf an, was man unter Elite und ihrer Herausbildung versteht. Geprägt von eigener Erfahrung sage ich: Zur Elite gehört man nicht durch die Herkunft der Eltern; zur Elite gehört man durch Leistung.
Eliten in einer Demokratie erwachsen aus gleichen Chancen im Zugang zu den Bildungseinrichtungen. Das ist wichtig, meine Damen und Herren. Sie erwachsen aus dem, was bei gleichen Zugangsvoraussetzungen zu den Bildungseinrichtungen der einzelne in eigener Verantwortung daraus macht. Eines jedenfalls muß gelten: Der Geldbeutel der Eltern darf nicht über die Lebenschancen in unserer Gesellschaft bestimmen. Das ist der Grund, warum wir bereits 1999 mit der Reform der Ausbildungsförderung beginnen werden. Wir werden dabei alle ausbildungsbezogenen staatlichen Leistungen zusammenfassen.
Die Hochschulen werden wir stärken. Sie müssen Zentren der Ideenfindung und der Problemlösung sein. Sie sollen nach unserer Auffassung auch Zukunftswerkstätten werden. Wir müssen den Trend zur Abwanderung unserer Grundlagenforscher stoppen und gleichzeitig die anwendungsorientierte Forschung nachhaltig fördern.
Wir brauchen eine bessere Bildungsplanung, und wir werden sie machen. Denn wir können es uns nicht länger leisten, daß ein bedenklich großer Teil unseres wissenschaftlichen Nachwuchses völlig vorbei an den Erfordernissen des Arbeitsmarktes qualifiziert wird.
Auch an Universitäten und Fachhochschulen muß es Wettstreit geben. Konkurrenz belebt auch dort das Geschäft.
Die Hochschulen müssen viel stärker als bisher auch zu Existenzgründungen ermuntern. Forschung und Lehre sollen durch Budgetierung und mehr Autonomie entbürokratisiert und so wettbewerbsfähiger gemacht werden. Das Dienstrecht des Hochschulpersonals werden wir umfassend modernisieren, um auch hier mehr Anreize für Leistung und Innovation zu schaffen.
Wir sollten uns nichts vormachen: Der Transfer von Wissenschaft zur Wirtschaft liegt in Deutschland im argen. Die Transferzeiten, also die Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Produktionswirklichkeit, sind bei uns noch immer viel zu lange. Bei der Innovationsgeschwindigkeit hinken wir hinter den USA, aber auch den europäischen Ländern, die vergleichbar sind, hinterher. Die USA verdienen jedes Jahr mehr als 30 Milliarden D-Mark mit dem Export von Verfahren, von Lizenzen und von Patenten ins Ausland. Unsere Wirtschaft hingegen muß heute mehr Ingenieurleistungen importieren, als sie exportiert. Das kann, das darf nicht so bleiben.
Forschung, Lehre und Wirtschaft haben sich viel zu weit voneinander entfernt. Die Hochschulen stehen vor Umwälzungen, die denen der siebziger Jahre vergleichbar sind. Dieser Herausforderung wird sich die Bundesregierung stellen - wieder einmal, bin ich versucht zu sagen. Wir werden die Investitionen in Forschung und Bildung in den nächsten fünf Jahren verdoppeln.
Wir werden auch auf europäischer Ebene die Anstrengungen bei der Entwicklung neuer Technologien verstärken. Zusammen mit unseren Partnern wollen wir transeuropäische Netze und eine moderne wissenschaftliche Infrastruktur schaffen.
Es ist schon richtig: Kreativität, künstlerische Phantasie, handwerkliches Können, die geniale Idee, der Mut zur bahnbrechenden Neuerung - all das kann vom Staat nicht herbeiorganisiert werden. Es ist das Ergebnis eines Prozesses von zahllosen kleinen Verbesserungen, an denen Tausende von kreativen, phantasievollen, kundigen und auch mutigen Menschen tagtäglich arbeiten. Deren Bemühungen zu unterstützen ist eine unserer wichtigsten Aufgaben.
Auf die jungen Menschen - ich unterstreiche es noch einmal - kommt es dabei ganz besonders an. Sie haben die Chance, Erfahrungen zu machen, die die Älteren - auch in diesem Hohen Haus - nie machen konnten. Wir wollen, wir müssen und wir werden dafür sorgen, daß sie nicht die Erfahrung machen, ausgeschlossen zu sein, noch bevor sie in den Prozeß einsteigen konnten, den sie eigentlich gestalten sollen.
7. Aber machen wir uns nichts vor: Die Bewältigung des Jahrhundertproblems Arbeitslosigkeit kann nur gelingen, wenn alle gesellschaftlich Handelnden dabei mitmachen. Die eine, einzelne Maßnahme zur Lösung des Problems gibt es nicht. Steuerpolitik, Abgabenreduzierung, Zukunftsinvestitionen und Tarifpolitik müssen einander sinnvoll ergänzen. Erst im Zusammenwirken aller volkswirtschaftlichen Akteure kann dauerhaft mehr Beschäftigung entstehen. Ich betone: im Zusammenwirken aller volkswirtschaftlichen Akteure. Das ist die Erfahrung, die man in anderen Ländern hat machen können.
Das ist auch die positive Erfahrung, die in vergangenen Zeiten mit einem funktionierenden Modell Deutschland gemacht worden ist. Die deutschen Unternehmer stehen dabei ebenso in der Verantwortung wie die Sozialverbände und die Gewerkschaften. Sie alle lade ich zu einem Bündnis für Arbeit und für Ausbildung ein. Ich bin froh, bestätigen zu können: Das erste Treffen wird bereits Anfang Dezember stattfinden.
Dieses Bündnis wird als ständiges Instrument zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit eingerichtet. Ich weiß inzwischen, daß die Beteiligten meiner Einladung folgen und ihren Teil der Verantwortung übernehmen wollen. Ich erwarte, daß sich die Gesprächspartner vom Denken in angestammten Besitzständen und von überkommenen Vorstellungen lösen. Das, meine Damen und Herren, gilt für alle Beteiligten. Ich setze darauf, daß wir zu einer vorurteilsfreien Beurteilung der Lage kommen und daß unsere Diskussionen vom fairen Ausgleich zwischen Geben und Nehmen geprägt sind.
Bündnisse für Arbeit wirken bereits überall mit Erfolg, in unseren Nachbarstaaten, aber auch in ungezählten Betrieben in unserem eigenen Land. Hier in Deutschland haben sozial verantwortliche Unternehmer und tüchtige, ökonomisch denkende Betriebsräte unsere Mitbestimmung zu einem modernen, weltweit vorbildlichen Modell entwickelt. Dies werden wir verteidigen und ausbauen.
Das Bündnis für Arbeit ist der richtige Ort, um sich den drängenden Fragen zu stellen: Welche Spielräume kann die Abgabenpolitik des Staates, kann die Tarifpolitik schaffen? Was bedeutet es, die Sozialleistungen stärker auf die Bedürftigen zu konzentrieren? Welche Spielräume schaffen wir damit für Investitionen, und welche Möglichkeiten bieten Instrumente wie Investivlohn und ähnliches? Welche Chancen bieten sich für uns alle, auch für die Beschäftigten, bei der Flexibilisierung der Arbeitszeiten?
Ich erwarte auch, daß wir in diesem Bündnis für Arbeit und Ausbildung die einmaligen Gelegenheiten nutzen, die uns die neuen politischen Konstellationen in Europa bieten. Der Kampf gegen Arbeitslosigkeit kann mit dieser Bundesregierung nun endlich auch als europäische Frage behandelt werden. In bezug auf diese Frage haben unsere Partner in Europa - bei allem Respekt vor sonstigem - lange gewartet.
Mit der Steuerreform, der Entlastung bei den Lohnnebenkosten und dem Sofortprogramm gegen Jugendarbeitslosigkeit bringt die Bundesregierung gute Vorleistungen in das Bündnis für Arbeit ein. Ich erwarte, daß auch die anderen wirtschaftlich Handelnden unserem Beispiel folgen. Die Menschen haben ein Recht darauf, daß wir uns der Verantwortung stellen und die Chancen entschlossen ergreifen, die uns ein Bündnis für Arbeit in Deutschland, mitten in einem sozialer gewordenen Europa, eröffnet.
Niemand erwartet von diesem Bündnis Patentlösungen. Aber alle stehen in der Pflicht, das Beste zu geben: Zusammenarbeit, Zukunftswillen und Zuversicht - das sind die Koordinaten des Bündnisses für Arbeit und Ausbildung.
8. Gelingen kann ein solches Bündnis nur, wenn wir uns vorbehaltlos der Wirklichkeit stellen. Das mindeste, was die Bürgerinnen und Bürger von uns verlangen können, ist der Wille zur Aufrichtigkeit, zur Beschreibung der Wirklichkeit. Wir dürfen auch vor unbequemen Wahrheiten nicht haltmachen. Oft genug ist die gesellschaftliche Wirklichkeit verdrängt worden, zugedeckt mit Lebenslügen und voreiligen Versprechungen.
Ich unterstreiche: Diese Bundesregierung sagt den Menschen weder: ‚Alles ist schlecht’, noch sagt sie ihnen: ‚Alles wird gut.’ Aber sie sagt zum Beispiel, daß es in diesem Land Menschen gibt, die unter den Bedingungen nackter Ausbeutung arbeiten müssen. Daß solche Beschäftigungen illegal sind, daß sich oft genug auch die Beschäftigten illegal hier aufhalten, das ändert nichts an den menschenunwürdigen Zuständen, die damit verbunden sind und die wir beseitigen müssen.
Diese Bundesregierung sagt auch, daß es in diesem Land Arbeit gibt, gutbezahlte Arbeit, die an den Sozialsystemen vorbei als ‚Schwarzarbeit’ angeboten - und nachgefragt - wird. Niemand sollte diese Schwarzarbeit verharmlosen oder aufhören, sie von Rechts wegen zu bekämpfen. Sie ist und bleibt Betrug an der Solidargemeinschaft.
Aber es gilt zu erkennen, daß Schwarzarbeit erst dann ganz verschwinden wird, wenn sich die reguläre, versteuerte und sozialversicherte Arbeit wieder lohnt, wenn die Menschen für ihre Arbeit wieder mehr Geld ins Portemonnaie bekommen. Das ist der Sinn bei den Entlastungen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Wir werden diese Entlastung vornehmen; Sie haben das nicht getan. Deshalb wird auch bei der Bekämpfung der illegalen Arbeit der Satz gelten: Hart gegen den Rechtsbruch, aber nicht minder hart gegen die Ursachen.
Wie für die innere Sicherheit so gilt auch für die soziale Sicherheit: Wir wollen alles tun, damit sich alle Bürger sicher fühlen können. Aber wir haben Grund zu der Annahme, daß es die Systeme der sozialen Sicherung selbst sind, die durch ihre hohen Kosten immer mehr Menschen in die Flucht aus diesen Sozialsystemen treiben: in illegale, sozial nicht abgesicherte Arbeit oder in Scheinselbständigkeit.
Wenn das so ist, heißt das, daß eine abstrakte soziale Sicherheit in immer mehr Einzelfällen konkrete soziale Unsicherheit produziert und daß die Art, wie wir soziale Sicherheit organisieren, tatsächlich Arbeitsplätze vernichten oder gefährden kann. Deshalb müssen die Systeme und die Kosten der sozialen Sicherung insgesamt auf den Prüfstand.
Wir werden die Augen vor solchen Wahrheiten nicht verschließen, und wir werden auch Konsequenzen daraus ziehen. Erstmals, meine Damen und Herren, geht eine deutsche Bundesregierung daran, mit staatlichen Mitteln die Lohnnebenkosten zu senken. Die Entlastung der Arbeitskosten durch Senkung der Rentenbeiträge um 0,8 Prozent zum 1. Januar 1999 wird pünktlich in Kraft treten. Wir sind darüber hinaus bereit, gezielt Sozialabgaben zu bezuschussen, wenn dadurch weniger produktive Arbeit bezahlbar gemacht werden kann.
Das soziale Netz muß nach unserer Auffassung zu einem Trampolin werden. Von diesem Trampolin soll jeder, der vorübergehend der Unterstützung bedarf, rasch wieder in ein eigenverantwortliches Leben zurückfedern können. Das, meine Damen und Herren, meinen wir, wenn wir sagen, daß es uns wichtiger ist, Arbeit zu finanzieren, als Arbeitslosigkeit bezahlen zu müssen.
In diesen Zielen wissen wir uns übrigens mit der großen Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland einig; wir wissen sie hinter uns. Doch die Initiativen der Bundesregierung werden kaum ausreichen, den Kostendruck entscheidend zu lindern. Bei einem gerechten Umbau des Sozialstaates sind alle Beteiligten gefragt: die Versicherten wie auch die Verbände und die Versicherungsträger, die Unternehmer und die Gewerkschafter.
Dabei werden wir uns von einem Grundsatz leiten lassen: Die Stärke des Sozialstaates bemißt sich nicht an den Milliarden, die er ausgibt. Sie muß sich beweisen an der Qualität der Leistungen, die erbracht werden.
9. Damit hier keine Mißverständnisse aufkommen: Unsere Gesellschaft erwirtschaftet genug, um sich den Sozialstaat leisten zu können. Was wir uns nicht leisten können, sind Ungerechtigkeit und Untätigkeit. Wir brauchen die Menschen in Deutschland nicht auf ‚Blut, Schweiß und Tränen’ einzustimmen. Die Menschen haben gezeigt, daß sie bereit sind zu teilen und zu geben.
Wie sonst, wenn nicht durch den Elan und die Solidarität der Menschen im Osten und im Westen hätte es die - bei allen Defiziten - doch beachtlichen Leistungen beim Aufbau der Wirtschaft in den neuen Ländern geben können? Ich sage ganz deutlich: Wir werden diese Solidarität mit den Menschen im Osten des Landes auch weiterhin brauchen.
Wer die dafür nötigen Leistungen zurückfährt, der gefährdet das Erreichte. Wir sind noch immer weit entfernt von gleichwertigen Lebensbedingungen in Ost und West. Das heißt konkret: Der Solidarpakt von 1993 wird auch weiterhin das finanzielle Rückgrat des wirtschaftlichen Aufbaus bleiben. Wir werden die Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik in den neuen Ländern, die - das kennen wir ja schon - vor der Wahl kurzfristig hochgefahren wurden und jetzt, wenn nichts geschähe, wieder ausliefen, auf dem bisherigen Niveau verstetigen.
Über Bildungs- und Qualifizierungsangebote wollen wir möglichst vielen den Weg zurück in den ersten Arbeitsmarkt ebnen. Dennoch wird eine aktive Beschäftigungspolitik auf relativ hohem Niveau im Osten Deutschlands noch für eine ganze Weile notwendig und unverzichtbar bleiben. Auch die bislang bis Ende 1998 befristeten Regelungen zum Investitionsvorrang für Ostdeutschland werden wir fortführen.
Diese Bundesregierung, meine Damen und Herren, weckt auch dort keine Illusionen. Sie sagt, daß uns noch eine lange und schwierige Wegstrecke des wirtschaftlichen Aufbaus in den neuen Bundesländern bevorsteht. Aber sie zollt Lebensleistung und Biographien der Menschen im Osten Achtung und hohen Respekt. Die Anstrengungen werden sich lohnen, denn wir haben die Chance, überall in Ostdeutschland Regionen mit ökonomischem und ökologischem Vorbildcharakter zu schaffen, wirklich neue Wege zu gehen, statt Abziehbilder der alten Bundesrepublik herzustellen.
Die Menschen in den neuen Ländern - auch das gilt es zu erkennen - haben Deutschland auch und gerade kulturell stark bereichert. Viele im Westen können und sollten von ihrer Zivilcourage, ihrer Kreativität und ihrem Erfindungsreichtum lernen.
Wir wissen, meine Damen und Herren, daß wir eine Nation mit einer gemeinsamen Kultur, Sprache und Geschichte sind, allerdings auch eine Nation, die 40 Jahre Spaltung in getrennte Staaten hat erdulden müssen. Wir kennen die Mängel in den Regelungen über die Rehabilitierung und Entschädigung der Opfer von DDR-Unrecht, und wir werden die Härten beseitigen.
Gegen die Spaltung setzen wir den Willen zu mehr Normalität im Umgang miteinander. Besserwisserei und Larmoyanz, die Geringschätzung des anderen, seiner Vorlieben, seiner Gewohnheiten, all das hat in einer modernen Demokratie nichts zu suchen.
Was wir allerdings verbessern wollen und müssen, ist die Zielgenauigkeit der Aufbau- und Fördermaßnahmen. Die Bundesregierung wird ein Förderkonzept entwickeln, das sich an drei Zielen ausrichtet: erstens der Sicherung der Förderpräferenz für die neuen Bundesländer, zweitens dem verstärkten Ausbau der infrastrukturellen Versorgung insbesondere in den wirtschaftlichen Problemregionen sowie drittens der Stärkung der Innovationsfähigkeit der Unternehmen und dem Ausbau von Finanzierungsformen, die den besonderen Problemen ostdeutscher Unternehmen gerecht werden. Die Eigenkapitalbasis der Unternehmen im Osten muß gestärkt werden.
Vor allem die jungen und noch nicht so finanzstarken Kleinbetriebe in den neuen Ländern leiden existentiell unter einer zunehmend laxer werdenden Zahlungsmoral. Wir werden deshalb dafür sorgen, daß zahlungsunwillige Schuldner begreifen, daß schlechte Zahlungsmoral sich auch finanziell nicht lohnt.
Wir wollen die Anstrengungen zur Sanierung und Gestaltung der Städte verstärken und auch darüber wieder mehr Menschen in Beschäftigung bringen.
Ich habe als Bundeskanzler erklärt, den Aufbau Ost zur Chefsache zu machen. Die Kompetenzen dafür werden gebündelt. Mir wird ein Staatsminister im Bundeskanzleramt zur Seite stehen, der vor allem für eine sehr enge Koordination mit den Landesregierungen in den ostdeutschen Ländern sorgen wird. Das Bundeskabinett wird alle zwei Monate in einem der neuen Länder tagen, um mit den dortigen Landesregierungen die Lage zu erörtern und konkrete Projekte auf den Weg zu bringen, die der Situation dort gerecht werden.
Gerade in den neuen Bundesländern haben die Bürgerinnen und Bürger ihre ganz speziellen Erfahrungen mit Dichtung und Wahrheit in der Politik gemacht. Sie haben deshalb einen Anspruch darauf, daß wir die Probleme vor Ort beim Namen nennen, vor Ort Lösungen entwickeln und sie dann auch zügig durchsetzen. Realitätssinn und Reformwillen sind schließlich keine Optionen, die wir nach Belieben umsetzen und ausschlagen könnten.
10. Kurz vor der Jahrtausendwende ist die Welt in bahnbrechenden Veränderungen begriffen. Die Digitalisierung des Wissens und der Produktion, die Globalisierung der Waren- und Finanzmärkte zwingt uns zu Anpassungen und zum Umdenken, zum Abschied von liebgewordenen Traditionen und Gewohnheiten. Das macht vielen Menschen Angst. Aber, meine Damen und Herren, Angst haben müssen wir nicht vor der Veränderung, Angst haben müssen wir nur davor, im Stau selbstgesetzter Blockaden steckenzubleiben.
Die Wirklichkeit unseres Erwerbslebens hat sich drastisch verändert. Der schöne und viele Jahre Sicherheit verheißende Ausdruck, jemand habe nach der beruflichen Qualifikation ‚ausgelernt’, hat seine Bedeutung verloren. Das Weiter- und das Dazulernen sind heute unabdingbare Anforderungen für jeden. Diese gilt es zu realisieren. Aber sie sind auch eine Herausforderung an die Neugier und Leistungsbereitschaft eines jeden.
Dieser veränderten Realität muß sich auch unser Sozialsystem anpassen. So werden wir bei der Rentenreform selbstverständlich die Zunahme der sogenannten unsteten Erwerbsverläufe angemessen berücksichtigen. Insbesondere Frauen dürfen eben nicht dafür bestraft werden, daß sie ihr Leben flexibel gestalten, daß Phasen der Kindererziehung, der Erwerbsarbeit und des Lernens einander abwechseln.
Meine Damen und Herren, wer das Lernen geringschätzt und die Möglichkeiten des Wissens nicht nutzt, läuft in eine Falle. Wenn wir die ökologische Modernisierung wollen, dann heißt das auch, daß wir die enormen Möglichkeiten, die uns die Bio-, die Medizin- und die Gentechnik bieten, in verantwortbarem Rahmen nutzen und entwickeln wollen. Wenn wir den Weg in eine Gesellschaft gehen wollen, die industriell stark, technisch innovativ, sozial gerecht und serviceorientiert ist, dann können wir es uns nicht leisten, gerade die personenbezogenen oder die im Haushalt erbrachten Dienstleistungen als minderwertig zu diskriminieren.
Wir werden uns von der Vorstellung trennen müssen, nur die in der unmittelbaren Produktion erbrachte körperliche ‚Maloche’ oder der Dienst im Büroalltag seien wirkliche Arbeit. Unser Augenmerk gilt allen, die gesellschaftlichen Wohlstand und gesellschaftliches Wohlergehen schaffen, den produktiv Beschäftigten ebenso wie den vielen, die das Wagnis der Existenzgründung auf sich nehmen, und genauso sehr denen, die sich um die Belange der Menschen kümmern.
Haushaltshilfe und Altenbetreuung, Einpack- oder Einpark-Service sind Dienstleistungen an der Allgemeinheit, deren sich niemand schämen muß. Diejenigen, die diese Dienstleistungen in Anspruch nehmen wollen und sie angemessen zu bezahlen in der Lage sind, werden in unserer Gesellschaft immer mehr.
Auch deshalb werden wir die sogenannten 620-Mark-Jobs nicht einfach abschaffen. Aber wir werden sie angemessen in die Sozialversicherungspflicht einbeziehen. Die Grenze werden wir auf 300 D-Mark festlegen. Da wir gleichzeitig die Pauschalbesteuerung aufheben, werden diese Tätigkeiten nicht unzumutbar verteuert.
Man sieht daran: Die Bundesregierung erkennt ausdrücklich die Notwendigkeit und Berechtigung solcher Beschäftigungsverhältnisse an: sowohl für die Arbeitgeber als auch für die betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und für die Verbraucher. Aber wir wollen gemeinsam mit Arbeitgebern und Gewerkschaften den Mißbrauch, der mit dieser Regelung betrieben worden ist, ernsthaft bekämpfen.
11. Mehr Flexibilität im Arbeitsleben darf nicht auf Kosten sozialer Sicherheit gehen. Vor allem darf sie nicht zu Lasten der Frauen gehen, denen die Gesellschaft schon immer mit größter Selbstverständlichkeit höchste Flexibilität abverlangt hat. Wir müssen die Voraussetzungen dafür schaffen, daß Frauen, die es wollen, am Erwerbsleben teilhaben können. Dabei haben wir nicht nur gegen überkommene Strukturen in der Gesellschaft zu kämpfen. Wir müssen auch ein Schul- und Betreuungssystem schaffen, das die Lebenswirklichkeit moderner Familien und von Alleinerziehenden ausreichend berücksichtigt.
Die Bundesregierung wird schon Anfang 1999 ein Aktionsprogramm ‚Frau und Beruf’ initiieren. Wir werden ein wirksames Gleichstellungsgesetz vorlegen, auf Chancengleichheit bei der Ausbildung insbesondere in zukunftsorientierten Berufen achten, Existenzgründerinnen besonders unterstützen und die Bedingungen für flexiblere Arbeitszeiten verbessern.
Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub werden wir zu einem Elterngeld und zu einem flexiblen Elternurlaub weiterentwickeln. Die Schaffung von größeren und besseren Angeboten zur Kinderbetreuung werden wir unterstützen.
Aber ein solches Aktionsprogramm bleibt ein Tropfen auf den heißen Stein, solange wir nicht die objektive Benachteiligung von Frauen aufheben, etwa in der Rentenversicherung. Auch darüber ist viele Jahre geredet worden, aber es ist nichts geschehen. Was geschehen ist, hat die Lage der Menschen eher verschlechtert. Deshalb sind wir auch hier gefordert, zu modernisieren und soziale Gerechtigkeit wiederherzustellen.
12. Die Bundesregierung wird zunächst die von ihrer Vorgängerin getroffenen Maßnahmen zur Verschlechterung der Rentnerinnen und Rentner aussetzen. Wir sagen ausdrücklich ‚Maßnahmen’und nicht ‚Reform’, denn die Reform liegt noch vor uns.
Wir wollen den Begriff der Reform wieder in sein Recht setzen. Reform - das Wort war einmal klar definiert als Programm oder Projekt, das die Lebensverhältnisse der Menschen verbessert. So war das damals bei der Einführung des Frauenwahlrechts vor - fast auf den Tag genau - 80 Jahren, eine Reform, die August Bebel und die Sozialdemokraten erkämpft hatten. So war das auch in den siebziger Jahren, als Sozialdemokraten und ihre Bündnispartner unter Willy Brandt und Helmut Schmidt tatsächlich ‚mehr Demokratie wagten’und mehr Chancengleichheit herstellten.
Heute stehen wir erneut vor der Notwendigkeit von Reformen, die das Leben der Menschen verbessern sollen. Es geht nicht zuletzt darum, die gewaltig entfalteten Produktivkräfte, den immensen Reichtum an Waren und Dienstleistungen, den wir erwirtschaften, wieder in einen sozialen, in einen sinnstiftenden Zusammenhang zu integrieren; denn das ist verlorengegangen.
Das muß das große gesellschaftliche Projekt der Neuen Mitte sein: die ökologische und solidarische Erneuerung unserer Gesellschaft und Ökonomie zu einer modernen sozialen Marktwirtschaft. Daran werden wir arbeiten; das werden wir miteinander leisten.
Das ist auch der Grund, warum wir bei der Alterssicherung eine echte Solidarität der Generationen, nicht nur eine Solidarität der Berufsgruppen erzielen wollen. Wir wollen einen mit Leben erfüllten Generationenvertrag, keinen Vertrag zu Lasten der Arbeit. In diesem Sinne werden wir dem Bundestag Vorschläge zur Reform der Alterssicherung vorlegen, die auf Solidarität, aber auch auf die gesellschaftliche Realität abzielen.
Dabei geben wir eine dreifache Garantie ab: Wir werden den heute in Rente lebenden Menschen ihre Rente sichern und ihnen jedenfalls ihre ohnehin oft geringen Einkünfte nicht kürzen. Denjenigen, die heute in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen, sagen wir zu, daß sie damit einen wirksamen und leistungsgerechten Rentenanspruch erwerben. Denjenigen, die jetzt ins Berufsleben eintreten, sichern wir den Umbau der Alterssicherung zu einem transparenten, zukunftsfähigen Versicherungspakt zu.
Dieser Pakt wird auf vier Säulen stehen: Das sind die gesetzliche Rentenversicherung, die betriebliche Altersvorsorge, die private Vorsorge, deren Organisation vom Staat, etwa in steuerlicher Hinsicht, ermutigt wird, und die Beteiligung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am Produktivkapital und an der Wertschöpfung in den Unternehmen. Für den Nutzen der Reform, die wir im Grundsatz vereinbart haben, gibt es auf der ganzen Welt gute Beispiele; von denen können, von denen werden wir lernen.
Bei der gesetzlichen Rentenversicherung müssen wir die finanzielle Grundlage verbreitern und versicherungsfremde Leistungen staatlich finanzieren. Bei den Lebensversicherungen werden wir für mehr Wettbewerb und mehr Transparenz sorgen. Die zukunftsfähige Erneuerung der betrieblichen Altersvorsorge muß im Bündnis für Arbeit und Ausbildung fest vereinbart werden. Die Beteiligung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am Produktivvermögen werden wir unterstützen. Durch die Nettoentlastung der Lohn- und Einkommensteuerzahler schaffen wir auch auf diesem Sektor beachtliche Spielräume für die Tarifpartner.
Eine derartige Reform wird ihren Namen verdienen - anders als die Rentenkürzungen und die weiteren sozialen Einschnitte, die wir noch in diesem Jahr aussetzen, um Raum für wirklich zukunftsfähige Lösungen zu schaffen.
Die Verschlechterungen beim Kündigungsschutz und bei der Lohnfortzahlung werden wir - wie wir es versprochen haben - zum 1. Januar 1999 aufheben.
Im Gesundheitswesen werden wir die Belastungen der Kranken, vor allem der chronisch Kranken und der älteren Patienten, zurückführen. Die Zuzahlungen der Versicherten bei Medikamenten werden ebenfalls zum 1. Januar 1999 gesenkt. Das sogenannte Krankenhausnotopfer wird ab sofort ausgesetzt.
Auch im Gesundheitswesen reichen die heute zur Verfügung stehenden Finanzmittel für eine qualitativ hochwertige Versorgung im Prinzip aus. Nicht die Rationierung in der gesetzlichen Krankenversicherung, sondern die Rationalisierung in der Versorgung ist der richtige Weg - und den werden wir gehen, meine Damen und Herren.
Ich weiß, die Tradition, die soziale Sicherheit zu wahren, gilt heute manchen schon als revolutionär. Dafür die traditionellen Mittel aufzuwenden wäre aber womöglich reaktionär. Weder auf dem Renten- noch auf dem Gesundheitssektor werden wir uns in diesem Widerspruch verfangen. Wir stehen auch in diesen Bereichen für eine Reform, die sich an den Realitäten orientiert.
13. Die Realität lehrt uns zum Beispiel, daß Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten eine unumkehrbare Zuwanderung erfahren hat. Wir haben die Menschen, die in den fünfziger Jahren zu uns kamen, eingeladen. Heute sagen wir diesen unter uns lebenden Mitbürgerinnen und Mitbürgern, daß sie keine Fremden sind. Zu Fremden machen sich vielmehr diejenigen, die in unserem Land den Fremdenhaß propagieren.
Das wollen wir nicht. Diesen verblendeten Minderheiten setzen wir eine entschiedene Politik der Integration entgegen. Den Zuwanderern, die bei uns arbeiten, sich legal in Deutschland aufhalten, Steuern zahlen und sich an die Gesetze halten, ist viel zu lange gesagt worden, sie seien bloß Gäste. Dabei sind sie real längst Mitbürgerinnen und Mitbürger geworden.
Diese Bundesregierung wird deshalb ein modernes Staatsangehörigkeitsrecht entwickeln. Es wird die Voraussetzungen dafür schaffen, daß diejenigen, die auf Dauer bei uns leben und deren Kinder, die hier bei uns geboren sind, volles Bürgerrecht erhalten können. Niemand, der Deutscher werden will, soll dafür seine ausländischen Wurzeln aufgeben oder verleugnen müssen. Deshalb werden wir eine doppelte Staatsbürgerschaft ermöglichen.
Integration erfordert auch und gerade die aktive Mitwirkung derer, die sich integrieren sollen. Aber wir werden denen, die dauerhaft hier leben, arbeiten, ihre Steuern zahlen und die Gesetze achten, die Hand reichen, damit sie sich in unsere Demokratie als Menschen auch wirklich einbringen können. So nehmen wir die Wirklichkeit in Europa positiv zur Kenntnis, so wollen wir das miteinander halten, und so sollte es in Deutschland üblich werden.
Unser Nationalbewußtsein basiert eben nicht auf den Traditionen eines wilhelminischen ‚Abstammungsrechts’, sondern auf der Selbstgewißheit unserer Demokratie. Wir sind stolz auf dieses Land, auf seine Landschaften, auf seine Kultur, auf die Kreativität und den Leistungswillen seiner Menschen. Wir sind stolz auf die Älteren, die dieses Land nach dem Krieg aufgebaut und ihm seinen Platz in einem friedlichen Europa geschaffen haben. Wir sind stolz auf die Menschen im Osten unseres Landes, die das Zwangssystem der SED-Diktatur abgeschüttelt und die Mauer zum Einsturz gebracht haben.
Was ich hier formuliere, ist das Selbstbewußtsein einer erwachsenen Nation, die sich niemandem über-, aber auch niemandem unterlegen fühlen muß, die sich der Geschichte und ihrer Verantwortung stellt, aber bei aller Bereitschaft, sich damit auseinanderzusetzen, doch nach vorne blickt. Es ist das Selbstbewußtsein einer Nation, die weiß, daß die Demokratie nie für die Ewigkeit erworben ist, sondern daß Freiheit, wie es schon in Goethes ‚Faust’ heißt, ‚täglich erobert’ werden muß.
Auch unsere Nachbarn in Europa wissen, daß sie uns als Deutschen um so besser trauen können, je mehr wir Deutschen selbst unserer eigenen Kraft vertrauen. Es waren in der Vergangenheit immer die gefährlichen Schieflagen im nationalen Selbstbewußtsein, die zu Extremismus und Unfrieden geführt haben. In diesen Tagen ist es 80 Jahre her, daß der Erste Weltkrieg zu Ende gegangen ist. In Frankreich und Deutschland ist damit das Gedenken an Leid und unsagbaren Schmerz verbunden. Beide Völker sind deswegen unumkehrbar in dem Bewußtsein geeint: ‚Nie wieder!’
Für uns Deutsche ist der gestrige Tag, der 9. November, geschichtsbeladen und ambivalent wie kein anderer. Kein anderes Datum symbolisiert Stolz und Schmerz, Freude und Schande in der Geschichte unserer Nation so sehr wie dieser 9. November. Es ist der Tag, da die erste deutsche Republik entstand. Es ist der Tag, an dem für Millionen von Ostdeutschen die Berliner Mauer passierbar wurde. Aber es ist auch der Tag der Reichspogromnacht, als 1938 Deutsche in verbrecherischem Rassenwahn im ganzen Land Synagogen anzündeten, die Häuser und Geschäfte jüdischer Mitbürger zerstörten und die jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger töteten.
Vieles, was die Väter und Mütter unserer Verfassung konzipiert haben, geschah vor allem in Erinnerung an diese nationalsozialistische Schreckensherrschaft. Die gemeinsame Geschichte verpflichtet auch uns. Aber inzwischen - das ist gut so - ist unsere Demokratie kein zartes Pflänzchen mehr, sondern ein starker Baum.
Die Deutschen haben mit Hilfe ihrer Freunde und Verbündeten die staatliche Einheit in Frieden und Selbstbestimmung vollenden können. Wir bekennen uns uneingeschränkt zu unserer Verankerung im westlichen Bündnis und in der Europäischen Union. Wir sind heute Demokraten und Europäer - nicht, weil wir es müßten, sondern weil wir es wirklich wollen, meine Damen und Herren.
Als Demokraten und Europäer wollen wir die Instrumente der Demokratie weiterentwickeln. Wir werden sie an den Erfordernissen einer modernen Politik ausrichten, die auf Partnerschaft und Dialog gegründet ist. Die demokratischen Beteiligungsrechte der Bürgerinnen und Bürger werden wir stärken. Wir werden mit den Umweltverbänden über ein Verbandsklagerecht reden, das nicht noch mehr politische Entscheidungen auf die Justiz abwälzt, sondern die Beteiligung betroffener und sachkundiger Bürger schon im Vorfeld stärkt; darum geht es uns. Wir werden da, wo es geht, Gesetze mit einem Überprüfungsvorbehalt versehen und sie nach einem vernünftigen Zeitraum der Erprobung erneut dem Parlament vorlegen, um sie zu korrigieren oder auch zu bestätigen.
Wir halten es mit der Maxime des großen Philosophen Ernst Bloch:
Alles Gescheite mag schon siebenmal gedacht worden sein. Aber wenn es wieder gedacht wurde, in anderer Zeit und Lage, war es nicht mehr dasselbe. Nicht nur dein Denken, sondern vor allem das zu Bedenkende hat sich unterdes geändert.
Daran orientieren wir uns, wenn wir sagen: Wir wollen uns den Realitäten stellen und wieder einmal mehr Demokratie praktizieren.
14. Meine Damen und Herren, es ist heute eine lebendige und stabile Demokratie, die wir beim Umzug der Verfassungsorgane nach Berlin mitnehmen. Die Baumaßnahmen dafür werden zügig zu Ende geführt, und die Bundesregierung wird helfen, die Voraussetzungen zu schaffen, die Berlin braucht, um seiner Aufgabe als Hauptstadt gerecht zu werden. Insbesondere die städtebauliche Neuordnung der Berliner Mitte werden wir unterstützen.
Aber es geht ja um mehr als um einen Umzug, meine Damen und Herren. Es geht auch hier um einen Aufbruch. Wir gehen übrigens nicht nach Berlin, weil wir in Bonn gescheitert wären. Ganz im Gegenteil! Das vierzigjährige Gelingen der Bonner Demokratie, die Politik der Verständigung und guten Nachbarschaft, die Leuchtkraft eines Lebens in Freiheit haben dazu beigetragen, die deutsche Teilung zu überwinden und das zu ermöglichen, was wir heute gemeinhin ‚Berliner Republik’ nennen. Jürgen Habermas und viele andere erhoffen sich von dieser Berliner Republik ein, wie er formuliert hat, ‚ziviles Land, das sich kosmopolitisch öffnet und behutsam-kooperativ in den Kreis der anderen Nationen einfügt’. Daran wollen wir arbeiten.
In der öffentlichen Diskussion hat es aber auch Einwände gegen diesen Begriff gegeben. Manchen klingt Berlin immer noch zu preußisch-autoritär, zu zentralistisch. Dem setzen wir unsere ganz und gar unaggressive Vision einer Republik der Neuen Mitte entgegen. Diese Neue Mitte grenzt niemanden aus. Sie steht für Solidarität und Innovation, für Unternehmungslust und Bürgersinn, für ökologische Verantwortung und eine politische Führung, die sich als modernes Chancenmanagement begreift. Symbolisch nimmt diese Neue Mitte Gestalt in Berlin an: mitten in Deutschland und mitten in Europa.
Allerdings bleibt auch hier die Vergangenheit lebendig. In jüngster Zeit, meine Damen und Herren, werden große deutsche Unternehmen mit dieser Vergangenheit in besonderem Maße konfrontiert. Deshalb habe ich noch vor der Aufnahme meiner Amtsgeschäfte betroffene Industrieunternehmen zusammengerufen, um über einen gemeinsamen Fonds zur Entschädigung berechtigter Ansprüche von Zwangsarbeitern zu sprechen. Gemeinsam heißt hier Gemeinsamkeit der Unternehmen. Ich habe den Eindruck, daß die Unternehmen zu einer fairen Lösung hinsichtlich der berechtigten Ansprüche bereit sind.
Aber ich sage genauso deutlich: Wo es nicht um den Ausgleich erlittenen Unrechts geht, werden wir unseren Unternehmen und damit auch ihren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im Inland, aber auch im Ausland Schutz gewähren.
Über das geplante Holocaust-Mahnmal in Berlin wird nicht per Exekutivbeschluß entschieden, sondern unter Berücksichtigung der breiten öffentlichen Debatte hier im Deutschen Bundestag. Wir sind sicher, daß wir dabei eine würdige Lösung finden werden, die in ein Gesamtkonzept für die Gedenkstätten in Deutschland eingebettet wird.
Aber in diesem Geschichtsbewußtsein sagen wir auch, daß Berlin noch für ganz andere Traditionen steht als nur für die Erinnerung an totalitäre Schreckensherrschaft. Berlin steht auch für demokratische Selbstbehauptung und Freiheitswillen; beides wurde vor allem von den sozialdemokratischen Stadtoberhäuptern Ernst Reuter und Willy Brandt verkörpert.
Berlin steht für ein weltoffenes Klima, das die Stadt zum Anziehungspunkt für die Jugend und für die kulturelle Avantgarde aus ganz Europa gemacht hat. Die kulturellen Brücken nach New York, Warschau, Moskau und Paris sind längst wieder geschlagen. Für die jüngeren Deutschen und Europäer ist Berlin vor allem eine heitere und aufregende Stadt, die sie von Klassenreisen, Fußballspielen oder auch von der Love-Parade her kennen. Auch und gerade an diesen Traditionen werden wir anknüpfen, wenn wir Berlin zur Hauptstadt einer Republik der Neuen Mitte machen wollen.
Die Bundesregierung bekennt sich ausdrücklich zur kulturellen Förderung Berlins. Diese wird mit Unterstützung kultureller Projekte und Einrichtungen in den neuen Ländern einhergehen. Zur Bündelung der kulturpolitischen Kompetenzen des Bundes schaffen wir das Amt eines Staatsministers für kulturelle Angelegenheiten. Er wird Impulsgeber und Ansprechpartner für die Kulturpolitik des Bundes sein und sich auf internationaler, aber vor allem auf europäischer Ebene als Interessenvertreter der deutschen Kultur verstehen. Auch dadurch wird die Bundesregierung Kulturpolitik wieder zu einer großen Aufgabe europäischer Innenpolitik machen.
15. Meine Damen und Herren, die Republik der Neuen Mitte ist auch eine Republik des Diskurses. Er findet nicht hinter den verschlossenen Türen der Gremienvorstände statt. Die Neue Mitte sucht den Konsens über das beste Ergebnis und nicht den Kompromiß über den kleinsten gemeinsamen Nenner.
Die Neuen Medien sind für sie nicht in ein paar mehr oder ein paar weniger Kanälen im Privatfernsehen, sondern bedeuten für sie den technisch unbegrenzten Zugang zum Wissen und zum weltweiten Informationsaustausch. Wir werden uns dafür einsetzen, gemeinsam mit den Ländern und den Partnern aus der Industrie an den Schulen einen kostenlosen oder zumindest kostengünstigen Internetzugang zu ermöglichen.
Im Zeitalter von Internet und Online-Kommunikation muß aber auch das Wort von der demokratischen Öffentlichkeit einen neuen Klang bekommen. Die neuen Wege der Informationsvermittlung sind eine hervorragende Chance, die Gesellschaft zum Sprechen zu bringen; aber sie bergen auch Gefahren.
Einer verantwortlichen Medienpolitik kommt deshalb zentrale Bedeutung zu. Jeder soll Zugang zu den Neuen Medien haben, jeder soll ihren Nutzen und ihre Grenzen kennen. Deshalb meinen wir es wörtlich, wenn wir dazu auffordern, unsere Kinder den Umgang mit Computern zu lehren: nicht nur die Technik, sondern mehr noch die Kultur dieser Form der Kommunikation.
Aus Bonn, meine Damen und Herren, nehmen wir eine gelebte, eine lebendige demokratische Transparenz mit nach Berlin. Diese Transparenz wird hier in diesem Haus des Deutschen Bundestags in großartiger Architektur sichtbar.
Den Reichstag, der nun bald Deutscher Bundestag sein wird, überwölbt eine gläserne Kuppel, wie wir wissen. Das ist nach meiner Auffassung mehr als ein hübsches architektonisches Detail. Es sollte ein Symbol für neue Offenheit und für demokratische Renovierung dieses so sehr geschichtsbeladenen Gebäudes sein. Es kann ein Symbol für die moderne Kommunikation einer staatsbürgerlichen Öffentlichkeit werden.
Diese Öffentlichkeit beschränkt sich nicht auf die Politik. Die Zusammenarbeit mit den Kirchen und Religionsgemeinschaften als wichtigen Kräften des kulturellen, politischen und sozialen Lebens werden wir fördern und fortsetzen. Wir begrüßen den Dialog der Religionsgemeinschaften untereinander und ihre Bereitschaft, zu den brennenden sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Gestaltungsfragen mit Anregungen und Kritik beizutragen.
Das Engagement vieler Bürgerinnen und Bürger in Vereinen und Verbänden, im Sport, in Bürgerinitiativen und Selbsthilfegruppen ist eine der Keimzellen unseres sozialen Zusammenlebens und einer eigenverantwortlichen Gestaltung unserer Existenz. Herr Kollege Schäuble, verzeihen Sie, aber weil Sie dies alles - ein wenig machtverliebt und machtversessen - übersehen haben, haben Sie verloren. Das ist der Grund.
Von ‚Koalition’ ist bei uns meist nur die Rede, wenn es um Parteien geht. Diese braucht man auch. Wir streben jedoch eine große gesellschaftliche Koalition an, eine Koalition aller Kräfte, die den Wandel in Deutschland gestalten wollen. Wir bieten nicht nur ein Bündnis für Arbeit an. Nein, meine Damen und Herren, wir wollen ein Zukunftsbündnis in diesem Land schaffen.
16. Berlin ist aber auch die Stadt, die quälende Jahrzehnte lang durch den Ost-West-Konflikt geteilt war. So glücklich wir Deutschen über dessen Überwindung sind, so bewußt sind wir uns auch, daß das Ende des Kalten Krieges noch lange nicht den Weltfrieden gebracht hat.
Der weltpolitische Umbruch hat in vielen Regionen neue Instabilitäten und gewaltsame Konflikte ausgelöst, auch vor unserer Haustür in Europa. Flüchtlingselend, Ressourcenknappheit und Umweltzerstörung in den Ländern des Südens sind ein gefährlicher Nährboden für diese und neue Konflikte.
Angesichts solcher Risiken, aber vor allem angesichts der Chancen internationaler Zusammenarbeit erwartet die Welt von uns mehr als je zuvor, daß wir unseren Verpflichtungen im Rahmen unserer Bündnisse gerecht werden. Wir bleiben in Europa und in der Welt verläßliche Partner.
Der Freundschaft mit den Vereinigten Staaten von Amerika verdanken wir viel: nicht weniger als den Frieden und unsere Freiheit. Ich will es gar nicht verhehlen, meine Damen und Herren: Etliche, die heute in diesem Deutschen Bundestag sitzen, und auch manche, die jetzt Mitglieder der Regierung sind, waren nicht immer mit allem einverstanden, was unsere amerikanischen Partner vor allem in der Hochrüstungsphase des Kalten Krieges getan und vorgeschlagen haben. Sie standen damit übrigens nicht allein in der westlichen Welt.
Es ist aber dieselbe Generation, die von kaum einem Ereignis der Nachkriegsgeschichte so geprägt worden ist wie von John F. Kennedys Berlin-Besuch und seinem Bekenntnis zur Freiheit Westberlins.
Schriftsteller haben diese Generation als - ich zitiere - ‚Kinder der amerikanischen Zone’ bezeichnet. Sie ist mit amerikanischer Kultur und amerikanischen Produkten aufgewachsen. Aus der kritischen Distanz der Kinder wurde die Partnerschaft von Erwachsenen. Die Freundschaft mit Amerika wurde dieser Generation nicht aufgezwungen, sie wurde ihr von amerikanischer Demokratie und Kultur angeboten. Es ist eine Freundschaft, die auf gegenseitiges Verständnis und immer bessere gegenseitige Kenntnis gebaut ist.
Es ist eine Freundschaft, die sich bewährt hat und vor keiner Bewährungsprobe steht. Wir garantieren sie nicht nur aus Kontinuität und Bündnistreue heraus, nein, wir garantieren sie aus jenem Vertrauen, das nur aus partnerschaftlichem Miteinanderreden und Miteinanderfühlen entstehen konnte. Wir stehen überzeugt zu unseren Verpflichtungen im Rahmen der Atlantischen Allianz.
Die Instrumente der gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik wollen wir ausbauen und nutzen, um Europa in der internationalen Politik endlich handlungsfähig zu machen. Darauf warten auch unsere Freunde in den Vereinigten Staaten mit Ungeduld.
Deutsche Außenpolitik ist und bleibt Friedenspolitik. Dabei bekennen wir uns ausdrücklich zu der Bereitschaft, an friedenssichernden und friedenserhaltenden Maßnahmen und Missionen mitzuwirken. Das gilt besonders auch für die Lage in Südosteuropa.
Wir wissen sehr genau, daß es nicht genügt, zur Durchsetzung der Menschenrechte etwa im Kosovo ein militärisches Drohpotential zu mobilisieren und, sollte dies unvermeidlich sein, es auch einzusetzen. Viel wichtiger als ein eventueller Militärschlag ist die Aufgabe, die Einhaltung geschlossener Abkommen zu überwachen und die Friedenssicherung vor Ort zu gewährleisten. Auch bei der Erfüllung dieser Aufgabe werden sich unsere Partner auf uns verlassen können.
In Europa kommt dabei der OSZE als der einzigen gesamteuropäischen Sicherheitsorganisation überragende Bedeutung zu. Bei der Befriedung des Kosovo hat sie sich bereits eine Aufgabe neuer Qualität gesetzt. Die Bundesregierung unterstützt diese Mission mit allen Kräften.
Wir liefern damit auch eine hochmoderne Definition vom Wirken der Bundeswehr als einer Armee, die dem Frieden dient. Unsere Soldaten setzen heute ihr militärisches Know-how in immer mehr Bereichen zivil ein.
- Jetzt haben Sie aber was! Es sei Ihnen gegönnt. Eine entscheidende politische Schwäche wurde soeben ausfindig gemacht. Das wird so weitergehen.
Bei der Befriedung des Kosovo - ich hatte es schon gesagt - hat die Bundeswehr sich bereits eine Aufgabe neuer Qualität gesetzt. Die Aufgaben der Bundeswehr reichen von der Eindämmung von Naturkatastrophen bis hin zu aktiver Demokratisierungshilfe.
Ausdrücklich danken wir den jungen Deutschen, die in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo militärisch und zivil den Frieden wahren helfen. Sie wissen, welche Hypothek sie tragen, wie genau ihr Auftritt in der Welt, aber auch hier in Deutschland beobachtet wird. Und sie lösen ihre Aufgabe mit bewundernswerter Disziplin und Professionalität.
Selbstverständlich wird die Bundeswehr weiterhin zur Landes- und Bündnisverteidigung befähigt bleiben. Eine Wehrstrukturkommission wird bis Mitte der Legislaturperiode Vorschläge unterbreiten über Auftrag, Umfang, Ausrüstung und Ausbildung der Streitkräfte.
Dabei betonen wir allerdings in aller Deutlichkeit, daß das Vorhalten militärischer Potentiale der Krisenprävention dienen soll, wie auch ihr Einsatz die Ultima ratio der Friedenspolitik bleiben muß. Wir werden unsere Bemühungen zur weltweiten Abrüstung und Rüstungskontrolle noch verstärken. Die Bundesregierung hält an dem Ziel der vollständigen Abschaffung der Massenvernichtungswaffen fest.
Wir wissen, daß es der Welt nicht gutgehen kann, wenn es wenigen immer besser und vielen immer schlechter geht. Die Überwindung der Kluft zwischen armen und reichen Weltregionen bleibt die größte internationale Herausforderung an der Schwelle zum 21. Jahrhundert.
Der Anteil der Entwicklungshilfe am Bruttosozialprodukt ist in den vergangenen 16 Jahren um beinahe die Hälfte gesunken, auf jetzt noch 0,28 Prozent. Diesen Abwärtstrend werden wir stoppen und dabei auf Effizienz und Kohärenz der Maßnahmen zur Bewältigung globaler Zukunftsaufgaben achten.
Dem Wirtschaftsgipfel 1999 in Köln werden wir eine Initiative zur weiteren Erleichterung der Schuldenlast der ärmsten Entwicklungsländer unterbreiten. Gemeinsam mit unseren Partnern in der Europäischen Union werden wir die regionale Zusammenarbeit mit den Ländern in Asien, Afrika und Lateinamerika ausbauen.
Den von verheerenden Naturgewalten heimgesuchten Staaten Zentralamerikas werden wir helfen, nicht nur mit unmittelbarer humanitärer Hilfe, sondern auch mit Mitteln für den Wiederaufbau ihrer fast vollständig zerstörten Infrastrukturen. Deshalb werden wir uns in den zuständigen internationalen Gremien für einen möglichst umfassenden Schuldenerlaß einsetzen.
Den Vereinten Nationen werden wir eigenständige Einheiten für friedenserhaltende Maßnahmen anbieten. Dabei setzt sich die Bundesregierung aktiv dafür ein, das Gewaltmonopol der Vereinten Nationen zu bewahren und die Rolle des Generalsekretärs zu stärken. Die Möglichkeit, Ständiges Mitglied im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zu werden, werden wir wahrnehmen, sofern ein gemeinsamer europäischer Sitz nicht erreichbar ist.
Wir maßen uns nicht an, international die Rolle einer Führungsmacht zu spielen oder in Krisensituationen ohne Abstimmung mit unseren Partnern politische Initiativen zu ergreifen. Uns ist weltweit an guter Zusammenarbeit gelegen. Auch unsere Außenwirtschaftsbeziehungen sollen dem Frieden und der Demokratisierung dienen.
Als dritte Säule unserer Außenpolitik werden wir die Auswärtige Kulturpolitik stärken und ausbauen. Das ist gerade unter den Bedingungen der Globalisierung unverzichtbar. Wir wissen aus eigener Erfahrung: Frieden braucht wirtschaftliche Entwicklung, und die wirtschaftliche Entwicklung braucht Frieden. Nur dort können Krisen auf Dauer gelöst werden, wo die Menschen spüren, daß sich Frieden und Demokratie lohnen und daß friedliche Entwicklung ihre Lage spürbar verbessert.
Eine solche Aufgabe stellt sich uns gemeinsam mit unseren europäischen Partnern etwa im Nahen Osten. Im Friedensprozeß zwischen Israel, den Palästinensern und den arabischen Nachbarstaaten können und wollen wir nicht die Rolle des Paten im Friedensprozeß spielen. Dieser Part kommt den Vereinigten Staaten von Amerika und den internationalen Organisationen zu.
Aber wir Europäer können und sollten durch gezielte Wirtschaftshilfe, durch Öffnung der Märkte und durch die Beteiligung an Infrastrukturmaßnahmen dazu beitragen, den Friedensprozeß unumkehrbar zu machen. Damit können wir unserer historischen Verantwortung gerecht werden - auch und gerade für Israel und für den Frieden.
17. Die Einbindung Deutschlands in die Europäische Union ist von zentraler Bedeutung für die deutsche Politik. Die Bundesregierung wird deshalb insbesondere die deutsche Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 1999 nutzen, um den europäischen Integrationsprozeß voranzutreiben. Nur durch die Weiterentwicklung zu einer Politischen Union sowie zu einer Sozial- und Umweltunion wird es gelingen, unser Europa bürgernah zu gestalten.
Durch den Regierungswechsel in Deutschland und durch die neuen politischen Realitäten in Europa ergibt sich endlich die Chance einer europäischen Sozial- und Beschäftigungspolitik. Der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit kann endlich auch als europäische Frage behandelt werden. Er ist eben nicht mehr länger eine Fußnote zu den Beschlüssen des Ministerrates, sondern er steht auf der europäischen Tagesordnung ganz oben.
Unser Ziel ist ein europäischer Beschäftigungspakt. In ihm sollen ausdrücklich verbindliche Ziele zum Abbau der Jugend- und Langzeitarbeitslosigkeit sowie zur Überwindung der Diskriminierung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt aufgenommen werden. Zur Schaffung von zukunftsfähigen Arbeitsplätzen werden wir uns auch in der Europäischen Union für eine Politik der ökologischen Modernisierung einsetzen.
Die Europäische Währungsunion ist eine unumkehrbare Tatsache. Der Euro wird uns die völlige Vergleichbarkeit der Preise und der Leistungen bringen. Damit ist die Zeit nationaler Alleingänge endgültig vorbei. Das gilt zum Beispiel auch für die Weiterentwicklung der ökologischen Steuerreform. Sie muß und sie kann nur in einem europäischen Rahmen auf Dauer gelingen.
Die gemeinsame Währung muß ein Erfolg werden. Das heißt: Sie muß stabil sein und stabil bleiben. Die Stabilitätsorientierung der künftigen europäischen Geldpolitik stellen wir nicht in Frage. Aber auch die vom Bundesbankpräsidenten selbst als wünschenswert bezeichnete Diskussion um die Zinspolitik - um auf einen aktuellen Punkt einzugehen - wollen und werden wir führen.
Dabei hat niemand - ich wiederhole: niemand - die Unabhängigkeit der Bundesbank und der Europäischen Zentralbank in Frage gestellt.
- Sie interpretieren das immer gerne anders. Aber es ist so, wie ich es Ihnen hier sage; glauben Sie es mir.
Diese Unabhängigkeit ergibt sich aus dem Bundesbankgesetz und aus dem Maastrichter Vertrag. Dort wurde sie verankert, weil sie sachlich geboten ist und weil sie der Stabilität dient. Aber ich füge hinzu: Dabei entspricht es entwickelter und guter europäischer Tradition demokratisch verfaßter Gesellschaften - auch deshalb steht dies darin -, daß zum Beispiel die Europäische Zentralbank ihre in voller Souveränität gefaßten geldpolitischen Entscheidungen regelmäßig dem Europäischen Parlament darlegen wird. Was spricht dagegen?
Der Bundesfinanzminister hat als einer der ersten auf die Notwendigkeit hingewiesen, zu wirksamen internationalen Vereinbarungen zu kommen, um die Turbulenzen auf den Weltfinanzmärkten zu glätten. Diese Notwendigkeit wird heute bei der Bundesbank, bei den europäischen und nordamerikanischen Partnern - bis hin zur Weltbank und zur US-Notenbank - genauso gesehen. Auch und gerade wegen der internationalen Finanzkrisen müssen wir darauf hinwirken, daß Europa mit einer Stimme spricht.
Es wird deshalb ein erster Schwerpunkt der Ratspräsidentschaft sein, die Deutschland am 1. Januar 1999 übernimmt, die Verhandlungen zur Agenda 2000 bereits bei einem Sondertreffen des Europäischen Rates im Frühjahr 1999 abzuschließen. Das ist gewiß eine immens schwierige Aufgabe. Aber wir wollen den ernsthaften Versuch unternehmen, diese Aufgabe zu erfüllen.
Im Rahmen der Neuregelung der EU-Finanzen wollen wir dabei auch zu einer höheren Beitragsgerechtigkeit kommen und die deutsche Nettobelastung auf ein faires Maß verringern. Ich muß aber in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, daß diese Belastungen im Jahre 1992 mit der Stimme der damaligen Bundesregierung unter anderen Bedingungen - das ist gar keine Frage - beschlossen worden sind und daß es schwierig sein wird - das weiß jeder, der sich dieser Aufgabe angenommen hat -, diese Beschlüsse, auf deren Realisierung viele der Partner setzen, wenigstens in etwa zu korrigieren. Wir werden daran arbeiten. In diesem Punkt sind wir uns ja alle in diesem Hause einig.
Bei der Agrarpolitik werden wir uns auf europäischer Ebene für grundlegende Veränderungen einsetzen. Wo die Angleichung der Preise an das Weltmarktniveau die deutschen Bauern benachteiligt, müssen wir in Europa ein System direkter Einkommensbeihilfen durchsetzen, ein System, das auch national ergänzt werden können muß.
Auch die EU muß sparsam wirtschaften, ihre Mittel effizient und zielgerecht einsetzen und den Subventionsmißbrauch bekämpfen. Auch in Europa müssen wir uns auf die strukturschwächsten und förderungsbedürftigsten Regionen konzentrieren. Dabei dürfen die neuen deutschen Bundesländer gegenüber vergleichbaren Regionen Europas nicht in einen Nachteil geraten.
Wir werden dafür sorgen, daß Deutschland in der EU nicht länger als Bremser bei der Sozialpolitik auftritt. Wir werden aktiver Schrittmacher bei der Reform der EU sein. Wir wollen nicht, daß der Euro deutsch spricht. Wir wollen, daß D-Mark, Franc und Schilling europäisch sprechen.
18. Die Erwartungen unserer Nachbarn und Partner an diese Bundesregierung sind enorm. Wir werden versuchen, diese Erwartungen nicht zu enttäuschen. Die regelmäßigen Konsultationen mit Frankreich und Großbritannien sind für uns keine bloße Formsache. Die deutsch-französische Freundschaft ist das Fundament unserer Europapolitik. Diese Freundschaft wollen wir auf eine noch breitere gesellschaftliche und vor allem kulturelle Grundlage stellen.
Unseren Nachbarn im Osten versichern wir, daß wir die Chance der EU-Osterweiterung entschlossen nutzen wollen. Europa wird und darf nicht am ehemaligen Eisernen Vorhang oder an der deutschen Ostgrenze enden. Die Deutschen werden eben nicht vergessen, welch unschätzbaren Beitrag die Völker in Ungarn und in Polen zumal zur Überwindung der deutschen Teilung geleistet haben. Wir wollen sie partnerschaftlich in die EU integrieren.
Dazu gehört auch die Beachtung angemessener Übergangsfristen, zum Beispiel bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Dies bitte ich wirklich alle zu verstehen. Die Beachtung dessen dient eben nicht der Abwehr und Verzögerung, sondern dem vollständigen Gelingen und der Integration.
Die Bundesregierung ist sich ihrer besonderen historischen Verantwortung gegenüber Polen bewußt. Sie wird ihr mit dem Angebot einer immer engeren Partnerschaft sowie der Verstärkung der Zusammenarbeit zwischen Deutschland, Frankreich und Polen gerecht werden.
Die Bundesregierung wird zügig daran arbeiten, auf Grundlage der Deutsch-Tschechischen Erklärung noch bestehende Probleme im Verhältnis zur Tschechischen Republik abzubauen.
19. Meine Damen und Herren, die gemeinsame Währung ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur europäischen Integration. Aber sie gibt nur einen Rahmen vor, einen Rahmen, den wir mit Leben füllen müssen.
Wir brauchen eine zügige und glaubwürdige Demokratisierung der europäischen Institutionen. Dabei steht für die Bundesregierung fest, daß unser Europa die nationalen Identitäten nicht ersetzen oder aufheben soll. Dennoch oder gerade deshalb scheint eine föderale Ordnung in Europa die beste Gewähr für Solidarität und Fortschritt zu sein.
Bei uns in Deutschland hat sich das föderale System bewährt. Bund und Länder bleiben auf Kooperation angewiesen. Kooperation bedeutet nicht die Aufgabe der eigenen Interessen. Wer wüßte das besser als ich? Die Bundesregierung wird sich an der gemeinsamen Formulierung einer zeitgemäßen Aufgabenverteilung im Verhältnis zwischen Bund und Ländern beteiligen. Nur im sachgerechten Interessenausgleich werden beide Seiten ihrer gesamtstaatlichen und europäischen Verantwortung gerecht.
Am Ende dieses Jahrtausends wird Deutschland zwei internationale Großereignisse ausrichten. Im Jahre 1999 wird Weimar europäische Kulturhauptstadt sein; im Jahr darauf findet die Weltausstellung 2000 in Hannover statt. Beide Veranstaltungen werden die Bundesrepublik Deutschland ins internationale Rampenlicht stellen. Weimar wird die erste europäische Kulturhauptstadt in den neuen Bundesländern sein und versuchen, eine Brücke zwischen dem kulturellen Erbe und dem historischen Auftrag aus unserer Geschichte zu schlagen. Die Expo 2000 wird für unseren Aufbruch in die Welt des 21. Jahrhunderts stehen.
Die Bundesregierung ist sich der Bedeutung dieser beiden Ereignisse bewußt, und sie wird ihnen zu internationalem Erfolg verhelfen. Sie verläßt sich dabei auch auf die Leistungsbereitschaft, die Gastfreundschaft und die Neugier der Menschen in Deutschland. Gegen die Konkurrenz der Wirtschaftsstandorte setzen wir das Konzept von Europa als Lebensort und Lebensart.
20. Wir stehen für das Zukunftsprojekt Deutschland in Europa. Dabei stehen wir in vorderster Reihe mit den sozialen Modernisierern unserer Nachbarländer. Diese Chance, gemeinsam ein modernes Europa der Sozialen Marktwirtschaft und der ökologischen Verantwortung zu bauen, werden wir ergreifen.
Wir machen keine unhaltbaren Versprechungen. Aber wir können und wir wollen Mut machen, Mut zu einer neuen Zivilität und zu mehr Partnerschaft, aber auch Mut zum Optimismus, zur Neugier auf die Zukunft.
Ich erinnere an Willy Brandt, der vor diesem Parlament 1973 in der Regierungserklärung seines Reformbündnisses den ‚vitalen Bürgergeist’ zitiert hat, der in dem Bereich zu Hause sei, den auch Willy Brandt damals ‚die neue Mitte’ genannt hat.
Helmut Schmidt hat vor diesem Haus in seiner Regierungserklärung 1976 in vergleichbar schwieriger Wirtschaftslage gesagt: Die Bundesregierung setzt bei ihren Bemühungen zuallererst - ich zitiere ihn - auf den Fleiß, die Intelligenz und das Verantwortungsbewußtsein der Deutschen. Daran knüpfe ich bewußt an, und ich bin sicher, meine Damen und Herren, wir werden es schaffen, weil wir Deutschlands Kraft vertrauen. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.“
Dogmatismustextanalyse |
Regressive Imagery Dictionary |
System für die modulare Analyse von Texten |
Berühmte politische Reden |
Große Regierungserklärungen |
Politiker |
Parteien |
Politische Stiftungen |
Politische Bildung, Beratung, Forschung |
Nachrichten |
Nachrichten Suchmaschinen |
Politische Datenquellen |
Politische Reden |