Psychologie politischer Reden und Kommunikation
Politische Psychologie: Denkorientierungen und Denkmuster von Führenden in der Politik
CMC Forschungsprojekt WORTSTROM
Politische Rede im Wortlaut
Angela Merkel: Große Regierungserklärung am 30.11.2005
Redeanalyse (Kommunikationsprofil) ►
„Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Gestatten Sie mir aus aktuellem Anlass zunächst eine Bemerkung. Seit Freitag vergangener Woche werden im Irak eine deutsche Staatsangehörige und ihr irakischer Fahrer vermisst. Nach dem derzeitigen Stand der Erkenntnisse müssen wir davon ausgehen, dass die beiden entführt worden sind. Die Bundesregierung und - ich bin sicher - auch das gesamte Hohe Haus verurteilen diese Tat mit Entschiedenheit.
Eines ist für die Bundesregierung und, wie ich denke, auch für dieses Parlament klar: Wir lassen uns nicht erpressen.
Genauso klar ist: Alle Anstrengungen der Bundesregierung sind in dieser Situation darauf gerichtet, das Leben von Susanne Osthoff und ihres irakischen Begleiters zu schützen und ihre Freilassung zu erreichen. Unsere Gedanken sind in diesen Stunden und Tagen bei den Angehörigen und Freunden der Betroffenen. Wir fühlen mit ihnen. Sie sollen wissen: Alle Deutschen nehmen Anteil am Schicksal der Entführten und alle Deutschen empfinden eine tiefe Solidarität und Verbundenheit mit ihnen.
Ihnen allen möchte ich versichern: Die Bundesregierung unternimmt alles, was in ihrer Macht steht, um die deutsche Staatsangehörige und ihren Fahrer so schnell wie möglich in Sicherheit zu bringen.
Noch wissen wir nichts über die Motive oder die Hintergründe. Daher verbieten sich voreilige Schlussfolgerungen.
Aber es ist ganz grundsätzlich festzuhalten: Der internationale Terrorismus ist unverändert eine der größten Herausforderungen für die Staatengemeinschaft. Im Kampf gegen den internationalen Terrorismus dürfen wir nicht nachlassen. Er richtet sich gegen das, was uns wichtig ist und was den Kern unserer Zivilisation ausmacht: Er richtet sich gegen unser gesamtes Wertesystem, gegen Freiheit, Toleranz, Respekt und die Achtung der Menschenwürde, gegen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Würden wir diese Werte aufgeben, würden wir uns selbst aufgeben.
Meine Damen und Herren, noch etwas spüren wir in diesen Stunden, etwas, das unser Land auszeichnet: Vor dem Leid anderer verschließen wir weder unsere Augen noch unsere Herzen. Wir wissen, was Solidarität vermag. Wir haben erfahren, welche Kraft aus der Gemeinschaft und aus der Nächstenliebe erwachsen kann. Wir sind uns bewusst, dass ein Volk mehr ist als eine lose Ansammlung von Individuen, und wir wissen, dass ein Volk auch immer eine Schicksalsgemeinschaft ist. Wenn wir diese Erkenntnis beherzigen, können wir daraus Kraft und Zuversicht schöpfen, mit denen wir auch diese großen Herausforderungen meistern können.
Meine Damen und Herren, dieses Signal aus diesem Hohen Haus am Anfang der Debatte ist mir sehr wichtig. Wir haben uns nämlich zusammengefunden, um heute und in den nächsten Tagen die erste Regierungserklärung der neuen Bundesregierung zu diskutieren. Ich darf Sie zu Beginn fragen: Für wen mag das heute wohl die größte Überraschung sein? Wer hätte noch vor einigen Wochen und Monaten gedacht, dass heute eine große Koalition antritt, um unser Land gemeinsam in die Zukunft zu führen?
Wer hätte gedacht, dass SPD und Union so viel Verbindendes entdecken, dass sie ein dichtes Programm für vier Jahre vorlegen? Wer hätte gedacht, dass mein Koalitionspartner von einem Parteivorsitzenden aus Brandenburg angeführt wird? Wer hätte gedacht, dass das höchste Regierungsamt schon in diesem Jahr einer Frau übertragen wird? Wer hätte das alles gedacht?
Das alles ist für viele von uns eine Überraschung und ich sage: manches davon auch für mich. Aber es ist nicht die größte Überraschung meines Lebens. Die größte Überraschung meines Lebens ist die Freiheit. Mit vielem habe ich gerechnet, aber nicht mit dem Geschenk der Freiheit vor meinem Rentenalter.
Alle Wege vor 1989 endeten an einer Mauer, die nur wenige Meter von diesem Platz entfernt unser Land für alle Zeit zu zerschneiden schien. Wenn Sie schon einmal in Ihrem Leben so positiv überrascht wurden, dann halten Sie vieles für möglich. Dabei möchte ich bleiben.
Ich habe die neue Koalition eine ‚Koalition der neuen Möglichkeiten’ genannt. Ich wünsche mir, dass sie unserem Land und allen Deutschen neue Möglichkeiten eröffnet, und ich wünsche mir, dass wir diese Chancen dann auch wirklich nutzen und wahrnehmen. Das heißt für mich konkret: Der Anspruch der neuen Bundesregierung an sich und an das Land ist nicht gering. Wir wollen die Voraussetzungen schaffen, dass Deutschland in zehn Jahren wieder zu den ersten drei in Europa gehört. Ich finde, das ist ein legitimer und wichtiger Anspruch.
Meine Damen und Herren, das Grundgesetz, die soziale Markwirtschaft, die duale Berufsausbildung, all das waren Ideen, die die Menschen in der gesamten Welt inspirierten. In Deutschland wurde das erste Auto gebaut und der erste Computer, in Deutschland wurde das Aspirin entwickelt. Von diesen Innovationen zehren wir noch heute. Warum soll uns das, was uns früher und was uns zu Beginn dieser Bundesrepublik Deutschland, in den ersten Gründerjahren, gelungen ist, heute, in den - wie ich sage - zweiten Gründerjahren, nicht wieder gelingen?
Lassen Sie uns also alle damit überraschen, was wir in diesem Lande können. Eine große Koalition zweier unterschiedlicher Volksparteien eröffnet die ganz unerwartete Möglichkeit, zu fragen, was wir gemeinsam besser machen können - ohne uns dabei dauernd mit Schuldigkeiten aufzuhalten, ohne dauernd mit dem Finger auf den anderen zu zeigen und zu fragen, welchen Missstand der andere - natürlich ganz allein - herbeigeführt hat. Denn eines ist klar: Wir alle, ob wir es zugeben oder nicht, tragen Verantwortung dafür, dass wir heute die Möglichkeiten unseres Landes noch nicht voll ausschöpfen: Unser Wachstum kommt seit Jahren nicht mehr richtig in Schwung, die Verschuldung ist in erschreckende Höhen gestiegen, der Aufholprozess der neuen Bundesländer ist seit Jahren gestoppt und ohne den Automobilsektor wäre Deutschland nicht mehr ein solches Hightechland, wie ich mir das wünsche. PISA zeigt, dass wir an vielen Stellen nicht mehr einfach sagen können: Wir sind eine Bildungsnation. Den rapiden Wandel der Arbeitswelt haben wir noch nicht bewältigt. Deutschland ist nicht hinreichend auf die demographischen Veränderungen vorbereitet. Auch auf die Bedrohungen neuer Art und die fließenden Grenzen zwischen innerer und äußerer Sicherheit haben wir noch keine umfassenden Antworten gefunden.
Meine Damen und Herren, wir alle kennen die Probleme und ich kann sagen: Die große Koalition hat die Lage unseres Landes ehrlich analysiert und wir haben auch gemeinsam die Chance erkannt, die Möglichkeiten unseres Landes besser zu nutzen. Warum sollten wir nicht alle damit überraschen, was in diesem Land gelingen kann?
Wir wissen, wir haben dicke Bretter zu bohren: Wir wollen den Föderalismus neu ordnen, wir wollen den Arbeitsmarkt fit machen, wir wollen unsere Schulen und Hochschulen wieder an die Spitze führen, wir wollen unsere Verschuldung bändigen und unsere Gesundheits- und Renten- und Pflegesysteme in Ordnung bringen. Niemand kann uns daran hindern - außer wir selbst. Deshalb lassen Sie uns verzichten auf die eingeübten Rituale, auf die reflexhaften Aufschreie, wenn jemand etwas verändern will. Es sollte wirklich einmal möglich sein, dass wir in dieser großen Koalition dieses alles hinter uns lassen und neue Wege gehen.
Bei der Vorbereitung auf diese Regierungserklärung habe ich viel darüber nachgedacht, wie ich alle Gruppen erwähnen und würdigen kann, die für das Miteinander in unserem Land so wichtig sind. Ich habe darüber nachgedacht, ob ich Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften, Kirchen und Religionsgemeinschaften alle einzeln benennen soll. Ich habe mich am Ende dafür entschieden, auf eine solche Auflistung zu verzichten. Denn es geht nicht um Gruppen - es geht um uns alle, es geht um unser Gemeinwesen, um unsere gemeinsame Zukunft.
Überraschen wir uns deshalb damit, dass wir die großen Fragen nicht immer aufgegliedert nach Einzelfragen
und -interessen angehen, sondern einmal im Zusammenhang. Überraschen wir uns damit, dass wir sachlich, fair, ehrlich alles angehen und gemeinsam lösen. Bei allen Aufgaben, die wir vor uns haben, sollten wir nicht vergessen: Frühere Generationen, die, die vor uns Probleme zu lösen hatten, hatten ungleich größere Probleme; denken wir an den Aufbau nach dem Krieg in West und Ost, denken wir an die historische Leistung der Ostdeutschen, friedlich eine Diktatur zu überwinden. Dagegen ist unsere heutige Lage beneidenswert.
Sicher: Licht und Schatten liegen an vielen Stellen sehr eng beieinander; ich nenne den Aufbau Ost. Aber festzuhalten bleibt doch: 15 Jahre nach der deutschen Einheit ist Gigantisches geleistet worden. Mit Transferzahlungen von jährlich 4 Prozent des Sozialprodukts ist es gelungen, die neuen Bundesländer wieder aufzubauen. Ich möchte von dieser Stelle aus allen in Deutschland danken, die zu diesem Prozess beigetragen haben.
Die Umwelt erholt sich, die Infrastruktur ist ausgebaut, in wenigen Tagen wird - das sei mir als Bewohnerin von Mecklenburg-Vorpommern gestattet zu sagen - das letzte Stück der Ostseeautobahn dem Verkehr übergeben. Das sind nur einige Beispiele dafür, was wir in 15 Jahren alles geschafft haben.
Auch sonst bietet unser Land großartige Voraussetzungen, die wir nun endlich nutzen sollten: Deutschland ist Exportweltmeister. In keinem Land in Europa werden mehr Patente angemeldet. Gerade wurde wieder ein deutscher Wissenschaftler mit einem Nobelpreis geehrt.
Unsere kulturelle Vielfalt ist einzigartig. Deutschland ist das Land der Ideen, wie der Bundespräsident sagt. Zu einem Land der Ideen gehört nach meiner Auffassung eine Regierung der Taten. Und diese unsere Bundesregierung hat sich viele Taten vorgenommen. Ein Vizekanzler einer früheren großen Koalition und späterer Bundeskanzler hat einmal gesagt: Mehr Demokratie wagen.
Ich weiß, dass dieser Satz viele, zum Teil sehr heftige Diskussionen ausgelöst hat. Aber ganz offensichtlich hat er den Ton der damaligen Zeit getroffen. Ich sage persönlich: Gerade in den Ohren der Menschen jenseits der Mauer klang er wie Musik. Gestatten Sie mir, diesen Satz heute zu ergänzen und uns zuzurufen: Lassen Sie uns mehr Freiheit wagen!
Lassen Sie uns die Wachstumsbremsen lösen! Lassen Sie uns selbst befreien von Bürokratie und altbackenen Verordnungen! Viele unserer europäischen Nachbarn zeigen uns doch, was möglich ist. Deutschland kann das, was andere können, auch; davon bin ich zutiefst überzeugt.
Schon die vergangene Regierung hatte Schritte eingeleitet, wodurch die Möglichkeiten, die unser Land hat, besser genutzt werden sollten. Jenseits aller parteipolitischen Differenzen - diese waren in den vergangenen Jahren nicht zu übersehen - möchte ich deshalb an dieser Stelle ausdrücklich eines tun: Ich möchte Bundeskanzler Schröder ganz persönlich dafür danken, dass er mit seiner Agenda 2010 mutig und entschlossen eine Tür aufgestoßen hat, eine Tür zu Reformen, und dass er die Agenda gegen Widerstände durchgesetzt hat.
Damit hat er sich um unser Land verdient gemacht. Nicht zuletzt dafür möchte ich ihm im Namen aller Deutschen danken.
Meine Damen und Herren, ich habe gesagt, dass ich nicht jede Gruppe einzeln benennen möchte, und zwar nur deshalb, damit mir niemand vorwerfen kann, ich hätte eine Gruppe vergessen. Aber eine Gruppe ist mir so wichtig, dass sie erwähnt werden muss - sie wird bei allen künftigen Fragen eine wichtige Rolle spielen -: Ich meine die Schwachen. Ich meine die Schwachen, die die Solidarität und die Hilfe von uns allen brauchen. Ich meine Kranke, Kinder und viele Ältere. Die Menschlichkeit unserer Gesellschaft entscheidet sich daran, wie wir mit ihnen umgehen.
Wir, die neue Bundesregierung von Union und Sozialdemokraten, wollen unser Land so ertüchtigen, dass sich die Schwachen auch in Zukunft darauf verlassen können, dass sie nicht alleine gelassen werden, dass ihnen geholfen wird. Das ist unser Verständnis von sozialer Gerechtigkeit.
Das beginnt bei der Absicherung der großen Lebensrisiken. Wir wollen die solidarische Altersversorgung erhalten. Aber wie wir wissen, wird der dritte Lebensabschnitt immer länger. Deshalb haben wir uns entschlossen, die Antwort darauf zu geben und die gesetzliche Regelaltersgrenze der Rentenversicherung schrittweise auf 67 Jahre anzuheben. Das geschieht nicht sofort, sondern beginnt erst ab 2012 mit einer langen Übergangszeit. Wir haben daneben aber festgelegt, dass Menschen, die 45 Arbeitsjahre hinter sich haben, auch weiterhin abschlagsfrei mit 65 Jahren in Rente gehen können. Ich denke, damit haben wir uns eine ganz sinnvolle Regelung überlegt.
Wir haben das ausführlich diskutiert und gesagt, wir müssen dafür sorgen, dass sich die Menschen rechtzeitig darauf einstellen können. Verlässlichkeit soll das Markenzeichen dieser Bundesregierung sein. Wir werden das deshalb schon 2007 beschließen müssen. Dieses Vorhaben wird dann Hand in Hand mit besonderen Anstrengungen in Bezug auf Beschäftigungsmaßnahmen für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Rahmen der Initiative 50 plus gehen. Wenn wir es nicht schaffen, dass auch die Älteren wieder die Chance haben, länger arbeiten zu können, dann werden wir in der Gesellschaft kein Verständnis dafür erhalten, dass wir die Lebensarbeitszeit insgesamt verlängern. Beides muss Hand in Hand gehen. Alles andere wird keine Akzeptanz finden.
Wir haben gesagt, dass wir die Rentnerinnen und Rentner mit einer Sicherungsklausel vor Rentenkürzungen schützen. Weil es aber dabei bleibt, dass sich die Rente auch in Zukunft im Grundsatz an der Lohnentwicklung orientiert, müssen wir gleichermaßen auch sagen, dass ausgebliebene Anpassungen in den kommenden Jahren nachgeholt werden. Das bedeutet, dass wir den Menschen - insbesondere denjenigen mit kleineren Renten - sehr viel zumuten. Ich weiß das. Ich sage aber auch: Wir haben darum gerungen, wie wir Gerechtigkeit zwischen den Älteren und den Jüngeren herstellen können. Ich halte es für besser, dass wir heute klar sagen, was wir können und was wir nicht können, um einen Ausgleich zwischen den Generationen auch als Vertrauensbasis für den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft durchzusetzen.
Meine Damen und Herren, es gehört doch zur Ehrlichkeit, zu sagen - ich sage das für alle politischen Gruppen -, dass wir den Menschen dort zu oft Sicherheit vorgegaukelt haben, wo wir sie im Grunde nicht mehr garantieren konnten. Diesen Fehler wollen wir nicht wiederholen.
Deshalb werden wir auch die kapitalgedeckte Altersversorgung für junge Familien deutlich verbessern und das selbst genutzte Wohneigentum in die Altersversorgung integrieren. Ich glaube, damit sind zwei wesentliche Punkte gelungen, durch die die Menschen ihre freiwillige Vorsorge für ihr Alter verstärken werden. Insofern kann ich sagen: Wir sind bei der Rente und dem, was wir uns vorgenommen haben, einen ehrlichen, schwierigen, aber zukunftsträchtigen Weg gegangen.
Ich sage ganz ehrlich: Zur Wahrheit dieser Regierungserklärung gehört auch, dass uns das beim Gesundheitssystem noch nicht gelungen ist. Ich sage: ‚noch nicht’. Auch die Kranken sollen sich natürlich auf ein zuverlässiges Gesundheitssystem verlassen können. Sie alle wissen - darüber braucht man gar nicht hinwegzugehen -, Union und Sozialdemokraten haben mit der solidarischen Gesundheitsprämie auf der einen Seite und der Bürgerversicherung auf der anderen Seite bisher zwei völlig konträre Ansätze verfolgt. Ich sage auch sehr deutlich: Wir wollten in den Koalitionsverhandlungen keinen faulen Kompromiss auf die Schnelle erreichen.
Das heißt: Wir alle wissen, dass wir einen neuen Ansatz und ein leistungsfähiges und hoch qualifiziertes Gesundheitssystem brauchen, das für alle zugänglich ist. Es muss Beschäftigung ermöglichen, wettbewerbsfördernd sein, die Lasten solidarisch verteilen und Generationengerechtigkeit bieten. All diese Dinge wissen wir. Deshalb sind wir bereit und willens, mit einem neuen Ansatz im neuen Jahr eine Lösung hierfür zu finden, auch wenn das eine schwierige Aufgabe ist. Ich zumindest werde mich sehr dafür einsetzen.
Auf der Leistungsseite werden wir allerdings schnell Veränderungen vornehmen. Wir wollen mehr Vertragsfreiheit und Gestaltungsmöglichkeiten von den Patienten über die Krankenkassen bis hin zu den Praxen und den Krankenhäusern. Bei der Arzneimittelversorgung kommen wir um weitere Maßnahmen zur Kostensenkung nicht herum. Insbesondere die forschende Pharmaindustrie muss bessere Standortbedingungen erhalten. Auch dafür haben wir Sorge getragen. Denn die Innovationskraft Deutschlands wird gerade von der forschenden Pharmaindustrie in ganz wesentlichem Umfang abhängen.
Genauso wie die Krankenversicherung bleibt auch die Pflegeversicherung ein zentraler Baustein der solidarischen Absicherung. Wir wollen, dass der Zweck und die Idee der Pflegeversicherung auch weiterhin gelebt werden können. Das heißt, dass wir das Umlageverfahren durch eine kapitalgedeckte Demographierücklage ergänzen werden. Das heißt auch, dass die private Pflegeversicherung zukünftig einen Beitrag zur Bewältigung der Solidarität leisten muss. Das muss fair geschehen; aber wir glauben, dass dies im Rahmen der Pflegeversicherung ein richtiger Schritt ist.
Wir tun das - ich wiederhole mich -, weil sich Alte, Kranke und Kinder auch in Zukunft darauf verlassen können müssen, dass ihnen geholfen wird und sie nicht alleine sind. Es geht dabei nicht nur um materielle Dinge, sondern das ist auch eine moralische Aufgabe.
Dabei wissen wir: Das Zusammenleben der Generationen hat sich in den letzten Jahren tief greifend verändert. Es gibt die traditionellen Familien; es gibt die so genannten Patchworkfamilien; es gibt allein erziehende Eltern. Ich sage es kurz und knapp: Familie ist überall dort, wo Eltern für Kinder und Kinder für Eltern dauerhaft Verantwortung tragen.
Ich will nicht, dass der Staat lenkend eingreift oder gar Lebensentwürfe vorschreibt. Aber ich will schon - das ist unser gemeinsames Anliegen -, dass der Staat gute Rahmenbedingungen schafft. Das heißt, dass junge Menschen ermutigt werden, sich für ein Leben mit Kindern zu entscheiden, und dass sie dazu nicht nur ermutigt werden, sondern dass sie sich auch entscheiden können.
Das hat aus meiner Sicht zuvörderst damit zu tun, ob es in diesem Land ein Klima der Zuversicht, des Mutes und der Perspektiven für das eigene Leben gibt. Aber es hat außerdem etwas mit sehr praktischen Fragen zu tun, nämlich mit ausreichenden und bezahlbaren Betreuungsmöglichkeiten. Sicher: Nach außen ist der Streit über die Entscheidung zwischen Kindererziehung und beruflichem Fortkommen der vergangenen Jahrzehnte nach vielen Diskussionen und Reden überwunden. Aber ich betone: nach außen.
Dennoch wissen wir, dass die Realität auch heute noch oft eine andere ist, dass die Widersprüche zwischen Arbeits- und Familienwelt nicht einfach verschwunden sind und es auch heute nicht selten noch immer eine Frage ist, ob sich eine Frau am Ende für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf entscheiden kann oder ob sie sich zwischen Familie und Beruf entscheiden muss.
Die Politik will dabei helfen, dass diese Widersprüche nicht nur in Worten und Sonntagsreden überwunden werden, sondern zunehmend auch im täglichen Leben. Das werden wir tun, indem wir den Ausbau der Kinderbetreuungseinrichtungen vorantreiben. Bis 2010 sollen 230000 zusätzliche Betreuungsplätze vor allem für Kleinkinder entstehen. Die zugesagten Mittel allerdings - das betone ich - müssen den Kommunen real zur Verfügung gestellt werden, damit sie diese Aufgabe erfüllen können. Nach der Föderalismusreform wird das noch wichtiger.
Wir werden die Kinderbetreuung auch steuerlich besser fördern. Die Vielzahl von Familienleistungen wollen wir im Übrigen in einer Familienkasse bündeln, harmonisieren und organisatorisch zusammenfassen.
Aber an einem Problem in unserem Land können wir nicht vorbeisehen: Je besser die Ausbildung der jungen Frauen und Männer ist, desto seltener entscheiden sie sich für Kinder. Das kennen wir alle und das wird uns auch immer wieder erzählt. Eine Frau hat ein Studium absolviert, eine hervorragende Ausbildung machen können, möchte im Beruf Karriere machen und steht dann vor der Frage, wie sie diesen Berufswunsch mit ihrem Wunsch, eine Familie zu gründen, vereinbart.
Ich sage unumwunden: Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, dass dieser Konflikt ganz einfach und locker überwunden werden kann. Das kann er nicht. Aber seitens der Politik können wir einen kleinen Beitrag dazu leisten, diesen Konflikt ein wenig zu mildern. Genau das haben wir getan, indem wir uns entschlossen haben, ein Elterngeld einzuführen. Es wird erstmals als Einkommensersatz ausgestaltet und zusätzlich mit einer Väterkomponente verbunden. Das ist ein neuartiger Ansatz in beide Richtungen. Ich ahne schon jetzt, welche Diskussionen er hervorrufen wird. Doch die Betriebe - das sage ich ganz ausdrücklich - sollen sich stärker als bisher in der Pflicht sehen, auch einmal die Väter zeitweise freizustellen, und zwar, wo immer dies möglich ist, ohne berufliche Nachteile. Dieser sanfte Druck ist unumgänglich.
Ich nenne ein weiteres Stichwort aus unserem Familienprogramm, das mir sehr wichtig ist: die Mehrgenerationenhäuser. Ich halte es für eines der spannendsten Projekte der Familien- und Gesellschaftspolitik in einer Zeit der Änderung der Altersstruktur in unserer Gesellschaft. Wir wissen, dass die Anforderungen an Mobilität im Berufsleben auf der einen Seite und der Wunsch nach Fürsorge innerhalb der Familie auf der anderen Seite heute oft nicht miteinander vereinbar sind. Deshalb gelingt es oft nicht, dass die pflegebedürftigen Eltern am gleichen Ort wie die Kinder wohnen oder dass sich die Großeltern um die Enkel kümmern können.
Mit Mehrgenerationenhäusern - wir müssen diesen Weg symbolisch gehen, um immer wieder deutlich zu machen, dass es andere Formen des Zusammenlebens gibt - können wir Menschen aus der Vereinsamung herausführen. Wir können eine Plattform für bürgerschaftliches Engagement schaffen und zeigen, dass sich die Generationen mit ihren Erfahrungen im Miteinander der Starken und Schwachen unserer Gesellschaft etwas zu sagen haben. Deshalb ist das mehr als irgendein Projekt; es ist vielmehr eine Pforte für uns, um zu lernen, in einer sich verändernden Gesellschaft miteinander menschlich zu leben.
Ich habe über die vermeintlich Schwachen gesprochen. Wir wissen, dass sie in Wahrheit oft stark sind und einen unverzichtbaren Beitrag für sich selbst und unser Gemeinwesen leisten können. Dies zu erkennen und auch zu nutzen macht den Wert von Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft aus.
Ich bin davon überzeugt: Wir müssen uns in jeder Generation neu besinnen, was gerecht und was ungerecht ist. Gerecht ist, wenn den Schwachen geholfen wird. Ungerecht ist, wenn sich Starke als Schwache verkleiden und damit die Gemeinschaft ausnutzen.
Ungerecht ist auch, wenn wir Menschen entmündigen und ihnen die Möglichkeit nehmen, ihre eigenen Kräfte zu entdecken. Deshalb brauchen wir eine neue Gerechtigkeit. Jeder von uns kennt in seinem Bekanntenkreis Menschen, denen es wirklich schlecht geht und die unsere Hilfe dringend brauchen. Aber wir alle kennen auch Menschen, die diese Hilfsbereitschaft einfach ausnutzen.
Lassen Sie mich auch an dieser Stelle ganz konkret werden: Diese Regierung bekennt sich ausdrücklich zur Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe. SPD und Union haben diesen Schritt von Anfang an grundsätzlich für richtig gehalten. Das schließt unterschiedliche Auffassungen, zum Beispiel über die Rolle der Kommunen, nicht aus. Aber wir werden diesen Schritt nicht nur gemeinsam gehen, sondern wir werden auch dafür Sorge tragen, dass es in diesem Bereich mehr Gerechtigkeit und weniger Missbrauch geben wird. Deshalb werden wir die Reform der Bundesagentur für Arbeit fortsetzen. Bei der Vermittlungsarbeit sind - das kann mit Recht festgestellt werden - in den letzten Jahren erhebliche Fortschritte erzielt worden. Wir werden auch, wo immer möglich, Arbeit finanzieren statt Nichtarbeit.
Denn Arbeit heißt, wie wir alle wissen, mehr als Einkommen und Geld; Arbeit bedeutet vielmehr Würde und Selbstachtung für die betroffenen Menschen.
Aber nicht immer - auch das gehört zur Wahrheit - wird nur das in Anspruch genommen, was nach Sinn und Zweck den Empfängern gesetzlich zusteht. Deshalb werden wir die Regelungen so ändern, dass Kinder unter 25 Jahren zunächst einmal von ihren Eltern unterhalten werden, bevor die Gemeinschaft eintritt. Solidarität in der Gesellschaft kann keine Einbahnstraße sein. Sie müssen immer bedenken: Das alles wird von den Steuerzahlern bezahlt, die jeden Morgen zur Arbeit gehen und ein Recht darauf haben, dass auch andere ihre Verpflichtungen einhalten.
Mehr Gerechtigkeit in diesem Bereich bedeutet aber auch, dass der Maßstab, das Arbeitslosengeld II einfach in zwei Zonen - Ost und West - aufzuteilen, so nicht trägt. Deshalb wird die so genannte Regelleistung beim Arbeitslosengeld II Ost an die des Westens angeglichen.
Alles in allem haben wir uns in der Arbeitsmarktpolitik vorgenommen, knapp 4 Milliarden Euro einzusparen. Das ist ein anspruchsvolles Ziel, aber es ist ein wichtiger Beitrag zur Haushaltskonsolidierung.
Wir führen - das richte ich an alle Landräte und Kommunalpolitiker - derzeit sehr intensive Gespräche mit den kommunalen Spitzenverbänden und den Ländern, um bei der Revisionsklausel, was die Kosten für die soziale Grundsicherung angeht, noch ein Einvernehmen zu erzielen. Wir werden dabei an dem Ziel, die Kommunen um 2,5 Milliarden Euro zu entlasten, wie wir es versprochen haben, festhalten und das muss auch die Basis für die Verhandlungen über die Jahre 2006 und 2007 sein.
Wir müssen - das wissen wir alle angesichts der kurzen Zeit, in der die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe erst wirkt - den Grundsatz ‚Fördern und Fordern’ umfassend umsetzen. Wir haben heute noch nicht den Zustand erreicht, dass die Menschen, die zum Teil weniger Leistungen bekommen, den Eindruck haben, dass sie wirklich eine zusätzliche Chance erhalten haben. Das muss durchgesetzt werden. Ansonsten wird die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe keine allgemeine Akzeptanz finden.
Wenn wir ein Land sein wollen, in dem wir ein Herz für Schwache haben, dann brauchen wir auch ein Herz für Leistung und auch ein Herz für mehr Leistung. Wir müssen stärker anerkennen, wenn sich Menschen engagieren, wenn sie etwas leisten und wenn sie etwas aufbauen. Diese Menschen verdienen nicht unseren Neid, sondern unsere Dankbarkeit.
Denn mehr Freiheit möglich zu machen heißt: Wir können den Schwachen dann und nur dann etwas abgeben, wenn wir mehr Starke haben, die alle anderen mitziehen.
Die neue Regierung wird sich genau aus diesem Grund in ganz besonderer Weise für den Mittelstand einsetzen; denn dort lassen sich die meisten Quellen der Innovation finden. Dort ist der Jobmotor am wirkungsvollsten und werden die meisten Ausbildungsplätze bereitgestellt.
Wir werden die Wachstumskräfte des Mittelstandes sehr gezielt stärken. Wir wollen zum 1. Januar 2008 eine rechtsformneutrale Unternehmensteuerreform in Kraft setzen, das heißt endlich eine Lösung - das ist in Zeiten der Globalisierung in Deutschland von extremer Bedeutung -, bei der die Personengesellschaften, die Familienbetriebe, die gleichen steuerliche Möglichkeiten haben wie die Körperschaften, wie die ganz Großen. Die Lösung dieser Aufgabe haben wir uns - das sage ich ganz unumwunden - seit zehn Jahren vorgenommen, wo immer wir gemeinsam oder nicht gemeinsam politisch tätig waren. Aber wir haben diese Aufgabe nie gelöst. Deshalb sage ich ausdrücklich: Diese Regierung will diese Aufgabe lösen. Genau dies kann eine Möglichkeit der großen Koalition sein, sich auf die Sache zu konzentrieren, damit wir nicht im parteipolitischen Hickhack aneinander geraten.
Für die Übergangszeit, in der wir die Rechtsformneutralität noch nicht erreicht haben, wollen wir die Abschreibungsmöglichkeiten befristet verbessern. Wir wollen durch die Verbesserung der Istbesteuerung einen kleinen Beitrag zur Entlastung des Mittelstandes leisten, der durch die 13. Beitragserhebung im kommenden Jahr stärker belastet wird. Wir wollen des Weiteren - das halte ich für ausgesprochen wichtig; das ist ein klares Signal - eine reduzierte Erbschaftsteuer für Familienbetriebe; das ist ein ganz wichtiger Punkt. Das sind drei Dinge, die wir für den Mittelstand tun.
Meiner Meinung nach können wir am meisten beim Bürokratieabbau leisten. Wir wissen, dass kleine und mittlere Unternehmen etwa vier bis sechs Prozent ihres Umsatzes nur für die Deckung von Bürokratiekosten ausgeben. Wir werden uns das genau anschauen und erst einmal lernen, Bürokratiekosten zu berechnen und zu bemessen. Wir nehmen uns klare Reduktionsziele vor. Andere Länder, zum Beispiel die Niederlande oder Großbritannien, haben uns das schon vorgemacht. Wir machen einen Small-Companies-Act, wie das auf Neudeutsch heißt, also ein Gesetz für kleine Unternehmen, das ganz konkret zu weniger Kontroll- und Überprüfungspflichten, einfacheren Formularen und nicht dauernd zu neuen Statistiken führt. Dann haben wir für den Mittelstand in Deutschland wirklich etwas erreicht. Dies wird eine ganz besonders wichtige Aufgabe sein, deren Lösung wir vom Kanzleramt aus steuern werden.
Wir haben uns vorgenommen, die EU-Richtlinien im Grundsatz nur noch eins zu eins umzusetzen.
Ich halte das für ausgesprochen wichtig. Ich weiß, dass das Gegenstand vieler politischer Debatten und Entscheidungen war. Jeder muss in diesem Land begreifen: Wenn wir uns zusätzlich zu dem, was wir in Europa vereinbaren - das ist oft schon bürokratisch genug; das muss ich leider sagen -, Lasten aufbürden, dann haben wir gegenüber unseren europäischen Mitbewerbern keine fairen Chancen. Wir wollen aber bei aller Freundschaft zu allen anderen Ländern, dass in Deutschland Arbeitsplätze entstehen. Das ist die Aufgabe einer Bundesregierung. Dafür müssen wir sorgen.
Das heißt also, dass wir eine Politik mit einem Grundverständnis machen werden, das darauf beruht, dass die Vorschriften, die wir machen, für die Menschen da sind und nicht die Menschen zur Erfüllung der Vorschriften. So können wir den Starken im Lande wieder helfen und dann auch den Schwachen in diesem Lande. Das muss unser Grundverständnis sein. Daran müssen wir alles prüfen. Das hat gar nichts mit Ideologie zu tun, sondern mit ganz praktischem menschlichem Sachverstand.
Ich bin davon überzeugt, dass uns das gelingen kann. Es gibt viele tüchtige Vorbilder. Ich habe vor einigen Wochen etwas sehr selbstverständliches gesagt. Ich habe gesagt: Ich will Deutschland dienen. - Ich kenne viele Menschen, die dem Land, anderen Menschen und der Gemeinschaft dienen - selbstlos und ohne dass davon groß Notiz genommen wird. Diese Menschen müssen unser Vorbild, das Vorbild für diese Bundesregierung sein. Die Anerkennung des Nächsten in der Gemeinde, im Wohngebiet, in der Schule oder im Betrieb - das alles hat etwas damit zu tun, ob wir das schaffen, was wir oft eine lebendige Bürgergesellschaft nennen. Das ehrenamtliche Engagement ist ein unersetzbarer Bestandteil dieser Bürgergesellschaft. Wo immer es geht, wollen wir dieses ehrenamtliche Engagement stärken. Genau das, was viele Menschen in ungezählten Kultur-, Musik- und Gesangvereinen in ihrer Freizeit tun, hält unsere Gesellschaft zusammen. Bei allen Rechtsansprüchen, die wir uns durch Gesetze setzen, müssen wir immer bedenken, dass noch ausreichend Spielraum genau für dieses ehrenamtliche Engagement bleibt. Ansonsten geht unserer Gesellschaft ganz Wesentliches verloren. Ich zumindest bin davon zutiefst überzeugt.
Unsere Kultur ist die Grundlage unseres Zusammenhaltes. Deshalb ist Kulturförderung für diese Bundesregierung keine Subvention. Dieser Begriff - ich sage das ausdrücklich - verbietet sich an dieser Stelle. Sie ist eine Investition, und zwar eine Investition in ein lebenswertes Deutschland.
Natürlich regelt unsere Verfassung die Förderung von Kunst und Kultur. Sie ist primär den Ländern zugeordnet. Das wissen wir. Aber ich sage ebenso deutlich, dass der Bund auch in Zukunft eine Reihe ganz wichtiger Kulturaufgaben wahrnehmen wird.
Deutschland - und nicht nur die Summe der 16 Bundesländer - ist schließlich eine europäische Kulturnation.
Diese Bundesregierung - das hat etwas mit unserem historischem Verständnis zu tun - wird wie die Regierung zuvor auch einen Beitrag zum Erhalt des kulturellen Erbes der Vertriebenen leisten. Wir wollen im Geiste der Versöhnung auch in Berlin ein sichtbares Zeichen setzen, um an das Unrecht der Vertreibung zu erinnern, und wir werden dies im europäischen Kontext tun. Aus meiner Sicht bietet die gemeinsame Erklärung der Präsidenten Rau und Kwásniewski eine gute Grundlage dafür, dass wir einen gemeinsamen und nicht einen trennenden Weg finden werden. Ich sage hier sehr persönlich: Auf meinen Reisen, die ich in die entsprechenden Länder mache, werde ich mich sehr dafür einsetzen, dass uns dies gelingt. Das hat etwas mit unserem eigenen historischen Selbstverständnis zu tun. Es hat aber auch etwas mit dem Vertrauen anderer in uns zu tun. Deshalb muss beides zusammengebracht werden. Ich bin der Überzeugung: Das geht und das können wir schaffen.
Meine Regierung ist Anwalt aller Deutschen wie aller in Deutschland lebenden Mitbürgerinnen und Mitbürger. Wir werden deswegen mit allem Nachdruck, wo immer es erforderlich ist, gegen jede Form von Extremismus, Rassismus und Antisemitismus kämpfen.
Die Initiativen der Bürgergesellschaft, die sich hier engagieren, haben unsere volle Unterstützung. Wir sind ein tolerantes, wir sind ein weltoffenes Land. Deutschland ist zugleich ein Land, das seine Traditionen und seine Kultur pflegt. Das eine kann es ohne das andere nicht geben; denn Heimat gibt gerade in Zeiten des sehr schnellen Wandels, in denen wir leben, den Halt, den die Menschen brauchen, jedem Einzelnen und unserem Land als Ganzem. Deshalb haben wir nicht ohne Grund unserem Koalitionsvertrag den Titel ‚Gemeinsam für Deutschland’ gegeben. Parallelgesellschaften, in denen die grundlegenden Werte des Zusammenlebens in unserem Land nicht geachtet werden, passen nicht in dieses Denken.
Deshalb ist Integration eine Schlüsselaufgabe unserer Zeit. Mit der Ansiedelung der Beauftragten für Migration, Flüchtlinge und Integration im Kanzleramt habe ich sehr bewusst ein Signal gesetzt, dass dies eine gesamtpolitische Aufgabe ist, der wir große Beachtung schenken wollen.
Ich bin der Überzeugung, dass Integration nur gelingen kann, wenn ausländische Kinder konsequent dazu gebracht werden und auch die Möglichkeit haben, Deutsch zu lernen. Wir werden deshalb gerade in den Schulen das Erlernen der deutschen Sprache fördern. Besser gesagt, wir werden die Länder in ihrem Bemühen unterstützen, dass Kinder nur dann in die Schule kommen dürfen, wenn sie der deutschen Sprache mächtig sind. Ansonsten haben sie vom ersten Schultag an nicht die Chancen, die wir ihnen geben müssen, um auch ihnen ein gutes Leben in unserem Land zu ermöglichen.
Wir brauchen einen Dialog mit dem Islam. Wir müssen einander verstehen lernen; das gehört dazu. Wir müssen im Übrigen darauf achten, dass wir unsere eigene Religion, das Christentum, ausreichend verstehen, soweit wir Christen sind - das gilt auch für andere, die anderen Religionen anhängen -; denn einen Dialog der Kulturen kann man nur führen, wenn man sich seiner eigenen Kultur auch wirklich bewusst ist.
Wir werden das offen und ehrlich tun. Wir werden vor allen Dingen Differenzen eindeutig benennen, wo immer sie auftreten.
Deshalb sage ich an dieser Stelle ganz ausdrücklich - ich sage dies auch als Frau -: Zwangsverheiratungen oder Ehrenmorde - beides schreckliche Begriffe - haben nichts, aber auch gar nichts mit Ehre zu tun und sie haben auch gar nichts in unserer Gesellschaft zu suchen.
Wir können sie nicht dulden, wir wollen sie nicht dulden. Wir werden das deutlich machen.
Sicher kann jeder von uns selbst etwas für unsere Gemeinschaft tun. Vieles kann von dem Einzelnen besser als vom Staat erreicht werden. Aber der Einzelne hat ein Anrecht darauf, dass der Staat auch ihn in die Lage versetzt, seine eigenen Kräfte zu entfalten. Viele Menschen werden heute - das müssen wir ganz klar sehen - an ihrem Einsatz, am Einbringen ihrer Möglichkeiten gehindert, weil das größte Problem, mit dem unser Land zu kämpfen hat - die Arbeitslosigkeit -, nicht ausreichend gelöst ist. Wir haben die höchste Zahl an Langzeitarbeitslosen, die die Bundesrepublik Deutschland je erlebt hat, und das muss sich wieder ändern.
Im Übrigen werden wir von den Menschen als Regierung und als die diese Regierung tragenden Fraktionen zum Schluss an genau dieser Frage gemessen werden: Haben wir hier etwas erreicht oder haben wir nichts erreicht? Diesem Anspruch wollen wir uns auch stellen. Ich sage ganz ausdrücklich: Das muss unser Ziel sein.
Wir wissen, dass die Politik keine Arbeitsplätze schaffen kann; aber sie kann Rahmenbedingungen stellen. Wir haben sehr viel über diese Rahmenbedingungen gesprochen. Wir wissen, dass damit zusammenhängt, dass Menschen in Würde leben können. Deshalb haben wir uns einiges vorgenommen.
Erstens. Seit über drei Jahrzehnten steigen die gesetzlichen Lohnzusatzkosten bzw. verharren auf einem internationalen Höchstniveau. Wir wollen das ändern; deshalb wollen wir die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung um 2 Prozentpunkte senken. Einen Prozentpunkt sollen Strukturmaßnahmen innerhalb der Bundesagentur für Arbeit erbringen. Ein weiterer Prozentpunkt soll durch den Einsatz eines Punktes Mehrwertsteuer finanziert werden. Es ist im Übrigen erfreulich, dass die Länder an dieser Stelle auf ihren Anteil an der Mehrwertsteuer verzichten werden.
Wir wollen die Lohnzusatzkosten in dieser Legislaturperiode dauerhaft unter 40 Prozent halten.
Zweitens. Deutschland muss den Wandel zu einer modernen Dienstleistungsgesellschaft schaffen. Wir werden deshalb die privaten Haushalte im Grundsatz als Arbeitgeber anerkennen. Jeder, der den politischen Streit der vergangenen Jahrzehnte verfolgt hat, weiß, dass hier eine lange ideologische Auseinandersetzung zu Ende geht. Wir werden sowohl für die Abrechnung von Handwerkerleistungen als auch für die Frage der Kinderbetreuung als auch für andere haushaltsnahen Dienstleistungen den Haushalt als Arbeitgeber installieren. Das wird ein Umdenken in Richtung einer Dienstleistungsgesellschaft in Deutschland bedeuten. Ich finde das richtig, ich finde das erfreulich. Lassen Sie uns das Ganze mit Freude angehen.
Drittens. Wir wissen, dass gerade gering Qualifizierte in unserem Land unglaubliche Schwierigkeiten haben, eine Beschäftigung, und zwar zu regulären Löhnen, zu finden. Es geht hierbei nicht um irgendeine Statistik der Bundesagentur für Arbeit, sondern es geht um etwa 2 Millionen Menschen in unserem Land, für die wir uns Gedanken über die Frage machen müssen: In welcher Art und Weise können wir diese Menschen wieder in Lohn und Brot bringen? Deshalb werden wir das Thema Kombilohn im Niedriglohnsektor aufgreifen. Wir werden uns darum bemühen, genau an dieser Stelle eine Lösung zu finden, bei der eine Lohnleistung durch eine staatliche Leistung ergänzt wird.
Wir wissen, dass das Fragen berührt - wir haben das auch in unserem Koalitionsvertrag niedergelegt - wie Entsendegesetz, Mindestlohn, Auswirkungen der EU-Dienstleistungsrichtlinie. Das gehört zu den kompliziertesten Themen. Aber ich habe in den Koalitionsverhandlungen gespürt, dass der Wille da ist, diese 2 Millionen Menschen nicht einfach zu vergessen, sondern sich um vernünftige Lösungen zu bemühen. Dafür lohnt es sich auch, in den nächsten Monaten zu arbeiten.
Viertens. Wir werden moderate Reformen im Bereich des Arbeitsrechts durchführen. Wir müssen immer wieder schauen: Wo sind Hürden, die Menschen den Weg in die Arbeitswelt versperren? Wir müssen lernen, dies möglichst vorurteilsfrei zu betrachten. Deshalb bin ich sehr dankbar dafür, dass es uns gelungen ist, beim Kündigungsschutz die Wartezeit von bis zu 24 Monaten einzuführen, das heißt, Kündigungsschutz gilt dann erst nach 24 Monaten. Ich glaube, dass das für kleine Betriebe bessere Möglichkeiten bietet, Menschen einzustellen und ein Wagnis einzugehen, sodass nicht die Menschen an dieser Stelle sozusagen draußen gelassen werden.
Ich höre schon das Gegrummel. - Wir können natürlich so weitermachen. Wir können so tun, als ob bestehende Sicherheiten wirklich Sicherheit bieten. Wir können aber auch einfach einmal fragen, ob wir das, was andere Länder mit guten Erfahrungen machen, nicht auch tun sollten. Wir können doch das, was wir hören, wenn wir bei unserer Abgeordnetentätigkeit im Wahlkreis den Handwerksmeister fragen: ‚Warum lassen Sie Ihre Leute Überstunden machen? Warum stellen Sie nicht einen zusätzlich ein?’, einfach einmal bedenken und neue Wege gehen. Nach ein paar Jahren können wir schauen, ob es sich bewährt hat oder nicht und ob wir daraus Erfolge machen können. Wir sind das den Menschen in diesem Lande schuldig. Bei über 4 Millionen Arbeitslosen muss man auch einmal neue Wege gehen. Ich zumindest bin davon völlig überzeugt.
Fünftens. Wir werden den Nationalen Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs weiterführen. Ich möchte mich hier ausdrücklich dafür bedanken, dass die Wirtschaft, insbesondere das Handwerk und die Kammern, hierzu einen riesigen Beitrag geleistet haben. Wir gehen davon aus, dass wir weiterhin in jedem Jahr 30000 neue Ausbildungsplätze brauchen. Wir müssen uns auch ganz intensiv der Tatsache annehmen, dass viele junge Leute nicht ausbildungsfähig sind, wenn sie von der Schule kommen. Das erfordert ein enges Zusammenwirken von Bund und Ländern an dieser Stelle; denn man kann sich nicht damit abfinden, dass teure Schulausbildung nicht zur Ausbildungsfähigkeit der jungen Menschen führt.
In der Frage der betrieblichen Bündnisse - jeder weiß, dass wir darüber im Wahlkampf sehr unterschiedlicher Meinung waren und es auch weiter sind; das gehört zur Wahrheit dazu - müssen wir weiterhin schauen, wie wir im Rahmen der Tarifautonomie - ich betone ausdrücklich, dass niemand in dieser Koalition die Tarifautonomie infrage stellt - ein höheres Maß an Flexibilität erreichen. Ich will ausdrücklich sagen: Es geschieht einiges bei den Gewerkschaften. Unser ganzes Tun sollte darauf gerichtet sein, Gewerkschaften zu ermuntern, da, wo das heute noch nicht geschieht, weiterzugehen und mehr Flexibilität zu schaffen. Die Erfahrungen von denen, die das getan haben, sind positiv. Genau dieser Weg muss von uns weiter gegangen werden oder es müssen zunächst Gespräche darüber geführt werden.
Die beste Reform des Arbeitsmarkts hilft wenig - auch das wissen wir -, wenn wir uns nicht auf eines besinnen, nämlich auf das, was uns als Land - ich habe das am Anfang gesagt - immer wieder stark gemacht hat: Das sind Bildung und Innovation. Sie sind mehr denn je der Rohstoff unseres Landes, der Rohstoff der Deutschen. Wir wissen: Wir müssen besser sein als andere, und zwar immer so viel besser, wie wir teurer sind. Wir wollen teurer sein, weil wir unseren Wohlstand erhalten wollen. Deshalb ist unser Ziel nicht, im Wettbewerb um die niedrigsten Löhne mitzuhalten; das können wir nicht. Vielmehr müssen wir besser sein als andere und Bildung nach vorn bringen. Herkunft darf in diesem Land nicht die Zukunft der jungen Menschen bestimmen. Das muss unser Anspruch sein.
Meine Damen und Herren, an guten Traditionen mangelt es nicht, weder bei unserer Schulbildung, wie man an ihrem Ruf erkennt, noch bei der Berufsbildung. Das System der dualen Berufsausbildung ist fast so bedeutend wie ‚Made in Germany’ bei der Produktherstellung. ‚Trained in Germany’ könnte wieder ein Markenzeichen von uns werden. Wir wissen aber auch, weil es uns die PISA-Studie vor Augen geführt hat: Wir sind nicht so Spitze, wie wir es eigentlich gerne wären. An der zweiten PISA-Studie zeigt sich allerdings, dass, wenn sich Länder anstrengen - ich nenne als Beispiel das Land Sachsen-Anhalt -, innerhalb von wenigen Jahren ein deutlicher Fortschritt erreicht werden kann. Wir wissen ja an vielen Stellen, wo die Probleme liegen. Es ist wichtig, dass wir die Bildungschancen verbessern. Deshalb hat der Bund einmalig - wir werden das fortsetzen - ein Programm zum Ausbau von Ganztagsschulen aufgelegt, damit wir auch in diesem Bereich besser vorankommen. Ich hoffe, dass das nach der Föderalismusreform von den Ländern in entsprechender Weise fortgesetzt wird.
Ich sage das mit großem Ernst: Ich glaube, noch nie hat ein Koalitionsvertrag in Deutschland so sehr auf Innovation und Technologiefreundlichkeit in Zukunftsbranchen gesetzt. Die finanzielle Ausstattung für die nächsten Jahre, das Ziel, die Ausgaben für Forschung, Technologie und Entwicklung bis zum Jahr 2010 auf 3 Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen, wozu der Staat mit 1 Prozent seinen Beitrag leisten wird, zeigt deutlich: Diese Verpflichtung sucht ihresgleichen. Wir werden sie ganz strikt umsetzen. Dabei wollen wir vor allen Dingen darauf achten, dass das Geld in Wissenschaft und Technik sinnvoll eingesetzt wird. Der Staat darf nicht glauben, er wisse selber, was da am besten zu tun sei, sondern wir müssen die Begutachtung durch die Wissenschaftsorganisationen in den Vordergrund rücken. Wir müssen auf die Freiheit der Entwicklungsmöglichkeiten in der Nano-, Bio- und Informationstechnologie setzen. Wir müssen auch auf Leuchtturmprojekte setzen, mit denen wir in der Welt beweisen können, auf welchen Gebieten wir vorne sind. Ich nenne als Beispiele hoch effiziente Kraftwerke, die elektronische Gesundheitskarte, die Weiterentwicklung der Brennstoffzelle und - darüber haben wir lange genug gesprochen - den Aufbau einer Transrapidreferenzstrecke. Es wäre schön, wenn es auch an dieser Stelle weiterginge.
Wir haben in der Koalitionsvereinbarung auch einige heiße Eisen angepackt. Wir werden noch einmal das Regelwerk für die Grüne Gentechnologie überarbeiten und wir werden bessere Möglichkeiten für unsere chemische Industrie schaffen. Der Herr Bundesumweltminister hatte gestern das Vergnügen, in Brüssel genau darüber zu verhandeln. Wir werden die Initiative ‚Partner für Innovation’ fortführen. Ich persönlich werde einen Rat für Innovation und Wachstum, über den ich schon vor einigen Monaten gesprochen habe, einrichten, weil ich glaube, dass die Tatsache - dessen muss sich die Politik im gesamten Hause bewusst sein -, dass sich das Wissen auf der Welt innerhalb von vier Jahren verdoppelt, bei uns mental noch nicht ausreichend wahrgenommen wird. Wir alle - das gilt auch für mich persönlich - haben an vielen Stellen Mühe, die technischen Entwicklungen so zu verstehen, dass wir in der Lage wären, zu erkennen, welche rechtlichen Rahmenbedingungen wir schaffen müssen. Wir sollten so ehrlich sein, das zuzugeben, und im Dialog mit den Wissenschaftlern und Entwicklern von diesen lernen.
Meine Damen und Herren, wir wissen: Als modernes Industrieland, als Dienstleistungsgesellschaft, als Wissensgesellschaft werden wir nicht bestehen können, wenn wir nicht ein modernes Infrastrukturland sind. Das hat auch etwas mit unseren Verkehrsnetzen zu tun. Wir werden in den nächsten vier Jahren 4,3 Milliarden Euro mehr für Verkehrsinfrastrukturprojekte ausgeben. Wir werden die rechtlichen Rahmenbedingungen ändern. Wir werden nicht nur, wie das in der Vergangenheit der Fall war, das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz für die neuen Bundesländer weiterführen, sondern für ganz Deutschland ein umfassendes Planungsbeschleunigungsgesetz auf den Weg bringen. Das wird schwierige Beratungen erfordern. Aber wenn man sieht, wie europäische Mittel zum Beispiel in Spanien in Windeseile verbaut werden, während wir Menschen um Arbeitschancen bringen, weil wir für bestimmte Infrastrukturprojekte Jahrzehnte brauchen, dann kann ich nur sagen: Wir sind es den Menschen in diesem Lande schuldig, dass wir uns an dieser Stelle anstrengen und schauen, wie wir hier schneller vorankommen können.
Wir wissen, dass die Wettbewerbs- und Zukunftsfähigkeit unseres Landes ohne eine zukunftsweisende Energiepolitik nicht denkbar ist. Wir haben unterschiedliche Auffassungen über die Nutzung der Kernenergie. Aber wir haben uns - das finde ich wichtig - auf eine Gesamtstrategie in der Energiepolitik sowie darauf geeinigt, dass wir uns über den Energiemix Gedanken machen.
Das heißt natürlich auch, dass wir ein deutliches Plädoyer für erneuerbare Energien abgeben. Wir werden das Erneuerbare-Energien-Gesetz in der Grundstruktur fortführen, aber wir werden - auch das gehört zur Ehrlichkeit gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern - die wirtschaftliche Effizienz der einzelnen Vergütungen bis 2007 überprüfen. Wir werden schauen, was grundlastfähig ist und wohin das Geld gehen muss. Ich glaube, wir werden das in guter Gemeinsamkeit schaffen. Ziel ist ein energiepolitisches Gesamtkonzept mit einem ausgewogenen Energiemix.
Ich werde Anfang des Jahres zu einem nationalen Energiegipfel einladen, um einmal alle Beteiligten an einen Tisch zu bekommen. Die Probleme müssen auf den Tisch gelegt werden. Denn wir wissen, es gibt auch unter den verschiedenen Anbietern vielerlei Widersprüche.
Wir werden ein sehr anspruchsvolles Programm zur energetischen Gebäudesanierung auflegen. Dieses Programm wird nicht nur der Bauwirtschaft neue Impulse geben - das ist der eine Aspekt -, sondern es wird auch - davon bin ich zutiefst überzeugt - dem einzelnen Bürger deutlich machen, welchen Beitrag er zur verbesserten Effizienz bei der Energieversorgung, also auch bei der Reduktion von Kohlendioxidemissionen, leisten kann. Wir haben uns bis jetzt viel zu viel auf die Industrie konzentriert. Es ist gut, dass wir jetzt auch den privaten Bereich hinzunehmen.
Wir werden die Regeln für den Emissionshandel überarbeiten. Ich sage ausdrücklich, dass dieser ein gutes Instrument ist. Aber wir werden in der zweiten Phase, also ab 2008, schauen müssen, dass die Anreize für die Modernisierung unseres Kraftwerksparks erhalten bleiben. Wir werden dafür sorgen müssen, dass die energieintensive Industrie nicht aus Deutschland abwandert und dass wirtschaftliches Wachstum weiter möglich ist.
Ich werde - das sage ich auch in Richtung des Umweltministers - auf meinen Auslandsreisen sehr bewusst die Klimaschutzprojekte, die nach dem Kiotoprotokoll gerade für die Entwicklungsländer von außerordentlicher Bedeutung sind, als technologisches Know-how der Bundesrepublik Deutschland propagieren. Technologieexport und Klimaschutz liegen heute ganz eng beieinander. Ich glaube, hier können wir unsere Rolle als Exportweltmeister deutlich machen.
An einer Stelle ist der Knoten im Grunde schon durchgeschlagen worden, bevor die große Koalition ihre Arbeit aufgenommen hat: das ist die Föderalismusreform, also die Neuordnung unseres föderalen Staatsaufbaus, die allerdings noch umgesetzt werden muss. Ich glaube, diese Reform ist zum einen gegenüber unseren Bürgerinnen und Bürgern wichtig. Denn sie können dann wieder besser verstehen, wo die Verantwortlichkeiten liegen, wer für was verantwortlich ist. Sie ist zum anderen aber auch im internationalen Wettbewerb notwendig, um schnellere Entscheidungsmechanismen durchzusetzen. An einem entsprechenden Mangel leiden wir heute. Föderalismus darf keine Bremse, sondern Föderalismus muss ein Mehrgewinn für den Standort Deutschland sein. Genau das wollen wir durchsetzen.
Wir werden in Absprache mit den Freien Demokraten einen weiteren Schritt gehen. Wir werden im nächsten Jahr prüfen, wie auch die Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern grundsätzlich neu geordnet werden können. Denn - auch das gehört zur Wahrheit - eine Föderalismusreform ohne die Neuordnung der Finanzbeziehungen ist zwar ein erster wichtiger, aber noch kein endgültiger Schritt.
Ich weiß, dass dies schwer ist. Aber lassen Sie uns solche anspruchsvollen Aufgaben angehen.
Wir wissen: Ohne einen Fortschritt beim Aufbau Ost wird es kein gesundes Wachstum in ganz Deutschland geben. Wir brauchen dieses Wachstum für das innere Gleichgewicht unseres Landes. Deshalb müssen wir die hohe Arbeitslosigkeit und vor allen Dingen die Abwanderung aus den neuen Bundesländern stoppen und hier das Notwendige tun. Das heißt, wir müssen den neuen Ländern, wo immer es möglich ist - europarechtlich und auf anderen Gebieten -, mehr Freiheiten geben, Freiheiten, um mit den Geldern, die im Zusammenhang mit dem Solidarpakt II zur Verfügung gestellt werden, möglichst viele sinnvolle Investitionen zu tätigen. Das ist die Voraussetzung dafür, dass wir auch in den neuen Bundesländern vorankommen.
Mehr Freiheit möglich machen für neue Gerechtigkeit: All diese Neuausrichtungen vom Arbeitsmarkt bis zum Aufbau Ost gehören zusammen. Sie dienen einem langfristigen Ziel: Wir wollen Deutschland stärken und wieder zum Motor in Europa machen. Die Gestaltung dieses Wandels, den wir dringend brauchen, ist ohne Vertrauen und ohne das Bewusstsein, dass sich die Menschen auf die Politik verlassen können, undenkbar. Deshalb ist einer dieser Vertrauensbeweise gegenüber den Menschen eine solide Finanzpolitik, eine gute, solide Situation bei unseren Staatsfinanzen.
Meine Damen und Herren, wir brauchen dazu einen Wandel, einen Kurswechsel in der Haushaltspolitik. Ich sage ganz ausdrücklich: Die Ursachen, die Anfänge dieser Fehlentwicklung liegen weit zurück. Die lassen sich im Übrigen ganz gut bei der ersten großen Koalition verorten.
Da können Sie noch klatschen. - Deshalb wäre es schön, wenn die zweite große Koalition diesen Kurswechsel schafft. Wir haben die Weichen dafür sehr gut und entschlossen gestellt.
Wir brauchen eine langfristige Konsolidierungsstrategie. Dabei hat für uns das Reformieren und Investieren zeitlichen Vorrang. Wir haben die Abfolge der Schritte unseres politischen Handelns sehr gut vereinbart. Am Ende wird aus diesem politischen Konzept ein Dreiklang: sanieren, reformieren, investieren.
Wir werden durch einen Zukunftsfonds in Höhe von 25 Milliarden Euro Investitionen in Schwerpunktbereiche über die Legislaturperiode möglich machen. Ich habe den Bereich Mittelstand genannt. Ich nenne weiterhin die Verkehrsinfrastruktur, Forschung und Technologie, die Förderung des Haushalts als Arbeitgeber und die Förderung von Familien. Dies sind fünf Projektbereiche, bei denen die Menschen sehen: Wir können Schwerpunkte setzen; wir sind entschlossen, etwas zu investieren.
Aber ohne eine Sanierung der Haushalte kommen wir natürlich nicht zurande. Deshalb umfasst unsere Haushaltskonsolidierung, dass wir einerseits - ich habe darüber gesprochen - die Arbeitsmarktkosten reduzieren. Wir werden die Zuschüsse an die sozialen Sicherungssysteme begrenzen. Dies wird eine schwierige Aufgabe, die nur zu schaffen ist, wenn wir Strukturreformen durchführen.
Andererseits wird die öffentliche Verwaltung einen substanziellen Solidarbeitrag dazu leisten. Ich nenne die Größe von 1 Milliarde Euro, die der Bund im öffentlichen Bereich einsparen wird. Wir merken schon jetzt, dass wir über die Details sicherlich noch lange zu diskutieren haben werden. Aber es bleibt die Verpflichtung, 1 Milliarde Euro einzusparen. Auch wir als Politiker werden dazu unseren Beitrag leisten.
Wir werden Steuerförderungstatbestände reduzieren; wir haben damit gestern im Kabinett begonnen. Wir werden ab 2007 den Spitzensteuersatz für nicht gewerbliche - ich betone: nicht gewerbliche - sehr hohe Einkommen auf 45 Prozent erhöhen.
Ich will nicht verhehlen: Die für uns alle schwierigste Entscheidung war die Erhöhung des Mehrwertsteuersatzes um 3 Prozentpunkte ab 2007. Umso wichtiger ist es, dass zum einen 1 Prozentpunkt für die Senkung der Lohnzusatzkosten eingesetzt wird, um Arbeitsplätze wettbewerbsfähiger zu machen, und dass zum anderen der niedrige Mehrwertsteuersatz von 7 Prozent für Lebensmittel, den öffentlichen Personennahverkehr und Kulturgüter erhalten bleibt. Auch darüber haben wir uns viele Gedanken gemacht und dann diesen Entschluss gefasst.
Meine Damen und Herren, ich sage ausdrücklich: Ich und wir alle wissen, dass für viele Menschen die Entscheidung, die Mehrwertsteuer zu erhöhen, und die weiteren Konsolidierungspläne in Bezug auf unseren Haushalt tief greifende Einschnitte bedeuten. Wir wissen, dass wir den Menschen an dieser Stelle viel abverlangen. Wir wissen auch, dass die Bürgerinnen und Bürger deshalb eine Gegenleistung erwarten können.
Diese Gegenleistung liegt für mich auf der Hand: Wenn wir solide Staatsfinanzen schaffen, dann beenden wir das Leben von der Substanz. Zur Generationengerechtigkeit gehört auch, dass wir die Augen nicht davor verschließen dürfen, dass wir mit allen Schulden, die wir neu machen, zukünftigen Generationen Spielräume rauben. Wer ernsthaft von Nachhaltigkeit spricht, muss sich diesem Problem widmen. Das hat nichts damit zu tun, dass wir in Europa einen Stabilitäts- und Wachstumspakt haben, den wir natürlich auch erfüllen wollen. Das hat etwas mit dem moralischen Anspruch unserer Politik, generationengerecht zu sein, und der Ernsthaftigkeit zu tun. Deshalb werden wir das entschlossen umsetzen.
Deutschland ist Exportweltmeister. Deutschland muss sich, wenn es Exportweltmeister bleiben will, dem freien Welthandel öffnen, auch wenn das in vielen Bereichen schwer fällt. Nach einer Regierungswoche kann ich sagen, dass wir bereits einen ersten Erfolg errungen haben. Wir haben am Beispiel der Zuckermarktordnung innerhalb der Europäischen Union gezeigt - Ja, Frau Künast, das geht auch ohne Sie. Es ist sogar so, Frau Künast, dass Herr Sonnleitner dies lobt und es trotzdem gut ist für die WTO-Verhandlung. Das ist das Erstaunliche. Wir sind gut vorbereitet auf die WTO-Verhandlung, die wir noch im Dezember zu führen haben. Ich sage ausdrücklich: Ein Gegeneinander von moderner Landwirtschaft und Verbraucherschutz gehört mit dieser Regierung der Vergangenheit an. Das soll unser Markenzeichen sein.
Unser Motto in Bezug auf den Verbraucherschutz lautet: Null Toleranz gegenüber denjenigen, die das Vertrauen der Verbraucher mit Füßen treten. Deshalb darf uns der Skandal, das Handeln mit verdorbenem Fleisch, so lange nicht ruhen lassen, bis wir an dieser Stelle alle Schwachstellen beseitigt haben. Ansonsten wird es für die deutsche Lebensmittelwirtschaft ganz schwierig.
Meine Damen und Herren, Sie sehen an all dem, was ich aufgeführt habe, dass wir uns viel vorgenommen haben. Wir sind auch ganz sicher, dass viel möglich ist. Wir haben uns viel vorgenommen, weil wir wissen, dass wir wirtschaftlich wieder stark werden können und dann auch das leben können, was die soziale Marktwirtschaft in unserem Land groß gemacht hat. Dann können wir nämlich den Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital weiter ausgleichen und denen helfen, die sich heute noch auf der Schattenseite des Lebens befinden.
Wir können dann aber auch noch etwas anderes schaffen: Wir können wieder ein starker Partner in Europa und in der Welt werden. Deutsche Außen- und Europapolitik gründet sich auf Werte und sie ist Interessenpolitik. Eine Politik in deutschem Interesse setzt auf Bündnisse und Kooperationen mit unseren Partnern. Ich weiß, dass unsere Partner große Erwartungen an uns richten. Das haben ich und auch der Außenminister in den ersten Tagen unserer Tätigkeit bei unseren Besuchen in Paris, Brüssel, London und vielen anderen Ländern der Europäischen Union ganz deutlich gespürt. Die Erwartungen an Deutschland in diesem Bereich sind so immens, weil sich Europa im Augenblick in einer tiefen Krise befindet. Im Kern gründet diese Krise - das ist meine Überzeugung - auf fehlendem gegenseitigen Vertrauen. Es gab schwere Rückschläge bezüglich des Verfassungsvertrages. Hinsichtlich der Finanzen der Europäischen Union gibt es starke Interessenkonflikte zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten. Der Lissabon-Prozess, der Prozess, Europa zum dynamischsten Kontinent der Welt zu machen, ist bei weitem nicht so vorangekommen, wie er hätte vorankommen müssen. Im Fortgang der Erweiterung der Europäischen Union stellen sich drängende Grundsatzfragen: Wie weit reicht Europa? Was ist Sinn und Zweck der europäischen Einigung?
Ich glaube, es hat keinen Sinn, um diese Krise herumzureden, auch heute nicht. Es kommt vielmehr darauf an, sie zu meistern. Wir können sie aber nur gemeinsam mit unseren Nachbarn, mit unseren Partnern meistern, und zwar den großen und den kleinen. Ich glaube, dass Deutschlands Aufgabe auch aufgrund seiner geografischen Lage darin bestehen sollte, Mittler und ausgleichender Faktor zu sein. Genau dies werden der Außenminister und ich am Freitag praktizieren, wenn wir nach Polen reisen, zu unserem zweiten großen Nachbarn.
Ich weiß, dass auf dem Dezembergipfel der Europäischen Union große Aufgaben lasten, dass große Erwartungen daran gestellt werden. Wir werden im Zusammenhang mit der finanziellen Vorausschau natürlich für eine Lösung eintreten, die im gesamteuropäischen Interesse liegt und nicht gleich dem Revisionszwang ausgesetzt ist. Deutschland ist - das sage ich ausdrücklich - zu einem vernünftigen Kompromiss bereit und wird dazu auch seinen Beitrag leisten. Klar ist aber auch, dass wir als neue Bundesregierung die deutschen Interessen mit allem Nachdruck vertreten werden. Das heißt: Eine finanzielle Überforderung kann es angesichts unserer Haushaltslage, angesichts unserer eigenen Probleme nicht geben. Auch das haben wir allen Partnern gesagt.
Europa hat sich mit den Lissabon-Verabredungen weit reichende Ziele gesetzt. Wir brauchen einen Erfolg und wir brauchen diesen Erfolg, indem wir Reformen durchführen. Hier bündeln sich im Übrigen unsere innenpolitischen Anstrengungen mit dem, was in Europa stattfindet. Ich will ausdrücklich sagen - wir haben das in diesem Hause viel zu wenig beachtet -: Die jetzige Kommission und auch gerade der deutsche Kommissar Günter Verheugen haben in der Europäischen Union etwas gemacht, was es seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben hat - ich sage: eigentlich noch nie -: Sie haben sich Richtlinien angeschaut und haben gefragt: Sind die noch notwendig? Brauchen wir bestimmte neue Projekte oder sind sie für den Lissabon-Prozess, also für eine dynamische Entwicklung, schädlich? Es handelt sich um über 60 Richtlinien, die damit erst einmal vom Tisch sind oder die verändert werden. Ich bin dafür ausgesprochen dankbar. Europa kann nicht bestehen, indem man sagt: Das eine gibt es und dann kommt immer etwas hinzu, geschehe auf der Welt, was es wolle. - Der Schritt, den ich oben beschrieben habe, muss von Deutschland unterstützt werden.
Wir wollen den Verfassungsvertrag, auch wenn das heute zum Teil illusorisch erscheint, zu einem Erfolg machen. Ohne ein eigenes Selbstverständnis ist Europa nicht möglich. Das ist ein dickes Brett, das zu bohren sein wird. Aber wir haben uns in unserer Koalitionsvereinbarung hierzu ausdrücklich bekannt.
Europa ist - auch das wissen wir - ohne die Unterstützung und das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger nicht möglich. Wir müssen darauf achten, dass die Menschen nicht den Eindruck haben, sie würden überfordert. Deshalb müssen wir ganz besonders Wert darauf legen, dass Staaten, die der Europäischen Union beitreten werden, alle Bedingungen uneingeschränkt erfüllen müssen. Das muss die Voraussetzung sein, wenn wir Erweiterungen der Europäischen Union vornehmen wollen.
So haben wir es auch in unserer Koalitionsvereinbarung festgelegt: Die am 3. Oktober 2005 aufgenommenen Verhandlungen der Europäischen Union mit der Türkei mit dem Ziel des Beitritts sind ein Prozess mit offenem Ende, der keinen Automatismus begründet und dessen Ausgang sich nicht im Vorhinein garantieren lässt. Sollte die EU nicht aufnahmefähig oder die Türkei nicht in der Lage sein, alle mit einer Mitgliedschaft verbundenen Verpflichtungen voll und ganz einzuhalten, so muss die Türkei in einer Weise, die ihr privilegiertes Verhältnis zur Europäischen Union weiterentwickelt - das wollen wir alle -, möglichst eng an die europäischen Strukturen gebunden werden. Das ist eine Aufgabe, die sich über die nächsten Jahre erstrecken wird. Wir stehen zu den Vereinbarungen, so wie sie von der Vorgängerregierung getroffen wurden. ‚Pacta sunt servanda’ muss das Prinzip europäischen Vertrauens sein. Aber dieser Prozess wird mit besonderer Aufmerksamkeit zu beobachten sein.
Die Menschen in Europa erwarten von uns natürlich, dass sie auf die bestehenden Herausforderungen eine Antwort bekommen; das sind Terrorismus, Massenvernichtungswaffen, Bürgerkriege und internationale Kriminalität. Deshalb kann ich mit Blick auf unser politisches Programm sagen, dass die große Koalition an dieser Stelle mehr Gemeinsamkeiten gefunden hat als jede andere denkbare politische Konstellation.
Das ist nicht in jedem Bereich so. Aber für den Bereich der inneren Sicherheit sage ich das aus voller Überzeugung. Hier haben wir einige Dinge hinbekommen, die ich ausgesprochen wichtig finde: Das Bundeskriminalamt wird zur Abwehr von Terrorgefahren Präventivbefugnisse erhalten. Mit der Kronzeugenregelung verbessern wir den Kampf gegen die organisierte Kriminalität. Opferschutz geht vor Täterschutz.
Es ist ja klar, dass da welche mit den Köpfen schütteln. Trotzdem geht Opferschutz vor Täterschutz. Wir werden das ganz konsequent umsetzen. Deshalb werden wir auch die nachträgliche Sicherungsverwahrung gegen solche Jugendliche einführen, die wegen schwerster Gewalttaten verurteilt worden sind. Man kann da nicht den Kopf in den Sand stecken, sondern muss sich dem Problem widmen. Das erwarten die Menschen von uns, und das zu Recht.
Die Grenzen zwischen innerer und äußerer Sicherheit - das spüren wir alle - werden immer fließender. Deshalb brauchen wir eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik innerhalb der Europäischen Union, und das auf der Grundlage einer europäischen Sicherheitsstrategie. Europa muss - danach werden uns die Bürgerinnen und Bürger fragen - sicherheitspolitisch handlungsfähig sein. Das ist kein Ersatz - ich sage das ausdrücklich -, sondern eine Ergänzung des bewährten Bündnisses NATO. Es geht darum, den europäischen Pfeiler der Allianz und damit die Allianz insgesamt zu stärken. Denn die NATO ist und bleibt der stärkste Anker unserer gemeinsamen Sicherheit. Sie ist das strategische Konsultations- und Koordinierungsforum und wo sie das nicht ist, müssen wir, auch wir in Deutschland, einen Beitrag dazu leisten, dass sie es wieder wird. Ich habe das bei meinem Besuch in Brüssel sehr deutlich gemacht.
Ich sage auch ganz bewusst: Das ist kein Gegensatz dazu, dass wir ein selbstbewusstes Europa sein wollen. Ein selbstbewusstes Europa muss aber ein starker und vor allen Dingen auch ein einiger Partner sein, wenn es darum geht, die Interessen von Sicherheit, Frieden und Menschenrechten durchzusetzen.
Meine Damen und Herren, ich sage deshalb auch: Lassen Sie die Schlachten der Vergangenheit ruhen. Die Schlachten sind geschlagen. Aber für die Zukunft gilt: Die neue Bundesregierung wird sich mit aller Kraft für ein enges, ehrliches, offenes und vertrauensvolles Verhältnis in der transatlantischen Partnerschaft einsetzen. Diese Partnerschaft der Wertegemeinschaft der westlichen Welt ist ein hohes - ich sage: ein kaum zu überschätzendes - Gut.
Ich glaube, dass wir in diesem Zusammenhang auch darauf vertrauen können - der Bundesaußenminister ist heute aus den Vereinigten Staaten von Amerika zurückgekommen -, dass die amerikanische Regierung die Besorgnis in Europa ernst nimmt und jüngste Berichte zu angeblichen CIA-Gefängnissen und illegalen Flügen, wie auch gegenüber dem Außenminister zugesagt, kurzfristig aufklären wird.
Meine Damen und Herren, wir fühlen uns im Blick auf die transatlantische Partnerschaft den gleichen Werten verpflichtet - das ist viel in dieser Welt -: Frieden und Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Gerechtigkeit und Toleranz. Anders gesagt: Wir haben das gleiche Verständnis von der Würde des Menschen. Das schweißt uns zusammen und bildet auch das Fundament.
Aber zum Selbstverständnis dieser Wertegemeinschaft und zum Selbstverständnis, das wir von uns und anderen Menschen haben, zählt auch, dass wir bei Menschenrechtsverletzungen nicht schweigen, gegenüber niemandem auf der Welt, und seien es noch so hoffnungsvolle Handelspartner und noch so wichtige Staaten für Stabilität und Sicherheit.
Ich sehe - das sage ich ausdrücklich - zwischen Kooperation, die notwendig ist, und dem Einhalten der Menschenrechte oder dem Benennen dessen, was wir unter Menschenrechten verstehen, keine Kluft, die nicht zu überbrücken wäre. Es geht hier um Ehrlichkeit im Dialog. Das macht Beziehungen nicht unmöglich. So ist jedenfalls meine Erfahrung.
Meine Damen und Herren, es ist richtig: Deutschland ist noch nie so sicher und so frei gewesen wie heute. Dennoch - ich habe das am Anfang gesagt - leben wir in einer Welt voller Herausforderungen: Terrorismus, Massenvernichtungswaffen, zerfallende Staaten, extreme Armut, Epidemien und Umweltzerstörung. All das bedroht unsere Sicherheit und unseren Wohlstand.
Wir brauchen deshalb unsere Partnerschaften in der Welt dringender denn je. Ich möchte hier beispielhaft die Partnerschaft zwischen Deutschland und Russland als eine strategische Partnerschaft nennen. Russland ist ein wichtiger Wirtschaftspartner. Aber Russland ist genauso ein Verbündeter im Kampf gegen den internationalen Terrorismus und natürlich als Land für die politische Stabilität Europas unverzichtbar. Wir haben ein ganz besonderes Interesse daran, dass der Modernisierungsprozess in Russland gelingt. Wir werden das in unseren außenpolitischen Kontakten deutlich machen.
Meine Damen und Herren, wir werden uns mit Kräften für Frieden und Stabilität im Nahen Osten einsetzen. Wir schauen natürlich mit besonderer Sorge in diesen Tagen auf den Irak, aber genauso auf die Entwicklung im Iran. Trotz der Rückschläge in letzter Zeit wird sich die Bundesregierung weiter im Drei-plus-Eins-Prozess engagieren. Dieser Prozess muss fortgeführt werden. Ich sehe zu ihm keine Alternative. Aber ich kann den Iran nur davor warnen, sich der Kooperation mit der internationalen Staatengemeinschaft und der IAEO zu entziehen. Was gegenüber Israel seitens des Iran gesagt wurde, ist in jeder Hinsicht absolut inakzeptabel. Der Iran muss wissen, dass wir das nicht hinnehmen.
Deutschland steht zu Israel in einer ganz besonderen Verantwortung. Wir haben in diesem Jahr den 40. Jahrestag der Aufnahme deutsch-israelischer Beziehungen begangen. Für die neue Bundesregierung möchte ich deshalb bei dieser Gelegenheit das Existenzrecht Israels und das Recht seiner Bürgerinnen und Bürger, in sicheren Grenzen frei von Terror, Angst und Gewalt zu leben, ausdrücklich bekräftigen.
Ebenso bekräftigen möchte ich allerdings das Recht des palästinensischen Volkes auf einen eigenen Staat, der Seite an Seite mit Israel in Sicherheit und anerkannten Grenzen lebt. Das wäre auch ein klares Signal gegen Terrorismus.
Meine Damen und Herren, deutsche Außenpolitik bewährt sich im konkreten Handeln. Auf dem Balkan, in Afghanistan und an vielen anderen Orten tragen deutsche Soldaten, Polizisten, Diplomaten und Entwicklungshelfer unter erheblichen Gefahren zu Frieden und Stabilität bei. Was das im äußersten Fall bedeuten kann, das haben wir gerade wieder in Afghanistan schmerzlich erleben müssen. Deshalb möchte ich all denen, die Deutschland im Ausland vertreten, einen ganz besonderen Dank sagen und eine ganz besondere Anerkennung für ihren mutigen Einsatz aussprechen. Sie sind in verschiedenen Funktionen wichtige Botschafter unseres Landes.
Meine Damen und Herren, die Bundeswehr ist eine Armee im Einsatz, mit über 6000 Soldaten auf dem Balkan, in Afghanistan, am Horn von Afrika oder jetzt in humanitärer Mission in Pakistan. Die Bundeswehr kann sich glücklicherweise auf die breite Unterstützung dieser Regierung, des Parlaments und der Gesellschaft verlassen. Die Soldatinnen und Soldaten haben sie auch verdient; denn sie brauchen sie für ihren Einsatz.
Unser Anspruch, in der Welt mitzusprechen und mitzuentscheiden, und unsere Bereitschaft zum Mitwirken bedingen sich. Die neue Bundesregierung wird darauf achten, dass die Ziele und Fähigkeiten der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik immer in einem Gleichgewicht bleiben. Deshalb werden wir den Umbau der Bundeswehr zu einer Einsatzarmee konsequent fortsetzen. Der Kernauftrag der Bundeswehr aus der Verfassung, die Landesverteidigung, bleibt dabei natürlich unverändert gültig. Wir werden auch an den Beschlüssen zur Struktur und Stationierung der Bundeswehr festhalten. Die Bundesregierung bekennt sich zur allgemeinen Wehrpflicht.
Sie hat sich in den vergangenen Jahrzehnten als die für unser Land beste Wehrform erwiesen, gerade auch mit Blick auf die Beziehung zu den Parlamentariern. Ich glaube, dass es an dieser Stelle ganz wichtig ist, eine Bundeswehr zu haben, die sich sicher sein kann, dass sie eine tiefe Verankerung in der deutschen Bevölkerung hat.
Wir werden Ende nächsten Jahres ein Weißbuch zur Sicherheitspolitik veröffentlichen, erstmals wieder nach mehr als zehn Jahren. Ich denke, dann ist es höchste Zeit, wieder ausführlich über ein solches Grundlagendokument zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Bundeswehr zu diskutieren.
Angesichts der Globalisierung nimmt die Bedeutung der internationalen Institutionen zu. Für uns - das ist unser gemeinsames Verständnis - muss die UNO der zentrale Ort der Konfliktlösung werden und dies dann auch bleiben. Hier liegt eine wichtige Aufgabe vor uns. Wir werden uns bemühen - ich halte es für ganz wichtig, dass wir das schaffen -, bei der Reform der UNO gemeinsame europäische Positionen durchzusetzen. Wir bleiben bereit, mit der Übernahme eines ständigen Sitzes im Sicherheitsrat mehr Verantwortung zu übernehmen. Ich sage aber ausdrücklich: Die Reform der UNO kann nicht auf die Frage des Sicherheitsrates reduziert werden, sondern sie geht weit darüber hinaus. Die Frage, welche Rolle die UNO in den nächsten Jahrzehnten einnimmt, wird von existenzieller strategischer Bedeutung für eine global zusammenwachsende Welt sein.
Denn, meine Damen und Herren, die Stärkung der internationalen Institutionen ist angesichts der Globalisierung lebensnotwendig. Eine Politik, die den Anspruch erhebt, die Globalisierung zu gestalten - diesen Anspruch müssen wir erheben, auch wenn viele Menschen den Eindruck haben, Politik könne das nicht mehr -, darf nicht über internationale Institutionen hinweggehen, sondern sie muss die internationalen Institutionen dazu befähigen, die Globalisierung auch zu gestalten.
Wir sagen: Die soziale Marktwirtschaft hat sich als großer Erfolg für uns alle und als Vorbild für andere erwiesen; das ist ein schöner Satz, aber die Fragen, ob wir das durchsetzen können und in welcher Weise die internationalen Organisationen agieren - ich kann das an der Welthandelsorganisation festmachen -, sind damit nicht beantwortet. Die meisten Menschen haben nicht den Eindruck, dass wir heute über die Möglichkeiten verfügen, weltweit das zu vertreten, was uns an sozialem Ausgleich der freien Wirtschaft - in Form der sozialen Marktwirtschaft - wichtig ist, sondern sie haben Angst, dass davon für sie nichts mehr übrig bleibt. Deshalb ist die Gestaltungskraft von Politik nicht mehr nur national notwendig, sondern auch bei der Ausprägung internationaler Organisationen, und dem wird sich diese Bundesregierung ganz wesentlich verpflichtet fühlen.
Dieses Wertverständnis von Politik leitet uns natürlich auch bei der Entwicklungszusammenarbeit. Wir wissen, dass uns die Probleme zu Hause erreichen, wenn wir sie nicht woanders lösen. Dafür brauchen wir natürlich Geld. Wir haben uns deshalb dazu verpflichtet, bis 2006 0,33 Prozent, bis 2010 mindestens 0,51 Prozent und bis 2015 die ODA-Quote von 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die öffentliche Entwicklungszusammenarbeit aufzubringen.
Ich weiß, was ich da sage. Das sind ganz anspruchsvolle Ziele. Aber wir müssen lernen: Die Probleme ereilen uns im Inland, wenn wir es nicht schaffen, die Probleme anderswo einer Lösung zuzuführen.
Meine Damen und Herren, aus all dem, was ich gesagt habe, wird deutlich: Wir haben uns viel vorgenommen - weil wir sicher sind, dass vieles möglich ist und weil wir auch wissen, dass viele Menschen vieles erwarten. Diese Koalition will Rituale überwinden und neue Wege aufzeigen. Viele werden sagen: Diese Koalition, die geht ja viele kleine Schritte und nicht den einen großen. Ich erwidere ihnen: Ja, genau so machen wir das. Denn wir glauben, dass auch das ein moderner Ansatz sein kann. Es hat sich herausgestellt, dass die Vernetzung von vielen kleinen Computern, an vielen Stellen, effektiver ist als der eine Großrechner - der Erfolg des Internets beruht auf genau dieser Philosophie. Deshalb werden wir eine Regierung sein, die diese vielen kleinen Schritte ganz bewusst in Angriff nimmt. Wir werden uns nicht drücken vor dem Handeln, wir werden eine Regierung der Taten sein. Wir wissen, dass wir auch Rückschläge werden hinnehmen müssen. Aber wir werden eines zeigen: Wir haben große Möglichkeiten in diesem Land. Deutschland ist voller Chancen, nach innen wie nach außen.
Fragen wir deshalb nicht zuerst, was nicht geht oder was schon immer so war; fragen wir zuerst, was geht, und suchen wir nach dem, was noch nie so gemacht wurde. Haben wir den Mut, das dann aber auch wirklich durchzusetzen! Überraschen wir uns also damit, was möglich ist, überraschen wir uns damit, was wir können! Stellen wir unter Beweis, dass wir unser Land gemeinsam nach vorn bringen, mit Mut und Menschlichkeit! Denn Deutschland kann mehr und ich bin überzeugt, Deutschland kann es schaffen. Herzlichen Dank.“
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