Psychologie politischer Reden und Kommunikation
Politische Psychologie: Denkorientierungen und Denkmuster von Führenden in der Politik
CMC Forschungsprojekt WORTSTROM
Politische Rede im Wortlaut
Konrad Adenauer: Große Regierungserklärung am 20.10.1953
Redeanalyse (Kommunikationsprofil) ►
„Herr Präsident!
Meine Damen und meine Herren!
Im Namen der Bundesregierung habe ich folgende Erklärung abzugeben:
Die Bundestagswahlen haben eine klare und eindeutige Entscheidung der deutschen Wähler gebracht. Ihren unmittelbaren Niederschlag hat diese Entscheidung in der Zusammensetzung des Bundestags gefunden, die sich erheblich von der Zusammensetzung des alten Bundestages unterscheidet. Während dem 1. Deutschen Bundestag die Vertreter von zwölf Parteien und eine Reihe parteiloser Abgeordneter angehörten, ist es bei diesen Wahlen trotz des nicht unbedeutenden Anstiegs der wahlberechtigten Bevölkerung gegenüber 1949 nur noch sechs Parteien gelungen, Mandate zu erringen. Parteilose Kandidaten haben sich überhaupt nicht durchzusetzen vermocht. Es ist also eine starke Konzentration des politischen Willens des deutschen Volkes zu verzeichnen.
Ein besonders hervorstechendes Merkmal der Bundestagswahlen ist die Niederlage der links- und rechtsradikalen Parteien. Sie sind in diesen Bundestag nicht mehr zurückgekehrt. Bei den Wahlen zum 1. Deutschen Bundestag 1949 hatte die Kommunistische Partei noch 1361706 Stimmen erhalten. Das entsprach einem prozentualen Stimmenanteil von 5,7 %. 1953 dagegen hat es die Kommunistische Partei nur noch auf 607413 Stimmen, das sind 2,2 %, gebracht. Auf die DRP und die mit ihr verbündete Deutsche Konservative Partei waren 1949 429031 Stimmen gleich 1,8 % entfallen. Jetzt ist sie auf 295618 Stimmen gleich 1,1 % zurückgegangen. Eine zweite rechtsradikale Gruppe, die Nationale Sammlung, hat lediglich 71032 Stimmen gleich 0,3 % auf sich vereinigen können.
Auf dieses Ergebnis, meine Damen und Herren, kann das deutsche Volk stolz sein. Es hat damit die in gewissen Kreisen vertretene Auffassung, Deutschland neige zu extremen politischen Anschauungen, nachdrücklich widerlegt. Der weitere sehr erhebliche Rückgang der kommunistischen Stimmen hat sich seit langem angekündigt. Die Erfahrungen, die das deutsche Volk mit der kommunistischen Wirklichkeit gemacht hat, haben ihre Wirkung getan. Besonders erfreulich ist es aber, daß auch die rechtsradikalen, mehr oder weniger auf die Wiederbelebung der nationalsozialistischen Ideologie gerichteten Parteien keine Erfolge beim deutschen Volk gehabt haben.
Die Erfolgsaussichten dieser Gruppen sind vor den Wahlen von verschiedenen Seiten, namentlich im Ausland, nicht gering veranschlagt worden. Das Wahlergebnis zeigt jedoch, daß das zahlenmäßige Gewicht der nationalsozialistischen Rückstände im deutschen Volk bei weitem überschätzt worden ist. Auch auf diejenigen, die 1949 wegen ihrer früheren Zugehörigkeit zur nationalsozialistischen Partei noch nicht zur Wahl zugelassen waren, haben die Parolen der Vergangenheit offensichtlich keine Anziehungskraft mehr ausgeübt. Das unberechtigte Aufsehen, das das Auftreten des ehemaligen Staatssekretärs im Propagandaministerium Naumann in der Öffentlichkeit erregt hatte, läßt die Niederlage des Rechtsradikalismus nur noch deutlicher in Erscheinung treten. Nach dem Wahlausgang ist kein Zweifel daran erlaubt, daß die Zeit des Rechtsradikalismus in Deutschland endgültig vorbei ist.
Das deutsche Volk hat sich mit seiner überwältigenden Mehrheit gegen jedes totalitäre System und für solche Parteien entschieden, die sich uneingeschränkt zur demokratischen Staatsordnung bekennen.
Dieses Ergebnis ist nicht die Folge eines diese Parteien begünstigenden Wahlgesetzes, sondern ein Beweis nüchterner Besonnenheit des deutschen Volkes. Das Wahlgesetz war dem Wahlgesetz zum ersten Bundestag weitgehend nachgebildet. Auch 1949 gab es eine Sperrklausel, die zwar geringere Anforderungen als die 1953 gültige Klausel stellte. Aber auch diese frühere Sperrklausel würde von keiner der erfolglos, gebliebenen Parteien übersprungen worden sein.
Das deutsche Volk hat bei den Wahlen ein hohes Maß an politischer Reife und politischer Urteilskraft bewiesen. Es ist dadurch zum Ausdruck gekommen, welche Fortschritte in der inneren Konsolidierung und der Gesundung Deutschlands gemacht worden sind. Die Formung und Gestaltung des Staates, seine Aufgaben und Probleme sind heute eine Angelegenheit des ganzen Volkes. Dies zeigt sich in der außerordentlich hohen Wahlbeteiligung von durchschnittlich 86 %.
Mit größter Genugtuung kann ich feststellen, daß die Politik und Tätigkeit der Bundesregierung und der sie tragenden Parteien in den vergangenen vier Jahren die Anerkennung und die Bestätigung aller Schichten des deutschen Volkes erhalten hat. Diese Wahlen waren ein Volksentscheid, insbesondere auch für die in den vergangenen vier Jahren verfolgte Außenpolitik.
Besonderes Gewicht, meine Damen und Herren, lege ich der Tatsache bei, daß die Bestätigung dieses politischen Kurses von der Zustimmung des größten Teiles der jungen Wähler getragen wird,
vornehmlich auch derjenigen, die zum erstenmal ihr Wahlrecht ausgeübt haben. Die jungen Wähler haben gezeigt, daß sie sich nicht von inhaltlosen Phrasen und auch nicht von unrealistischen Bekenntnissen einfangen lassen, sondern durchaus die positiven Leistungen zu erkennen und zu schätzen wissen. Man hat bisher häufig die Ansicht gehört, daß die jüngere Generation dem politischen Leben interesselos gegenüberstehe. Die Bundestagswahlen 1953 beweisen, daß diese Teilnahmslosigkeit, falls sie jemals tatsächlich bestanden haben sollte, der Vergangenheit angehört. Daß die Wahlbeteiligung und das politische Interesse der Frauen denen der Männer nicht nachstehen, hat sich auch bei diesen Wahlen wieder gezeigt.
Der Ablauf der politischen Ereignisse hat es mit sich gebracht, daß bei den Wahlen die deutsch-alliierten Verträge, der Vertrag über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft und der Deutschland-Vertrag, noch nicht in volle Wirksamkeit erwachsen waren. Diese Verträge und die mit ihnen getroffenen Entscheidungen, namentlich die erklärte Bereitschaft zur Leistung eines deutschen Verteidigungsbeitrags im Rahmen einer europäischen Gemeinschaft, haben die Gesamtheit des deutschen Volkes besonders aufgewühlt und beschäftigt. Die Opposition hatte früher vorzeitig Neuwahlen verlangt und behauptet, daß dem ersten Deutschen Bundestag die Legitimation zur Entscheidung in diesen Fragen fehle, da sie bei den Wahlen 1949 nicht im Bereich der politischen Möglichkeiten gelegen hätten. Diesem oppositionellen Verlangen konnte nicht entsprochen werden, weil das Grundgesetz eine vorzeitige Auflösung des Bundestags und die Ausschreibung von Neuwahlen in solchen Fällen nicht zuläßt. Es kommt hinzu, daß die Behauptung unzutreffend ist, der Bundestag habe nur ein begrenztes Mandat gehabt. Jeder Bundestag hat den Auftrag und die Pflicht, die Aufgaben zu lösen, die im Laufe seiner Legislaturperiode an ihn herantreten.
Im Wahlkampf haben die Auseinandersetzungen um die deutsch-alliierten Verträge, insbesondere um den das Kernstück einer europäischen Integration bildenden Verteidigungsbeitrag, einen breiten Raum eingenommen. Die Problematik lag für den deutschen Wähler klar zutage. Es wird nicht gesagt werden können, daß er plötzlich und ohne ausreichende Vorbereitung vor die Entscheidung gestellt worden sei.
Das Votum der Wähler ist völlig klar. Niemand wird heute noch behaupten können, daß das deutsche Volk den Verträgen und einem deutschen Verteidigungsbeitrag ablehnend gegenüberstehe.
Der Ohne-mich-Standpunkt, der vor rund zwei Jahren eine Rolle spielte und den sich die gesamte Opposition von der KPD bis zu den Kreisen um Dr. Heinemann zunutze machte, ist überwunden und hat einer realistischen Beurteilung der deutschen Situation Platz gemacht. Der 6. September 1953 ist zu einem Bekenntnis des deutschen Volkes für die Verträge geworden. Er ist ein Bekenntnis der Freiheit, Humanität und der europäischen Gemeinschaft im Geiste abendländischen Christentums.
Das Grundgesetz sagt in Art. 20: ‚Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus’. Die Entscheidung des Volkes, die im Wahlergebnis ihren Ausdruck findet, wird von jedermann, dem einzelnen sowohl wie auch den gesellschaftlichen und politischen Gruppen und Verbänden respektiert werden müssen. Wir wünschen auch, meine Damen und Herren, daß die Staaten, mit denen wir in engerer Verbindung stehen, das Ergebnis dieser Wahl erkennen und respektieren. Wir hoffen, daß das Bild eines Wiedererstehens des Nationalsozialismus, eines aggressiven Deutschlands nun nicht mehr in der öffentlichen Meinung der anderen Staaten erscheint.
Wir hoffen, daß das Ergebnis dieser Wahl die summarische Nachprüfung der Kriegsverbrecherprozesse beschleunigt und beeinflußt, daß alle Verurteilten, die nicht wirkliche Verbrechen begangen haben, baldigst in Freiheit gesetzt werden und daß sie unverzüglich alle Milderungen ihrer Haft erfahren.
Außerdem hat sich die Bundesregierung bei der Alliierten Hohen Kommission immer wieder dafür eingesetzt, daß auch für die Gefangenen in Spandau gewisse Erleichterungen und Maßnahmen getroffen werden, wie es z. B. im Hinblick auf das hohe Alter und den Gesundheitszustand einiger Gefangener dringend wünschenswert erscheint.
Die Bundesregierung hofft, daß ihre fortgesetzten Bemühungen in dieser Frage schließlich Erfolg haben werden.
Nach dem Wahltag sind im Ausland verschiedentlich Besorgnisse laut geworden, daß eine Partei im Bundestag über die absolute Mehrheit verfügt. Es ist auf die Vorgänge im Jahre 1933 hingewiesen worden. Eine solche Betrachtungsweise ist völlig abwegig. Will man im Ausland wirklich nicht den Unterschied zwischen einer totalitären Partei, die nach der Erringung der Macht im Staate unter Ausschaltung der übrigen Parteien strebt, und einer demokratischen Partei erkennen? Niemand hat es sich bisher auch einfallen lassen, in einem demokratischen Staat mit einem Zweiparteiensystem wie in Großbritannien und den Vereinigten Staaten die in einer Wahl siegreiche Partei, die notwendigerweise ein Übergewicht über die unterlegene Partei besitzen muß, undemokratischer Tendenzen zu verdächtigen.
Die Befürchtung, daß die CDU/CSU von ihrer Stärke einen nicht maßvollen Gebrauch machen werde, ist auch schon deshalb unberechtigt, weil diese Partei die Zusammenarbeit mit ihren bisherigen Koalitionspartnern im Parlament und in der Bundesregierung fortsetzen wird. Sie wird noch verstärkt durch den Hinzutritt der Fraktion des BHE. Danach stehen von 487 stimmberechtigten Abgeordneten 336 im Lager der Regierung, während 151 der Opposition angehören. Ich möchte aber hier der Hoffnung Ausdruck geben, daß in wichtigen außenpolitischen Fragen auch ein Zusammengehen zwischen Regierungskoalition und Opposition stattfindet.
Auch die Zusammensetzung und die Vergrößerung des Kabinetts, meine Damen und Herren, beruht auf dem Bestreben, möglichst viele Gruppen wirksam an der Verantwortung teilnehmen zu lassen. Sie ist aber auch von mir für notwendig gehalten worden. Ich habe um die Bewilligung dieser Stellen gebeten auf Grund der Erfahrungen der vergangenen vier Jahre. Es erscheint mir notwendig, das politische Element im Kabinett stärker zur Geltung kommen zu lassen und dadurch auch eine engere Verbindung mit den hinter dem Kabinett stehenden Fraktionen des Bundestags und mit diesem selbst herbeizuführen.
Weiter hat es sich als notwendig herausgestellt, durch Mitglieder des Kabinetts dessen Politik auf Versammlungen von Organisationen und überhaupt in der Öffentlichkeit in stärkerem Umfange als bisher darzulegen. Ich bin davon überzeugt, daß durch diese stärkere Verbindung mit den Fraktionen, dem Bundestag und der Öffentlichkeit das Werk der Gesetzgebung sich besser, schneller und reibungsloser vollziehen wird und daß dadurch die durch die Vergrößerung des Kabinetts entstehenden Mehrkosten im Endergebnis um ein Vielfaches wieder eingebracht werden.
Die Anzahl der unserer Arbeit harrenden Aufgaben, meine Damen und Herren, ist so groß, daß ich mich auf die Hervorhebung einiger der wichtigsten beschränken muß. Ich werde dabei die Richtigkeit des von uns einzuschlagenden Weges durch Belege aus den vergangenen vier Jahren nachweisen. Dabei benutze ich die Gelegenheit, dem ersten Bundeskabinett, insbesondere auch den jetzt ausscheidenden Ministern den Dank für ihre vielfältige, erfolg- und opferreiche Tätigkeit auszusprechen.
Die Bundesregierung wünscht die vor ihr stehenden Aufgaben auch in vertrauensvoller Zusammenarbeit mit dem Bundesrat zu lösen. Sie bekennt sich zu dem föderativen Aufbau der Bundesrepublik, der durch das Grundgesetz gewährleistet ist.
Die Probleme und die Aufgaben der Sozialpolitik, Wirtschaft und Finanzen hängen eng miteinander zusammen. Die Lösungen können nur gemeinsam gefunden werden. Sozialpolitik ist nur möglich, wenn die Wirtschaft gedeiht, Beschäftigung gibt und Steuern liefert. Es ist weder Sozialpolitik noch ein Gedeihen der Wirtschaft möglich, wenn wir keine gesunde und feste Währung haben, für die die Finanzpolitik sorgen muß. Zur Zeit, meine Damen und Herren, bezieht jeder dritte Einwohner in der Bundesrepublik von der Sozialversicherung, von der Arbeitslosenversicherung oder Arbeitslosenfürsorge, vom Lastenausgleich, von der Fürsorge oder als verdrängter Beamter, als Kriegsbeschädigter oder Kriegshinterbliebener, als ehemaliger Berufssoldat oder als Witwe oder Waise eine Rente. Es ist der ersten Bundesregierung gelungen, die jährlichen Aufwendungen für die soziale Sicherheit der Bevölkerung von 1949 bis 1953 nahezu zu verdoppeln. Das ist in hohem Maße ein Erfolg der sozialen Marktwirtschaft und einer guten Finanzpolitik. Das laufend steigende Sozialprodukt hat eine entsprechend höhere Beteiligung der Sozialleistungsempfänger gestattet.
An dem wirtschaftlichen Aufstieg in der Bundesrepublik haben jedoch nicht alle Bevölkerungskreise gleichmäßig teilgenommen. Es waren bisher in erster Linie die im Arbeitsprozeß Tätigen, die sichtbaren Nutzen aus den Erfolgen der sozialen Marktwirtschaft zogen. Es wird das besondere Anliegen der Bundesregierung sein müssen, die Arbeitslosen einzugliedern und dem Bundestag Maßnahmen vorzuschlagen, durch die die wirtschaftliche Lage der Rentner, Invaliden, Waisen und Hinterbliebenen weiter verbessert wird.
Dieses Ziel muß auf zwei Wegen erreicht werden: erstens durch eine weitere Erhöhung des Sozialprodukts, zweitens durch eine umfassende Sozialreform.
Die Erhöhung des Sozialprodukts ist nicht nur eine wirtschaftspolitische und finanzpolitische, sondern zugleich auch eine sehr wichtige sozialpolitische Aufgabe. Jedes weitere Ansteigen des Sozialprodukts gestattet auch eine entsprechend höhere Berücksichtigung der Sozialleistungsempfänger. Es liegt im eigensten Interesse der sozial Schwachen, daß hierbei nicht die produktiven Elemente des Wirtschaftslebens geschwächt werden, weil sie davon durch Rückgang der sozialen Leistungen getroffen würden. Eine Umschichtung innerhalb des Sozialhaushalts ist nicht nur vertretbar, sondern notwendig, um manchen Schichten mehr helfen zu können, als das bisher möglich war. Diesem Ziele dienen die von der ersten Bundesregierung bereits eingeleiteten Vorarbeiten für die Durchführung einer Sozialreform. Die neue Bundesregierung wird diese Vorarbeiten energisch fördern und ein umfassendes Sozialprogramm vorlegen.
Ich hatte bereits an anderer Stelle von den Erfolgen der sozialen Marktwirtschaft gesprochen. Sie spiegeln sich in der Erhöhung des Lebensstandards nahezu aller Arbeitnehmer wider. Ich erblicke darin auch eine der Voraussetzungen für eine günstige Entwicklung der Beziehungen der Sozialpartner zueinander. Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß sich das Prinzip der sozialen Selbstverwaltung in den vergangenen Jahren bewährt hat. Sie vertraut darauf, daß die Sozialpartner in verantwortungsbewußter Zusammenarbeit auch in Zukunft einen Ausgleich der Interessen ohne Erschütterung der Wirtschaft und ohne Störung der Allgemeinheit durch größere Arbeitskämpfe finden werden.
Es ist der dringende Wunsch und die Hoffnung der Bundesregierung, daß die Gewerkschaften im Interesse von Arbeiterschaft und Volk einen unabhängigen und positiven Weg gewerkschaftlicher Arbeit gehen.
Die Bundesregierung denkt nicht daran, die Unabhängigkeit der Gewerkschaften anzutasten. Sie erwartet aber auch, daß die Gewerkschaften selbst parteipolitische Unabhängigkeit und Toleranz als ihre Grundlage achten.
Deshalb wünscht die Bundesregierung, daß die im Gange befindlichen Bemühungen verantwortungsbewußter Gewerkschaftler zur Überwindung bestimmter Krisenerscheinungen der letzten Zeit führen werden.
Das Ergebnis der Bundestagswahl, meine Damen und Herren, läßt den Schluß zu, daß die Vertriebenen sich in immer stärkerem Maße als in das Leben der Bundesrepublik eingegliedert betrachten. Diese Entwicklung verpflichtet die Bundesregierung um so mehr, alles daran zu setzen, diese Eingliederung der Vertriebenen und Flüchtlinge in verstärktem Maße fortzuführen und vorhandene oder sich noch ergebende Unvollkommenheiten möglichst zu beseitigen.
Das Bundesvertriebenengesetz, die Magna Charta der Vertriebenen und Flüchtlinge, wurde noch von dem ersten Bundestag verabschiedet. Nunmehr gilt es, die mit diesem Gesetz geschaffenen rechtlichen und finanziellen Möglichkeiten auszuschöpfen.
Die besondere Aufmerksamkeit der Bundesregierung wird weiterhin der Schaffung selbständiger Existenzen in Handwerk, Gewerbe, Industrie und Landwirtschaft gelten müssen. Die Erhaltung der Lebenskraft der mittel- und ostdeutschen Bauern ist eine Voraussetzung des Erfolges der auf die Wiederherstellung Deutschlands in Einheit und Freiheit gerichteten Politik der Bundesregierung!
Die Bundesregierung wird daher gemeinsam mit den Ländern bestrebt sein, die aus der Landwirtschaft kommenden Vertriebenen und Flüchtlinge seßhaft zu machen. Hier liegen große Aufgaben vor uns. Alle Bemühungen, auf dem Wege der inneren Kolonisation neuen Siedlungsraum zu gewinnen, sollten die größtmögliche Unterstützung des Bundes finden.
Neben den Heimatvertriebenen und Flüchtlingen darf nicht die Vielzahl der Heimkehrer, der Kriegssachgeschädigten und der Evakuierten vergessen werden. Die Bundesregierung wird ihre Bemühungen fortsetzen, diesen Opfern des Krieges unter Ausschöpfung aller ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten eine weitgehende Förderung zu sichern.
Von der Entwicklung der Verhältnisse sind aber nicht nur bestimmte Gruppen der Bevölkerung, sondern auch bestimmte Teile des Bundesgebietes besonders stark betroffen. Die Bundesregierung wird diesen Notstandsgebieten, die sich besonders an der östlichen Grenze des Bundesgebietes, der Zonengrenze sowohl wie der Landesgrenze befinden, ihre besondere Aufmerksamkeit zuwenden.
Die Förderung des Wohnungsbaus wird von der Bundesregierung wie schon bisher als eine Aufgabe von ganz besonderer Bedeutung und Dringlichkeit angesehen und entsprechend behandelt werden. In den vergangenen vier Jahren sind annähernd sieben Millionen Deutsche in der Bundesrepublik wieder zu einer eigenen Wohnung und zu einem eigenen Heim gekommen, zu einem großen Teil Vertriebene, Ausgebombte und Evakuierte. Die Leistungen im Wohnungsbau waren sehr viel höher, als im Jahre 1949 angenommen wurde. Dennoch ist die Wohnungsnot noch sehr groß. Die Bundesregierung wird daher weiter bestrebt sein, die Menschen aus den noch vorhandenen Notunterkünften herauszunehmen und neben den unmittelbar von den Kriegsfolgen Betroffenen in steigendem Umfang auch den Hunderttausenden übrigen Wohnungssuchenden, insbesondere den jungen Ehepaaren, zu einer eigenen Wohnung zu verhelfen.
Auch die Qualität der Wohnungen muß gehoben und der Bau von familiengerechten Wohnungen stärker gefördert werden.
Um ein gesundes Familienleben zu stärken und seine ideellen Werte unserer heranwachsenden Jugend zu geben, wird die Bundesregierung in den nächsten Jahren in erster Linie den Bau von Eigenheimen, Kleinsiedlungen und Eigentumswohnungen fördern.
Die umfassenden Aufgäben auf dem Gebiete des Wohnungsbaues und der Wohnungswirtschaft können Bund und Länder allein nicht lösen. Dem Einsatz öffentlicher Mittel aus dem Steueraufkommen sind Grenzen gesetzt. Es muß daher das Privatkapital noch mehr als bisher für den Wohnungsbau interessiert werden. Schon aus diesem Grunde und zur Erhaltung des durch den Krieg verschonten Wohnungsbestandes müssen auch im Wohnungsbau die Grundsätze der sozialen Marktwirtschaft Schritt für Schritt immer mehr zur Geltung kommen.
Finanz- und Wirtschaftspolitik, meine Damen und Herren, lassen sich in ihren Grundzügen nicht voneinander trennen. Ohne eine gesunde Finanzpolitik, die die Währung stabil hält, den Sparwillen ermutigt, so zur Kapitalbildung beiträgt und das Vertrauen zur Übernahme wirtschaftlicher Risiken, die mit jeder wirtschaftlichen Betätigung verbunden sind, schafft, ist ein Gedeihen der Wirtschaft nicht möglich. Umgekehrt ist ohne Gedeihen der Wirtschaft, die für die öffentlichen Kassen die steuerlichen Einnahmen bringt, eine gesunde Finanzpolitik nicht möglich. Beide Bereiche der staatlichen Tätigkeit sind so miteinander auf Gedeih und Verderb verbunden, daß, wenn irgendwo, dann hier enge und verständnisvolle Zusammenarbeit nötig ist.
Auf beiden Gebieten waren die entscheidenden Tatsachen die Schaffung der Deutschen Mark im Jahre 1948 und das entschlossene Bekenntnis der Bundesregierung zur sozialen Marktwirtschaft im Jahre 1949. Da bei der Bildung der Bundesregierung im Jahre 1949 außenpolitische Fragen, die verschiedener Auffassung hätten unterliegen können, noch nicht akut waren, war die Entscheidung, ob soziale Marktwirtschaft oder Planwirtschaft, gleichzeitig die Entscheidung der Frage, ob eine Regierung unter Einschluß der Sozialdemokratie zu bilden sei oder nicht. Nun, die Erfolge, die wir seit 1949 auf wirtschaftlichem und finanziellem Gebiet erzielt haben, sind ein überzeugender Beweis dafür, daß es richtig war, eine Regierung, eine Koalition zu bilden, der die Sozialdemokratie nicht angehörte. Die Wähler haben gesehen und am eigenen Leibe erfahren, wie sich bei den meisten Menschen die wirtschaftliche Lage in der sozialen Marktwirtschaft ständig gebessert hat. Die Steigerung der deutschen Industrieproduktion von 55,5 % im zweiten Vierteljahr 1948 auf 156,5 % im zweiten Vierteljahr 1953, gemessen an den Zahlen von 1936, kennzeichnet einen Aufbau, der viele neue Arbeitsplätze geschaffen und die Versorgung aller Schichten wesentlich verbessert hat. Der deutsche Außenhandel hat seit der Währungsreform mit einer Vervierfachung seiner Umsätze einen Stand erreicht, der nach Jahren völliger Lähmung unsere Ernährung und Rohstoffversorgung von den Weltmärkten sichert. Der deutsche Export konnte in der gleichen Zeit um das Siebenfache gesteigert werden.
Die Bundesregierung wird nicht auf den errungenen Lorbeeren ausruhen. Sie wird sich nicht darauf beschränken, das Erreichte zu stabilisieren, sondern sie wird auf dem von ihr beschrittenen und vom deutschen Volke gebilligten Weg fortschreiten. Ihr Ziel ist die weitere Ausdehnung und Intensivierung unserer Wirtschaft in einem maßvollen und gesunden Wachstumstempo.
Die soziale Marktwirtschaft, meine Damen und Herren, ist ein Torso, solange sie auf das Inland beschränkt bleibt. Wie bei uns der Abbau der Zwangswirtschaft ungeahnte Kräfte frei gemacht hat, so wird auch die internationale Wirtschaft einen bedeutsamen Aufschwung nehmen, wenn die vielen Fesseln und Hemmnisse, die heute noch bestehen, beseitigt werden. Die Bundesregierung wird deshalb alles tun, um in Zusammenarbeit mit anderen Ländern die Umtauschbarkeit der Zahlungsmittel zu erreichen, den zwischenstaatlichen Waren- und Dienstleistungsverkehr zu erleichtern und die Exportsubventionen, die den Wettbewerb zwischen den Völkern verfälschen, einzuschränken.
In erster Linie ist die europäische wirtschaftliche Integration unerläßlich. Die Bundesregierung ist von der Notwendigkeit, die Arbeiten des Europäischen Wirtschaftsrats fortzusetzen, überzeugt. Sie ist der Ansicht, daß insbesondere in Europa die Befreiung der gegenseitigen Wirtschaftsbeziehungen von allen kleinlichen Beschränkungen die Integration fördern und die Voraussetzung für die Hebung des allgemeinen Lebensstandards schaffen wird.
Die Europäische Zahlungsunion muß fortgesetzt werden, bis ihr eigentliches Ziel, die Konvertibilität der Währungen, erreicht ist. Die Bundesregierung wird auch weiterhin die Bestrebungen des Europäischen Wirtschaftsrats unterstützen, die Produktion unter Beibehaltung der inneren finanziellen Stabilität auszuweiten. Wie bisher werden die Mittel des Sondervermögens, das aus der amerikanischen Hilfeleistung vor allem hervorgegangen ist, in erster Linie dort zu verwenden sein, wo der freie Kapitalmarkt in Westdeutschland und West-Berlin noch nicht in der Lage ist, die insbesondere für die Investitionen erforderlichen Mittel aufzubringen.
Wenn sich auch der deutsche Außenhandel auf 33,1 Milliarden D-Mark Umsatz im Jahre 1952 erweitert hat, so darf doch nicht vergessen werden, daß wir damit noch nicht wieder den Anteil am Welthandel erreicht haben, den Deutschland früher besessen hat. Die weitere Entwicklung unseres Außenhandels stößt allenthalben auf Grenzen, und wir sind uns bewußt, daß wir auf die Schwierigkeiten und unterschiedlichen Verhältnisse in anderen Ländern Rücksicht nehmen müssen. Wenn wir uns bemühen, unsere Handelsbeziehungen zu dem Ausland weiter zu vertiefen und die binnenwirtschaftliche Entwicklung auszudehnen, werden wir darauf achten, daß in stärkerem Maße als bisher auch die mittleren und kleinen Unternehmungen sich daran beteiligen können.
Die Bundesregierung will diese ihre Ziele nicht so sehr durch neue Gesetze und Verordnungen erreichen als durch den verstärkten Appell an den persönlichen Wagemut, an die Willenskraft und die Schaffensfreude, an die Tüchtigkeit des deutschen Unternehmers, des Arbeiters und des Bauern. Es sind nicht in erster Linie die materiellen, sondern es sind die moralischen und ethischen Kräfte, die unsere Welt zum Höheren entwickeln. Es hat deshalb für uns eine entscheidende Bedeutung, daß wir uns auf die Pflichtauffassung und Arbeitswilligkeit des deutschen Arbeitens verlassen können, und wir müssen alles tun, um die guten Anlagen und die Tüchtigkeit des deutschen Facharbeiters zu stärken. Dies gilt nicht nur für den Facharbeiter in der Industrie, sondern besonders auch im Handwerk und in der Landwirtschaft. Der Ausbildung und der Förderung des Facharbeiters und der Schulung zusätzlicher Arbeitskräfte muß in Zukunft das größte Gewicht beigemessen werden, weil wir sonst sehr bald vor einem empfindlichen Mangel an ausgebildeten Kräften stehen werden.
Für den Einsatz aller wirtschaftlichen Kräfte muß ein gesunder Wettbewerb gewährleistet sein. Die Freiheit in der sozialen Marktwirtschaft erstreckt sich nach zwei Seiten: sie bedeutet Freiheit vor der Übermacht des Staates, aber auch Freiheit vor den Gruppeninteressenten. Das Interesse nur einer Gruppe von Wirtschaftenden hat hinter dem Gesamtinteresse zurückzustehen.
Der Schutz, den der Staat einer bestimmten Wirtschaftsgruppe zuerkennt, darf nicht dazu führen, daß sie sich dem allgemeinen Wettbewerb völlig entzieht.
In diesem Sinne sind auch die Bestrebungen zu prüfen, einzelne Wirtschafts- und Berufskreise schärfer abzugrenzen und voneinander abzuschnüren. Gerade durch eine immer engere Verflechtung der lebendigen Kräfte in der Wirtschaft wird die Aufwärtsentwicklung gefördert.
Nach der Sorge für den Menschen wird es das wichtigste Ziel unserer Wirtschaftspolitik sein, die industriellen Werke zu modernisieren und die Erzeugung zu rationalisieren, damit wir zu einer Verbilligung und damit zu einer Erhöhung unserer Produktion kommen. Es handelt sich hierbei, meine Damen und meine Herren, um ein sehr ernstes und dringendes Problem. Erneuerung und Modernisierung, Rationalisierung, Ausbildung von hochqualifizierten Facharbeitern sind vordringlich, schon um unseren jetzigen Stand zu halten, geschweige ihn zu steigern. Die Bestrebungen zur Vereinfachung und Verbilligung dürfen sich nicht auf die Produktion beschränken; sie müssen sich auf das Verkehrswesen und auf die Verteilung der produzierten Güter erstrecken. Schließlich wird mehr als bisher ein besonderes Gewicht auf die Erfordernisse der Märkte zu legen sein. Denn die Gewinnung neuer Käuferschichten und die Pflege des Absatzes muß mit der Erhöhung der Produktion Schritt halten. Vor allem aber muß sichergestellt werden, daß Kosten- und Preissenkungen auch in vollem Umfang dem Verbraucher zugute kommen.
Darin muß sich der soziale Charakter der Marktwirtschaft erweisen.
Es wäre ein Fehler, all die erwähnten Maßnahmen etwa nur in den Großunternehmungen durchzuführen. Die Bundesregierung faßt den Auftrag ihrer Wähler so auf, daß sie in besonderem Maße auch den mittleren und kleineren Unternehmungen Möglichkeiten geben muß, durch Rationalisierung ihrer Betriebe und Förderung ihres Absatzes im Wettbewerb mit den großen zu bestehen.
Die Bundesregierung mißt der Entwicklung dieser Betriebe deshalb eine besondere Bedeutung bei, weil sie eine gesunde Mischung zwischen den Betriebsgrößen für erforderlich hält und weil gerade in den kleineren Betrieben der schöpferischen Phantasie und dem Vorwärtsstreben des einzelnen Gelegenheit zur Entwicklung gegeben ist.
Auf die Notwendigkeit einer gesunden Finanzpolitik habe ich schon hingewiesen; ich füge folgendes hinzu. Die Bundesregierung hat in den Jahren 1949 bis 1953 finanzpolitisch sich zur Aufgabe gesetzt, die Mittel für die notwendigen Ausgaben des Staates - Wiederaufbau, Erfüllung der Verpflichtungen gegenüber dem Ausland, Erfüllung der sozialpolitisch notwendigen Leistungen - aufzubringen, die Lasten hierbei so abzuwägen, daß das Erstarken der deutschen Wirtschaft nicht gestört wird, bei allem aber den Grundsatz aufrechtzuerhalten, daß die junge deutsche Währung nicht durch eine ungesunde Finanzpolitik gefährdet wird und daß deshalb grundsätzlich die laufenden Ausgaben durch laufende Einnahmen zu decken sind.
Der deutsche Wähler hat diese Finanzpolitik in den Wahlen vom September 1953 in seiner großen Mehrheit gebilligt. Die Bundesregierung wird diese Finanzpolitik fortführen. Die Bundesregierung ist sich dabei bewußt, daß die Steuerlast des deutschen Volkes sehr hoch ist und daß es Ziel der Finanzpolitik sein muß, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß diese Steuerlast gemindert werden kann. Ein erster Schritt auf diesem Weg ist die Gesetzgebung des Jahres 1952/53 gewesen. Die Bundesregierung ist gewillt, diesen Weg weiterzugehen. Sie muß allerdings betonen, daß jede Steuerreform, die eine Minderung der Steuerlasten zum Ziel hat, nur unter der Voraussetzung durchgeführt werden kann, daß die finanzielle Ordnung im Staatshaushalt trotzdem aufrechterhalten bleibt und jede Gefährdung der Währung durch steigende schwebende Verschuldung unterbleibt.
Voraussetzung einer Steuerreform, die gleichzeitig eine Steuerminderung sein will, ist daher eine vorsichtige Ausgabenpolitik, Beschränkung auf die notwendigen Ausgaben.
Eine organische Steuerreform setzt gleichzeitig Klarheit über die Finanzverfassung des Bundes voraus. Die Bundesregierung hat die Vorarbeiten für eine Gesetzgebung auf Grund des Art. 107 des Grundgesetzes bereits seit langem in Angriff genommen. Sie hat eine Studienkommission, zusammengesetzt aus Vertretern des Bundes und der Länder, gebildet, die sich gutachtlich zu allen grundsätzlichen Fragen äußern soll, die eine. Finanzreform aufwirft. Es sind dies die Fragen einer Neuverteilung der Steuerquellen, einer Umgestaltung des Finanzausgleichs unter den Ländern, einer klaren Scheidung der Aufgabenkreise von Bund und Ländern. Die Bundesregierung hofft, daß die eingesetzte Kommission noch in den nächsten Wochen ihre Arbeit beendet hat und daß dann die entscheidenden Besprechungen mit den Ländern beginnen können.
Die Finanzpolitik der letzten Jahre hat die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß der Sparer damit rechnen kann, daß er etwa erworbene langfristige Wertpapiere aller Art jederzeit auf einem kauffreudigen Markt ohne Kursverlust wieder absetzen kann. Die Bundesregierung hat sich durch steuerpolitische Maßnahmen darum bemüht, die Wirtschaft in die Lage zu versetzen, dem Erwerber von Dividendenpapieren angemessene Erträgnisse zu gewähren. Ob und inwieweit diese Maßnahmen zu verstärken sind, unterliegt zur Zeit der Prüfung. Die Entwicklung des letzten Jahres hat bewiesen, daß das Vertrauen des deutschen Sparers gewonnen ist, daß sich Sparkapital bildet. Der Absatz der Wertpapiere - und unter diesen vor allem der festverzinslichen - hat sich erheblich gebessert. Es darf gehofft werden, daß die Voraussetzungen für die Entwicklung eines leistungsfähigen Kapitalmarktes geschaffen sind und mit dem Anwachsen eines solchen Kapitalmarktes mehr und mehr gerechnet werden kann. Die Bundesregierung prüft die Gesetzgebung zur Förderung des Kapitalmarktes dahin, ob nicht steuerliche Maßnahmen, die diese Entwicklung beschleunigen, getroffen werden können. Ist dieses Ziel, einen Kapitalmarkt zu schaffen, erreicht, dann wird die Bundesregierung bemüht sein, an Stelle der öffentlichen Investitionen, die zum Teil aus steuerlichen Einnahmen getragen werden müssen, wieder den natürlichen Weg der Investitionen durch den privaten Kapitalmarkt zu gehen.
Das würde eine Entlastung des Steuerzahlers zur Folge haben und die Voraussetzungen für eine Minderung der Steuerlast schaffen. Die Bundesregierung erwartet, daß damit auch die Voraussetzungen geschaffen werden, um neue vor ihr stehende finanzpolitische Aufgaben zu bewältigen.
Die Bundesregierung muß sich gleichzeitig bemühen, die Mittel aufzubringen, um die Aufgaben, die im außerordentlichen Haushalt jeweils enthalten sind, erfüllen zu können. Bisher war die Bundesregierung gezwungen, die Mittel hierzu durch Aufnahme kurzfristiger Anleihen, also durch schwebende Schulden, zu decken. Zur Gesundung der inneren finanziellen Verhältnisse gehört es, daß sich die Bundesregierung bemüht, ein Ansteigen der schwebenden Schuld zu vermeiden und die zur Erfüllung der Aufgaben des außerordentlichen Haushalts notwendigen Mittel durch langfristige Anleihen zu decken.
Über allem steht die absolute Notwendigkeit einer unbedingten Festigkeit unserer Währung.
Die Goldreserve der Bank deutscher Länder wächst ständig. Sie hat am 31. August 1953 den Betrag von einer Milliarde DM überschritten.
Der Notenumlauf in der Bundesrepublik ist bereits wieder zu 60 % durch Gold und Devisen gedeckt.
Ich komme nunmehr zu den Leistungen und der Lage unserer Landwirtschaft. In den vergangenen vier Jahren ist es gelungen, die Ernährung des deutschen Volkes wieder in normale Bahnen zu bringen. Die Landwirtschaft hat ihre Produktionsleistung so gesteigert, daß die Lebensmittelversorgung in der dicht bevölkerten Bundesrepublik zu zwei Dritteln aus der Inlandserzeugung gedeckt wird. Dabei kann unsere Bevölkerung ihre Lebensmittel zu Preisen einkaufen, die unter dem europäischen Niveau liegen. Auf Grund der Leistungen unserer Exportindustrie konnten in steigendem Maße die noch fehlenden Nahrungsmittel im Ausland gekauft werden, so daß der einheimischen Bevölkerung erfreulicherweise gesunde und preiswerte Lebensmittel zur Verfügung standen.
In ruhigen Zeiten werden sich diese ausländischen Nahrungsmittel immer von selbst anbieten. In Krisenzeiten - wir haben das zu unserem Schaden in der Koreakrise erlebt - erkennt man, daß die sicherste Ernährungsquelle das eigene Land ist.
Es muß rühmlich hervorgehoben werden, daß sich die landwirtschaftliche Erzeugung trotz der aus Kriegs- und Nachkriegszeit herrührenden Schwierigkeiten beachtlich gehoben hat. Sie übertrifft die Vorkriegsproduktion heute um 12 %. Dabei ist sowohl die Flächenleistung wie die Arbeitsproduktivität gestiegen, und der Wiederaufbau des Produktionsapparats kann als beendet angesehen werden. Diese großen Leistungen sind erzielt worden im Rahmen der Gesetze sowie durch den Ausbau entsprechender handelspolitischer Sicherungen, die auf Grund der Richtlinien erarbeitet wurden, die ich in der ersten Regierungserklärung vor vier Jahren niedergelegt habe. Sie behalten auch heute ihre Gültigkeit.
Daß die Landwirtschaft in den letzten anderthalb Jahren nicht mehr voll an dem allgemeinen Aufstieg teilnehmen konnte, liegt daran, daß zur Zeit der Index der Produktionsmittelpreise, insbesondere für Maschinen und Geräte, beachtlich höher liegt als der Index der Preise für landwirtschaftliche Produkte, beides berechnet auf der Basis von 1938. Hier ist also in Zusammenarbeit mit der Industrie zunächst der Hebel anzusetzen. Es wird Sie freuen zu hören, daß aussichtsreiche Verhandlungen zwischen den beiden Wirtschaftspartnern bereits im Gange sind. Ich möchte dringend wünschen, daß hier bald positive Ergebnisse erzielt werden.
Eine Quelle grundlegender Schwierigkeiten ist die augenblicklich bestehende Agrarstruktur. Von insgesamt 14 Millionen ha landwirtschaftlicher Grundfläche sind noch 7 Millionen ha umlegungsbedürftig; d.h. die Hälfte unserer landwirtschaftlichen Nutzfläche ist so zersplittert, daß eine Mechanisierung zur Steigerung der Arbeitsproduktivität erfolglos bleiben muß. Zahlreiche kleine und mittelbäuerliche Höfe liegen in dicht bebauten Dörfern so eingeengt, daß die Anwendung neuzeitlicher Wirtschaftsmethoden und arbeitsparender Maschinen und Geräte für sie unmöglich ist. Wegen des Mangels an Krediten zu tragbaren Bedingungen können zahlreiche nicht lebensfähige Kleinbetriebe eine Vergrößerung, die sie lebensfähig machen würde, nicht vornehmen. Eine Regelung produktionsstörender wasserwirtschaftlicher Verhältnisse ist dringend nötig. Es müssen rechtzeitige Erbauseinandersetzungen möglich gemacht werden, weil heute die Betriebsleiter in hohem Maße überaltert sind.
Die Änderung dieser Zustände liegt nur in seltenen Fällen in den Händen der Betriebsinhaber selbst. Hier versagen auch meist Schulung und Beratung. Rationalisierung und Mechanisierung bleiben theoretische Forderungen. Die Zahl der Betriebe, die unter diesen Verhältnissen leiden, geht in die Hunderttausende. Es ist deshalb schon aus rein wirtschaftlichen und menschlichen Gründen dringend notwendig, eine Verbesserung der Agrarstruktur zu bewirken, die vor allem auch gesunde Arbeitsverhältnisse schafft.
Aber auch noch aus einem andern sehr wichtigen Grunde müssen diese Aufgaben in Angriff genommen werden. Ich glaube daran, daß wir uns in einer stetigen Entwicklung zu einem vereinigten Europa befinden. Die politische Union ist nicht denkbar ohne die entsprechende wirtschaftliche Integration. Unsere Landwirtschaft wird also genau wie unsere übrige Wirtschaft in gemessener Zeit vor der Tatsache des gemeinsamen europäischen Marktes stehen. Durch Maßnahmen der Selbsthilfe und Staatshilfe muß die Leistungsfähigkeit der deutschen Landwirtschaft in einer entsprechenden Übergangszeit so entwickelt sein, daß sie im europäischen Markt konkurrenzfähig ist. Hier stehen wir vor der größten und schwierigsten agrarpolitischen Aufgabe der nächsten Jahre. Eine richtige und durchgreifende Lösung dieses Problems zu finden, ist geradezu eine Schicksalsfrage für unser Volk und insbesondere unsere Landwirtschaft. Die von seiten des Staates einzuleitenden Maßnahmen werden unsere volle Unterstützung finden.
Besonders möchte ich mich noch an die vertriebenen Bauern wenden. Unsere Hilfsmöglichkeiten sind infolge der dichten Besiedlung und der starken Aufsplitterung des landwirtschaftlichen Besitzes sehr beschränkt. Aber es soll und muß auch hier alles versucht werden - ich habe das eben schon kurz erwähnt -, um auf dem Wege über Kolonisation, Siedlung, Ankauf oder Pacht ihre schwierige Lage zu erleichtern und dafür zu sorgen, daß für den Tag der Wiedervereinigung Deutschlands arbeitsfähige und arbeitswillige Bauern vorhanden sind, die die Landwirtschaft im Osten wiederaufzubauen vermögen.
Ich darf in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, daß die landwirtschaftliche Nutzfläche ständig abnimmt. In der Zeit von 1938 bis 1951 einschließlich ist im Bundesgebiet eine landwirtschaftliche Nutzfläche von 74000 ha und ein Forstareal von 22000 ha durch Wohnungs-, Industrie- und Verkehrsbauten, militärische Zwecke usw. der Lebensmittelversorgung und den landwirtschaftlichen Betrieben verlorengegangen. Gegenüber dieser Entwicklung hebe ich hervor, daß eine zwangsweise Inanspruchnahme von Land nur auf Grund der in der Verfassung verankerten Rechte möglich ist. Der Art. 14 des Grundgesetzes, der das Eigentum garantiert, wird voll beachtet.
Auf dem Gebiet der Forst- und Holzwirtschaft ist erreicht, daß der Einschlag auf die Höhe des normalen Zuwachses zurückgeführt ist. Die durch den Raubbau der Kriegs- und Nachkriegsjahre entstandenen Kahlschläge sind wiederaufgeforstet. Die Gefahr für den Bestand des Waldes ist damit beseitigt. Es gilt nun, die inländische Holzerzeugung innerhalb und außerhalb des Waldes durch entsprechende Förderungsmaßnahmen zu steigern.
Nachdem in den vergangenen Jahren die wichtigsten gesetzlichen Grundlagen auf dem Gebiete des Verkehrswesens geschaffen worden sind, wird es nunmehr die vordringlichste verkehrspolitische Aufgabe der Bundesregierung sein, die Bereiche der einzelnen Verkehrsträger aufeinander abzustimmen. Das Ziel wird sein müssen, Eisenbahn- und Straßenverkehr, Binnen- und Seeschiffahrt und künftigen Luftverkehr so zu ordnen, daß bestehende Werte erhalten bleiben und zugleich der höchste Nutzen mit dem geringsten Kostenaufwand erreicht wird. Vor allen wirtschaftlichen Erwägungen steht aber für die Bundesregierung die Frage der Sicherheit für den Menschen in dem ständig wachsenden Verkehr.
Die steigenden Unfallziffern des Straßenverkehrs werden uns eine ernste Mahnung sein müssen, dem Zustand der Straßen unsere besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden sowie die getroffenen Sicherungsmaßnahmen immer wieder auf ihre Richtigkeit zu überprüfen und weiter auszubauen.
Meine Damen und Herren! Zwar hat die Bundesregierung - ich komme zu einem andern Gebiet - in den vergangenen vier Jahren im Zusammenwirken mit den Ländern ihre Aufmerksamkeit der Förderung der wissenschaftlichen Forschung gewidmet. Zunächst die Länder, dann - nach 1949 - Bund und Länder. Sie haben so gut es ging, versucht, die zerstörten Forschungsstätten wiederherzustellen und wissenschaftliche Arbeiten in gemeinsamem Handeln mit den Vertretern der Wissenschaft zu fördern. Es handelt sich hierbei um Fragen von größter wirtschaftlicher Bedeutung; denn die moderne Wirtschaft beruht auf wissenschaftlicher Forschung. Wir sind trotz aller Mühe, auch trotz der Förderung, die die Wirtschaft der Wissenschaft angedeihen ließ, auf großen Gebieten im Rückstand. Einzelne, für die Zukunft entscheidende Gebiete sind noch kaum bei uns in Angriff genommen. Zur wissenschaftlichen Forschung und Arbeit gehören Menschen, gehört Nachwuchs. Diesen Nachwuchs erhalten wir nur dann, wenn er ausreichende Verdienst- und Lebensmöglichkeiten hat. Ich bezweifle, ob das zur Zeit der Fall ist. Hier werden nicht unerhebliche Verbesserungen nötig sein im Interesse der Wirtschaft und damit, des gesamten Volkes.
Die wachsende Überalterung des deutschen Volkes steigt andauernd.
Die Verluste während der beiden Kriege sind nur einer der Gründe dieser erschreckenden Erscheinung. Heute stehen 67 % der Bevölkerung im produktiven Alter, 9 % zählen zu den Alten, 24 % stehen im jugendlichen Alter und sind noch nicht arbeitsfähig. Diese Zusammensetzung der Bevölkerung ändert sich stetig zuungunsten des Prozentsatzes der im produktiven Alter Stehenden, weil die Langlebigkeit wächst und die Geburtenzahl abnimmt. Wenn diese Zusammensetzung sich nicht ändert, wenn nicht durch, konstante Zunahme der Geburten der Prozentsatz der im produktiven Alter stehenden Personen wächst, werden zunächst die Alten von der geringeren Sozialproduktion, die dann notwendigerweise eintreten muß, betroffen werden. Durch Technisierung und Rationalisierung der Wirtschaft wird man den für unser ganzes Volk im Verlauf einiger Generationen vernichtenden Prozeß nicht aufhalten können. Helfen kann nur eines: Stärkung der Familie und dadurch Stärkung des Willens zum Kind.
Die ganze Entwicklung unserer Zeit ist der Gründung einer gesunden Familie abträglich. Es handelt sich dabei nicht nur um ein moralisches Problem; es wirken viele Umstände zusammen. Dieser Entwicklung durch eine zielbewußte Familienpolitik entgegenzuwirken, ist ein wesentliches Anliegen der Bundesregierung. Sie wird alles dazu tun, um die Familie zu fördern, denn nur so kann auf natürliche Weise den Gefahren gesteuert werden, die sich aus der jetzigen Lage für das Volksganze ergeben. Das Gewicht, das die Bundesregierung den bezeichneten Aufgaben beimißt, kommt darin zum Ausdruck, daß ein Ministerium gebildet wird, das sich eigens nur ihrer annimmt.
Der Rahmen für die Entfaltung eines gesunden Familienlebens ist das Heim. Ich wiederhole, was ich schon vorhin gesagt habe: Die Bundesregierung wird es sich besonders angelegen sein lassen, familiengerechte Wohnungen durch Erstellung von Eigenheimen, Kleinsiedlungen und Eigentumswohnungen zu schaffen. Dabei wird sie großen Wert darauf legen, gerade auch kinderreiche Familien zu Wohnungen kommen zu lassen, die ihrem erhöhten Raumbedarf entsprechen.
Das schon in Angriff genommene, bisher aber offen gebliebene Problem, in welcher Weise den Familien durch Gewährung von Kinderbeihilfen ein gewisser Ausgleich für die besonderen finanziellen Lasten zu gewähren ist, die die Bildung und Vergrößerung der Familie mit sich bringt, soll möglichst bald einer Lösung zugeführt werden. Es handelt sich nicht um eine Frage, die lediglich die in der gewerblichen Wirtschaft tätigen Menschen betrifft; sie erstreckt sich auch auf den Bereich der freien Berufe, der Beamten, Angestellten und der landwirtschaftlichen Bevölkerung.
Mit großem Nachdruck wird sich die Bundesregierung wie bisher der Betreuung der heranwachsenden Jugend widmen, insbesondere durch Maßnahmen, die der Bereitstellung der für den Eintritt aller Jugendlichen in das Berufsleben erforderlichen Arbeitsplätze dienen und die die Ausbildung und Ertüchtigung der Jugendlichen in sonstiger Weise fördern. Die heranwachsenden Kinder der Vertriebenen, die in Gemeinden wohnen, in denen es nur begrenzte Ausbildungsmöglichkeiten gibt, werden hier besonders berücksichtigt werden müssen.
In den Rahmen einer solchen Bevölkerungspolitik gehört auch die Förderung der Bildung eines neuen Mittelstandes. Der Begriff Mittelstand, meine Damen und Herren, ist weiter zu fassen, als das in der Vergangenheit geschehen ist. Man kann ihn noch nicht abgrenzen; das wird bei dem ständigen Fluß der Entwicklung vielleicht einmal möglich werden. Keinesfalls ist er dem Umfang und dem Inhalt nach mit dem früher so genannten gewerblichen Mittelstand vergleichbar.
Auch die Probleme, die es hier zu lösen gilt, sind nur zum Teil dieselben wie früher. Es handelt sich nicht nur um wirtschaftliche Probleme. Wir müssen unter allen Umständen dafür sorgen, daß eines vermieden wird: das Auseinanderfallen des Volkes in zwei Schichten, in die Schicht der in der Wirtschaft führenden und die Schicht der in Großbetrieben tätigen oder in ihrer Existenz abhängigen Menschen.
Es ist unmöglich, im Rahmen dieser Erklärung auf alle Fragen einzugehen, die in den einzelnen Bundesministerien bearbeitet und sicher im Laufe der nächsten vier Jahre die Bundesregierung, den Bundestag und den Bundesrat beschäftigen werden. Die Bevölkerung der Bundesrepublik kann jedenfalls darauf vertrauen, daß die Bundesregierung in enger Zusammenarbeit mit den Ländern im Rahmen des durch das Grundgesetz geregelten Aufgabenbereiches alles tun wird, um ihren Lebensstand zu heben und ihr ein freies und sicheres Leben zu gewährleisten.
Eine Aufgabe aber, die wir haben, lassen Sie mich, ehe ich zu außenpolitischen Ausführungen übergehe, mit besonderem Nachdruck hervorheben: das ist die Erfüllung der Verpflichtungen, die wir gegenüber Berlin haben. Wir werden diese Verpflichtungen in vollem Umfange erfüllen.
Wir wissen, welche Opfer die Berliner Bevölkerung für Deutschland, für die freie Welt bringt. Berlin kann sich auf die Bundesrepublik verlassen.
Nun, meine Damen und Herren, lassen Sie mich zu außenpolitischen Ausführungen übergehen. Die Außenpolitik der Bundesrepublik wird sich auch weiterhin mit den folgenden zentralen Problemen zu beschäftigen haben: der Herstellung ihrer eigenen Unabhängigkeit, der Wiedervereinigung Deutschlands, dem Zusammenschluß des freien Europas und der Integration Deutschlands in die europäische Gemeinschaft. Voraussetzung für die Herstellung der völkerrechtlichen Unabhängigkeit der Bundesrepublik ist das Inkrafttreten des Deutschland-Vertrages. Die Bedeutung dieses Vertrages liegt in der Beendigung des Besatzungsregimes, der grundsätzlichen Wiedererlangung der deutschen Souveränität, der vertraglichen Verpflichtung der Westmächte, an der Wiedervereinigung Deutschlands mitzuwirken unter Ausschaltung der Möglichkeit der Einigung der Westalliierten mit der Sowjetunion auf Kosten Deutschlands.
Mit Befriedigung darf ich feststellen, daß unser Verhältnis zur Alliierten Hohen Kommission schon jetzt nicht mehr unter dem Zeichen der Kontrolle und der Bevormundung steht, sondern durch eine vertrauensvolle positive Zusammenarbeit gekennzeichnet ist. Des deutschen Volkes, das in den Bundestagswahlen vom 8. September ein so eindeutiges und unumschränktes Bekenntnis zur bisherigen Außenpolitik der Bundesregierung, insbesondere zu den europäischen Integrationsverträgen abgelegt hat, würde sich aber eine tiefe Enttäuschung bemächtigen, wenn das Zustandekommen des gesamten Vertragswerks, zu dem ja auch der Deutschland-Vertrag gehört, immer weiter hinausgezögert würde. Nachdem das deutsche Volk alles getan hat, um den Weg für die Ratifizierung freizumachen, würde es nicht verstehen, wenn es nicht endlich auch in den Genuß des Status der Unabhängigkeit kommen würde.
Ich hoffe, daß man im Ausland für diese Empfindungen des deutschen Volkes Verständnis aufbringt und ihnen Rechnung trägt.
Das oberste Ziel der Bundesregierung bleibt weiterhin die Wiedervereinigung Deutschlands in Frieden und Freiheit.
Sie hat deshalb auch das in ihren Kräften Stehende dazu beigetragen, daß eine Viererkonferenz zustande kommt und uns diesem Ziel näher bringt. Dabei ist sich die Bundesregierung durchaus bewußt, daß die deutsche Frage nur ein Teilproblem der großen Spannung zwischen dem Ostblock und den Staaten der freien Welt ist. Die Sowjetnote vom 28. September muß uns mit tiefer Enttäuschung erfüllen; denn sie läßt nicht erkennen, daß die Sowjetregierung an einer baldigen Lösung der Deutschland-Frage interessiert ist. Wir wollen trotzdem die Hoffnung nicht verlieren, daß sich Sowjetrußland doch noch bereit finden wird, auf einer Viererkonferenz die Frage freier gesamtdeutscher Wahlen und den Status einer gesamtdeutschen Regierung zu erörtern. Mit der Erörterung dieser beiden Fragen muß begonnen werden; denn nur wenn hierüber eine Einigung erzielt wird, die die demokratischen Grund- und Freiheitsrechte des gesamten deutschen Volkes garantiert, ist der Weg zur Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit freigegeben.
Unsere Sorge muß unterdessen weiterhin der Bevölkerung der sowjetischen Besatzungszone gelten, die am 17. Juni so überzeugend bewiesen hat, daß ihr Freiheitsbegriff mit dem unsrigen und nicht mit dem der dortigen Machthaber identisch ist.
Die materielle Hilfe für unsere Brüder im Osten bleibt eine vordringliche Aufgabe. Durch die Anfang Oktober abgeschlossene Spendenaktion, bei der über fünf Millionen Pakete zur Verteilung gelangten, konnte die dort herrschende Not wesentlich gemildert werden. Es gilt aber, im Hinblick auf den bevorstehenden Winter den mit der alltäglichen Not nach wie vor schwer ringenden Deutschen in der Sowjetzone weiter zu helfen. Die Bundesregierung richtet daher an die Bevölkerung der Bundesrepublik den dringenden Appell, in ihrer Hilfsbereitschaft für die Sowjetzone nicht zu erlahmen und besonders die Liebeswerke der Kirchen und der karitativen Organisationen zu unterstützen. Die Bundesregierung wird von sich aus alles tun, um diese Hilfe des deutschen Volkes so wirksam wie möglich zu gestalten.
Entsprechend den zahlreichen Erklärungen des Bundestags und der Bundesregierung wird das deutsche Volk die sogenannte Oder-Neiße-Grenze niemals anerkennen.
Lassen Sie mich aber eines hier mit allem Nachdruck betonen: Die mit der Oder-Neiße-Linie zusammenhängenden Probleme sollen nicht mit Gewalt, sondern ausschließlich auf friedlichem Wege gelöst werden.
Mit großer Genugtuung und mit Freude begrüßt die Bundesregierung die in letzter Zeit erfolgte Entlassung von 5371 deutschen Gefangenen aus der Sowjetunion. Sie weiß sich mit allen Deutschen in der Hoffnung einig, daß nun endlich auch die vielen Tausende noch in der Sowjetunion verbleibender Gefangenen den Weg in die Freiheit finden und in ihre Heimat zurückkehren können.
Mit Ungeduld warten wir auch auf Regungen der Menschlichkeit in der Sowjetzone. Tausende und aber Tausende Unschuldiger werden zum Teil nun schon seit Jahren in Gefängnissen, Zuchthäusern und Lagern festgehalten. Wir appellieren an die Machthaber in der Zone, die Unschuldigen freizugeben.
In meinen Ausführungen habe ich wiederholt Fragen der europäischen Integration anklingen lassen. Die Politik der Bundesregierung bleibt weiter auf diese Integration ausgerichtet. Die schmerzlichen Erfahrungen, die wir aus der Geschichte Europas in den letzten Jahrhunderten gesammelt haben, haben uns die Gewißheit gebracht, daß der Nationalismus, der die Ursache so vieler Katastrophen gewesen ist, überwunden werden muß. Wir müssen das Leben der europäischen Völker auf wahrhaft neue Grundlagen der Zusammenarbeit an großen praktischen Aufgaben stellen, um den Frieden zu sichern, um Europa wieder zu einem Faktor in Politik und Wirtschaft zu machen. Auf dem Weg zum Zusammenschluß des freien Europas sind bereits wesentliche Schritte getan worden. Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl lebt. Durch die Errichtung des gemeinsamen Marktes für Kohle und Stahl wurde ein wichtiger Schritt zur Beseitigung der Zollschranken und sonstiger nationalstaatlicher Beschränkungen der Wirtschaft getan. Die Hohe Behörde hat es verstanden, in kurzer Zeit die ihr übertragene Stellung einer ersten überstaatlichen Behörde mit Leben und Autorität zu erfüllen. Ein echter Fortschritt im Interesse Europas ist hier erzielt worden.
Die Vorarbeiten für die Schaffung einer europäischen politischen Gemeinschaft schreiten kräftig voran. Die Konferenz der Außenminister-Stellvertreter in Rom in der Zeit vom 22. September bis 10. Oktober hat in wichtigen Fragen eine große Annäherung der Standpunkte erzielt. In anderen bedeutsamen Fragen hat der Meinungsaustausch zu einer Klärung geführt, die, wie ich hoffe, die Beschlüsse der bevorstehenden Konferenz der Außenminister in Haag am 26. November beschleunigen und erleichtern wird. Die Europäische Verteidigungsgemeinschaft nimmt bei den europäischen Integrationsbestrebungen eine besondere Schlüsselstellung ein. Sie ist nicht nur die unerläßliche Voraussetzung für den Frieden in Europa, für den wirkungsvollen Schutz des werdenden Europas, sondern sie ist gleichzeitig auch ein Prüfstein für das Vertrauen der Partner dieser Gemeinschaft untereinander. Ich hege die feste Zuversicht, daß die Ratifizierung des Vertrages über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft, der wegen seiner großen Bedeutung und seiner Auswirkungen auf das innerstaatliche Leben der einzelnen Partner des Vertrages naturgemäß eine umfassende Erörterung aller mit ihm zusammenhängenden Probleme erfordert hat, in den kommenden Monaten erfolgt. Das Inkrafttreten dieses Vertrages wird eine Phase engster Zusammenarbeit der Völker der sechs Vertragsstaaten an der lebensentscheidenden Aufgabe der gemeinsamen Verteidigung einleiten. Seien wir uns klar darüber, daß es sich hier nicht nur um den militärischen Schutz, sondern zugleich um ein hervorragendes Mittel der Erziehung zum Europäer handelt.
So wichtig der Bundesregierung auch in Zukunft der Schutz und die Sicherung der Freiheit des deutschen Volkes sein wird und so sehr sie entschlossen ist, den dafür erforderlichen und dem deutschen Volke gerechterweise zumutbaren Verteidigungsbeitrag zu leisten, so entschieden wird sie sich auch im Rahmen der europäischen Integration für die Sicherung der sozialen und wirtschaftlichen Existenz aller Schichten der Bevölkerung einsetzen. Sie wird deshalb der europäischen Zusammenarbeit nicht nur im allgemeinpolitischen, sondern auch im besonderen sozialen Bereich jede Unterstützung zuteil werden lassen, und sie wird auch bei der Entwicklung neuer Wege und Methoden zu diesem Ziel ihre Hilfe leihen; denn die Bundesregierung sieht in der europäischen Gemeinschaft nicht nur eine unerläßliche rechtsstaatliche Form des zukünftigen Zusammenlebens der europäischen Völker, sie erblickt darin auch nicht nur den Rahmen für ihre militärische Sicherheit und ihre allgemeine wirtschaftliche Entwicklung, sondern sie sieht in der europäischen Vereinigung auch die Voraussetzung für die Herstellung eines dauerhaften sozialen Niveaus, das die Existenzbedingungen von Millionen Menschen entscheidend verbessert.
Daß die Bestrebungen zur europäischen Integration, wie sie in der EVG und in der Montan-Union ihren Ausdruck finden, in keinem Widerspruch zur Politik der Wiedervereinigung Deutschlands stehen, habe ich schon wiederholt ausgeführt. Es ist eine Verkennung der realen Möglichkeiten und Gegebenheiten, wenn man einen Gegensatz zwischen der Politik der Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit und der europäischen Integration konstruieren will.
Frieden und Freiheit sind nicht möglich ohne Sicherheit.
Noch niemand, meine Damen und Herren, der behauptet, zwischen Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit und europäischer Integration bestehe ein unlösbarer Widerspruch, hat sein Geheimnis verraten, auf welche Weise und wodurch die Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit zustande kommen und gesichert werden soll, als auf dem Wege über die europäische Integration.
Es gibt auch keinen anderen Weg zur Wiedervereinigung als diesen durch die europäische Integration, es sei denn, man wäre bereit, auf die Freiheit zu verzichten und ganz Deutschland in die Hände der Sowjetunion zu geben.
Meine Damen und Herren! Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß erst der sich anbahnende Zusammenschluß der freien Völker auch die Voraussetzungen dafür geschaffen hat, daß die Sowjets sich überhaupt zu Verhandlungen über die Frage der Wiedervereinigung bereit finden.
Gerade die Deutschen aus der sowjetisch besetzten Zone haben uns in dieser Auffassung der Sachlage immer wieder bestärkt. In der europäischen Integration sehen wir eine echte Garantie für die Erhaltung des Friedens. Der EVG-Vertrag schließt einseitige Angriffskriege aus, und zwar nicht nur der Partner untereinander, sondern auch gegenüber dritten, an dem Vertragssystem nicht unmittelbar beteiligten Staaten. Das Vertragssystem der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft legt den Partnern eine Beschränkung ihrer Mannschaftsstärke, ihrer Rüstung und ihres Rüstungspotentials auf. Damit ist in diesem System der Ansatzpunkt für ein System der Rüstungsbeschränkung gegeben, wie es Präsident Eisenhower in seiner Rede vom 16. April dieses Jahres vorgeschlagen hat. Wenn die Sowjetregierung guten Willens ist und wirklich den Frieden will, dann können ihr auf der Grundlage dieses Vertragssystems Sicherheitsgarantien geboten werden, die sie etwa noch für nötig halten sollte. Die Bereitwilligkeit, an einem solchen Sicherheitssystem mitzuwirken, ist von der Bundesregierung mehrfach erklärt worden. Diese Bereitwilligkeit bleibt weiterhin bestehen.
Die europäische Integration wird zur Zeit getragen von den Vertragswerken, die die sechs Staaten der Montan-Union und der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft verbinden. Das bedeutet nicht, meine Damen und Herren, daß wir die sogenannte kleineuropäische Lösung als Endziel anstreben. Es ist von allen Beteiligten wiederholt zum Ausdruck gebracht worden und in den Verträgen selbst ausdrücklich festgelegt, daß jeder europäische Staat beitreten kann. Wir sind uns klar darüber, daß Staaten, deren Beitritt wir sehnlich wünschen, durch andere Verpflichtungen vorläufig an diesem Schritt gehindert werden. Ich möchte aber hier nicht versäumen, die positive Haltung der britischen Regierung gegenüber dem europäischen Einigungswerk besonders hervorzuheben. Vor sieben Jahren hat Sir Winston Churchill in seiner historischen Züricher Rede Frankreich und Deutschland aufgefordert, sich als Mitglieder der europäischen Familie die Hand zu reichen. Der Glaube an ein vereintes Europa hat seitdem in vielen Herzen Wurzel geschlagen. Großbritannien selbst hat sich an der Arbeit verschiedener europäischer Organisationen intensiv beteiligt, und es besteht begründete Hoffnung, daß es über die bereits mit den EVG-Staaten abgeschlossenen Verteidigungsverträge hinaus durch weitgehende Assoziierung in ein noch engeres Verhältnis zum europäischen Integrationswerk treten wird.
Die Beziehungen der Bundesrepublik, meine Damen und Herren, zu allen freien Völkern der Welt haben sich fortlaufend normalisiert und verbessert. Der Kriegszustand ist auch formal mit fast allen Völkern der westlichen Welt beendet. Mit nahezu allen ihren Regierungen unterhalten wir heute diplomatische Beziehungen.
Ich brauche nicht zu betonen, daß die Beziehungen zu den einzelnen Partnerstaaten der Integrationsverträge, zu Frankreich, Italien, Belgien, Niederlande und Luxemburg sich in den letzten Jahren besonders intensiviert haben. Es mußten hierbei und es müssen noch schwere Hypotheken abgetragen werden, die uns die Vergangenheit auferlegt hat.
Das gilt besonders für unser Verhältnis zu Frankreich. Eine Gemeinschaft der europäischen Völker kann nur auf der Grundlage gesunder deutsch-französischer Beziehungen aufgebaut werden; ihnen wird die Bundesregierung weiterhin ihre besondere Aufmerksamkeit widmen. Die unmittelbare Aussprache mit der französischen Regierung in Verbindung mit einer gründlichen Vorbearbeitung der schwebenden Probleme auf diplomatischem Wege wird schon in Kürze aufgenommen werden. Die Bundesregierung hofft dabei zuversichtlich, daß es in nicht zu ferner Zeit gelingen wird, auch in der Saarfrage im Geiste der europäischen Zusammenarbeit eine annehmbare Regelung zu finden.
In ganz besonderem Maße haben sich unsere Beziehungen zu den Vereinigten Staaten intensiviert. Wie alle Völker der freien Welt schulden wir den Vereinigten Staaten Dank dafür, daß sie, ihrer großen Aufgabe bewußt, alles in ihren Kräften Stehende tun, um mit den großen Machtmitteln, die sie besitzen, unsere Freiheit zu schützen und überall in der Welt die Kräfte zu stärken, die mit unseren Auffassungen von Demokratie und Recht übereinstimmen. Wir schulden den Vereinigten Staaten aber auch Dank für die große Hilfsbereitschaft, die sie in Vergangenheit und Gegenwart dem deutschen Volk und nicht zuletzt unseren tapferen Brüdern und Schwestern in der Ostzone erwiesen haben.
Dieser Dank gilt auch der britischen Regierung, die in den letzten Jahren für die deutschen Probleme so viel Verständnis gezeigt hat und durch ihre positive Haltung einen wirksamen Beitrag zum Aufbau Europas leistet.
Ich komme zum Schluß, meine Damen und Herren. Die Außenpolitik der Bundesregierung ist in allen ihren Bestrebungen ausschließlich darauf gerichtet, für die vielen Probleme, die uns Gegenwart und Zukunft stellen, Lösungen zu suchen, die dem friedlichen Ausgleich dienen. Meines Erachtens gibt es kein Problem, und sei es noch so kompliziert und schwer, für das nicht mit den Mitteln der Verhandlung eine weitaus dauerhaftere Regelung erreicht werden könnte als mit den Mitteln der Gewalt, aus der, wie uns die Vergangenheit lehrt, nur immer neue Konflikte geboren werden. Dies gilt in erster Linie für den großen Ost-West-Konflikt. Deutschland wird alles in seinen Kräften Stehende tun, um zusammen mit allen denen, die guten Willens sind, an einer Entspannung und friedlichen Bereinigung mitzuwirken. Denn, meine Damen und Herren, ich glaube, ich kann sagen, wir alle sind fest davon überzeugt, daß die Menschen dieser Erde, seien es nun Deutsche, Amerikaner, Engländer, Franzosen oder Russen, nichts heißer ersehnen als einen dauerhaften Frieden.“
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