Psychologie politischer Reden und Kommunikation

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Politische Psychologie: Denkorientierungen und Denkmuster von Führenden in der Politik

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CMC Forschungsprojekt WORTSTROM

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Politische Reden: Recherche und digitale Dokumentation im Rahmen des Forschungsprojekts WORTSTROM.

 

Dr. Peter Niebisch

 

 

Einführung

 

Fast jeden Tag werden dutzende neue politische Reden im Internet veröffentlicht. Mit anderen Worten: Für die inhaltsanalytische Erschließung von politischen Reden steht prinzipiell eine schier unerschöpfliche Informationsquelle zur Verfügung. Aber auch genau darin liegt das Problem. Die große Menge an potenziell vorhandenen Reden erfordert eine klar definierte Recherche- und Dokumentationssystematik, die für das Forschungsprojekt WORTSTROM angelegt wurde. Die digitale Dokumentation und inhaltliche Erschließung des Redematerials stehen dabei im Vordergrund der folgenden Betrachtung.

 

 

Recherche, Aufbereitung und Bestand

 

Für die Zusammenstellung des Redematerials wird auf einen definierten Pool von zuverlässigen und offiziellen Redequellen im Internet zurückgegriffen. Dazu gehören u.a. die Webseiten bundesregierung.de, bundestag.de (Plenarprotokolle), die Seiten der einzelnen Bundesministerien, der Bundestagsfraktionen und der Parteien sowie auch die Webseiten einzelner Politiker oder politikrelevanter Personen. Zunächst werden die Reden in einem Verzeichnis, zumeist als HTML- oder PDF-Datei, gesichert. Dieser Bestand liegt derzeit bei rund 22 Tsd.

 

Die Vorbereitung der Redetexte für die inhaltsanalytische Verkodung erfolgt in einen gesonderten Prozess-Schritt. Hierbei werden die Reden zunächst in ein reines Textformat überführt sowie mit einem standardisierten Titelformat und Dateinamen versehen. Anschließend werden Titel und Dateinamen in einer Datenbank registriert.

 

In aller Regel müssen die Reden nachbearbeitet werden. Dies betrifft u.a. die Zwischenrufe bei Plenarprotokollen, die Entfernung von Sonderzeichen (z.B. $ durch Dollar) oder auch die Vereinheitlichung von Zahlenformaten (z.B. 12000 statt 12.000).

 

Zur Zeit (Stand 2011) sind rund 4,5 Tsd. Reden von 280 Politikern (und einigen „politiknahen“ Rednern, wie z.B. Gewerkschaftsführern, Verbands- und Konzernchefs, politischen Philosophen und Literaten, „Revolutionären“, etc.) im sofort auswertbaren Bestand. Dies entspricht einem Gesamtkorpus von ca. 23 Tsd. Seiten Text mit rund 11 Millionen Worten.

 

 

Dokumentationsziele

 

Ziel ist es, für jeden erfassten Politiker einen möglichst großen Redenbestand aufzubauen, was allerdings für Politiker vor dem Internetzeitalter schwierig und zeitraubend ist. Bei älteren Reden wird daher auf entsprechende Buchveröffentlichungen von politischen Reden zurückgegriffen (z.B. Deutscher Klassiker Verlag, Politische Reden I bis IV, im Zeitraum von 1792 bis 1990).

 

Im Schwerpunkt werden Reden aus dem deutschsprachigen Raum (einschließlich DDR) seit 1945 gesammelt. Für Vergleichszwecke sind aber auch - zumeist historisch bedeutsame oder auch politisch brisante - Reden vor dieser Epoche dokumentiert.

 

Hinzu kommen Reden ausländischer Politiker (insbesondere aus Europa und den USA), sofern ihre Reden in authorisierter Übersetzung vorliegen. Regierungs- und Oppositionspolitiker werden gleichermaßen berücksichtigt, ebenso parlamentarische und nicht-parlamentarische Reden sowie wichtige Statements bzw. Erklärungen auf Pressekonferenzen und/oder in den Rundfunk-Medien.

 

 

Klassifikation und inhaltliche Erschließung der Reden

 

Für die Realisierung einer Studie unter einer konkreten Fragestellung wird man selten auf alle dokumentierten Reden gleichzeitig zurückgreifen wollen. Zumeist werden auf Politiker- und Redenebene Zufallsstichproben oder auch in vielen Fällen bewusste Auswahlen benötigt. So gesehen ist eine „Nur-Zusammenstellung“ von Redetexten für die empirische Forschung nicht ausreichend.

 

Will man beispielsweise eine vergleichende Untersuchung für Politiker aus verschiedenen Parteien, zu einem bestimmten Themenkomplex, in einer bestimmten Zeit, etc. durchführen, sollte das Redematerial so aufbereitet sein, dass entsprechende Zugriffe sicher und vor allem schnell erfolgen können. Dazu ist eine Anreicherung der Redetexte mit Zusatzinformationen notwendig - Linguisten sprechen in diesem Fall von Annotation.

 

Politische Reden werden in unterschiedlichen Kontexten gehalten. Große oder kleine Regierungserklärungen verlaufen nach anderen Spielregel wie z.B. Haushaltsdebatten, Wahlkampfreden, innerparteiliche Grundsatzreden, Gedenkreden oder auch sogenannte Eröffnungsreden (etwa bei der CeBIT, der Hannover Messe, etc.). Aus verhaltenswissenschaftlicher Sicht bestimmt neben der Persönlichkeit des Redners (z.B. mehr oder weniger stabile Einstellungen, Überzeugungen, Denkmuster, etc.) vor allem der Kontext, die Situation das (Verbal-) Verhalten. Dementsprechend dürften Inhalt und Stil der Kommunikation mit verschiedenen Kontexten deutlich variieren. Aus diesem Grund werden die Redetexte derzeit mit einem differenzierten System von Redesituationen klassifiziert. Dieser erste Schritt in der Annotierung ist zwar schon recht aufwendig, wirft aber verhältnismäßig wenig Probleme auf.

 

Deutlich kritischer ist demgegenüber die inhaltliche Erschließung. Das übliche Verfahren ist hier die Extrahierung und Zusammenstellung von thematischen Schlagworten (Keywords) für jeden Text - und zwar durch Kodierer. Bei großen Textmengen ist ein solches Vorhaben  extrem aufwendig und fehleranfällig. Dementsprechend fiel der Entschluss, diese Aufgabe mit Hilfe des computergestützten Knowledgemanagements anzugehen und vorab verschiedene Programmkonzepte durchzutesten.

 

Unser derzeit favorisiertes Programm ist InfoRapid KnowledgeMap Professional Version 2010 (von Ingo Straub). Eine Beschreibung der Programmfunktionen ist in der Rubrik „Annotation“ (auf dieser Website ) zu finden. Außerdem können Sie dort anhand einer kleinen Auswahl an Reden aus unserem Rede-Archiv die Programmfunktionen ausprobieren (Annotationsdatenbank auf www.wortstrom.info ).

 

Von besonderer Bedeutung bei der Programmauswahl war für uns folgende Funktion: Das Programm berechnet die Ähnlichkeit von Texten für einen zuvor ausgewählten Text und erstellt eine Liste thematisch vergleichbarer Texte von sehr ähnlich bis weniger ähnlich in absteigender Reihenfolge. Diese Funktion ist von uns ausführlich getestet worden. Zwei Beispiele:

 

a) Am 3.10.2003 hielt Martin Homan, ein Politiker der CDU, eine Ansprache zum Nationalfeiertag, die kurze Zeit später zu seinem Parteiausschluss führte. Der Vorwurf war, dass seine Rede in struktureller und inhaltlicher Sicht nationalsozialistische Züge aufwies. Schon eine kurze Analyse seiner Ansprache zeigt dies tatsächlich - insbesondere mit Blick auf seine Wortwahl. Die Frage war nur, ob dies durch das Programm bestätigt werden würde.

 

Hierzu wurde ein umfangreicher Test mit den Redetexten von 264 Politikern durchgeführt. Für diese Politiker wurden alle derzeit verfügbaren Reden jeweils in einer Textdatei zusammengefasst, so dass das Programm insgesamt 264 Textdateien miteinander verglich. Die Ansprache von Homan weist nach den Berechnungen von KnowledgeMap tatsächlich die höchste (inhaltliche) Ähnlichkeit mit den Reden von Joseph Goebbels und Adolf Hitler auf, was in dieser Klarheit so nicht erwartet wurde.

 

b) Fragt man das Programm beispielsweise nach ähnlichen Redetexten für Erich Honecker, zeigt das Programm die Texte fast aller erfassten DDR-Politiker an (in absteigender Reihenfolge: Walter Ulbricht, Willi Stoph, Kurt Hager, Egon Krenz, Oskar Fischer, Horst Dohlus, Konrad Naumann, Hermann Axen, Günter Mittag, Joachim Herrmann).

 

So interessant solche und ähnliche Ergebnisse aus dem Programmtest auch sein mögen, sollen sie an dieser Stelle nur eines aufzeigen: Nämlich den Wert einer digitalen Dokumentation politischer Reden im Rahmen eines Knowledgemanagement-Programms. Wie gezeigt wurde, leistet eine solche Dokumentation offensichtlich wesentlich mehr als nur einen systematischen Zugriff auf eine geordnete Zusammenstellung von politischen Reden.

 

 

Nutzen und Bewertung

 

Eine solche umfassendere, digitale Dokumentation hat schon einen „Wert an sich“ für die Forschung. Zwar gibt es eine Vielzahl von Redequellen (wie dargestellt), die aber nach umfangreichen Recherchen alle recht eng fokussiert sind:

 

Parteien oder Fraktionen veröffentlichen halt nur die Reden „ihrer“ Politiker, auf der Webseite bundesregierung.de findet man ausschließlich Reden von Regierungspolitikern (insbesondere Bundeskanzler-Reden), bundestag.de veröffentlicht nur parlamentarische Reden aus dem Bundestag, bei bundespraesident.de sind lediglich die Reden der Bundespräsidenten zu finden und bei „Abgeordnetenwatch“ besteht für nachgefragte Politiker ein Link zu gefilmten Bundestagsreden im Rahmen von Parlaments-TV, etc. Allein schon aus Kapazitätsgründen sind bei vielen dieser Webseiten die Inhalte „flüchtiger“ als erwartet und im Nachhinein, z.B. nach einer Legislatur- oder Amtsperiode, nur noch schwer zu beschaffen.

 

Die wenigen übergreifenderen textlichen Redensammlungen (z.B. bei wikipedia.org) sind zudem unsystematisch aufgebaut, nicht oder nur kaum annotiert, stellen die Texte in einer nicht sofort inhaltsanalytisch-verarbeitungsfähigen Form zur Verfügung, haben einen zu geringen Umfang an Reden und weisen nicht weiter explizierte Selektionsprioritäten auf.

 

Weiterhin ist davon auszugehen, dass eine solche Dokumentation zwar in erster Linie für die politische Wissenschaft von Interesse ist, aber nicht ausschließlich. Sie erscheint ebenso interessant für Fragestellungen aus der Führungs-, Kultur- und Wertewandelforschung. Biografen und Rhetoriker sowie Historiker, Gesellschafts-, Sozial- und Medienwissenschaftler fänden in einer solchen Datenbank reichhaltiges Belegmaterial (z.B. mit Bezug auf Fragestellungen zur Agenda-Setting-Forschung). Psychologen, insbesondere mit den Schwerpunkten Sozialpsychologie, Kommunikationsforschung, Psycholinguistik, Verhaltens- und Kognitionswissenschaften, konzentrieren sich zunehmend auf „reale“ Sprach- und Kommunikationsprozesse und nicht zuletzt sind empirisch orientierte Linguisten fast immer auf der Suche nach geeigneten Textkorpora (z.B. für Fragestellungen zur politischen Sprache). Die Aufzählung ist sicherlich noch nicht erschöpfend.