Psychologie politischer Reden und Kommunikation

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Politische Psychologie: Denkorientierungen und Denkmuster von Führenden in der Politik

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Tabellen

Regressive Imagery Dictionary (RID)

 

Kognitionspsychologischer Hintergrund

 

Kognitionspsychologen sind „Dem Denken auf der Spur“ (Gardner, 1989). Den vielfältigen theoretischen Ansätzen ist dabei gemeinsam, dass sie den Menschen als informationsverarbeitendes System verstehen. Wie Menschen Informationen aufnehmen, abwehren, kategorisieren, speichern, aktualisieren und weiter verarbeiten (z.B. Probleme lösen) steht im Zentrum der Forschungen.

 

In den letzten Jahren hat sich dabei eine Forschungsrichtung etabliert, die sogenannte Kognitive Linguistik, die sich besonders mit dem Verhältnis von Denken und Sprache auseinandersetzt. Denken und Sprechen werden dabei als aufeinander bezogene, aber dennoch als getrennte Prozesse gedacht.

 

Unterstellt wird dabei, dass einer „Sprachproduktion" eine mehr oder weniger lange Phase der gedanklichen Planung vorausgeht (Konzeptualisierungsphase), bei der der Kommunikator „die Informationen auswählt, die (er) mit einer bestimmten Intention mitteilen will“ (Schwarz, 2008, 208). Anschließend erfolgt die „Übersetzung“ in einem mehrstufigen Prozess in Aussagen (Artikulationsphase). So gesehen ist das, was kommuniziert wird, ein Spiegelbild des Denkens - präziser, der gedanklichen Konzeptualisierung. Natürlich wirkt dann das, was sprachlich ausgedrückt wurde, zurück auf das weitere Denken.

 

Wie Schwarz in diesem Zusammenhang weiterhin betont, „ … können Textanalysen einerseits helfen, das persuasive Potenzial solcher Texte transparent zu machen und andererseits dazu beitragen, die Konzeptualisierungsmuster der Textproduzenten kritisch zu reflektieren" (2008, 235).

 

Allerdings scheint man derzeit noch mehr mit der Frage beschäftigt zu sein, wie genau dieser Übersetzungsprozess von Konzeptualisierung zu Artikulation formal verläuft. Neuere empirische Studien zu dem von Schwarz angedeutetem textanalytischen Forschungsprogramm scheinen noch Mangelware zu sein.

 

Hingegen hat Colin Martindale, ein Kognitions- und Literaturpsychologe, schon Mitte der 70er Jahre die Ergebnisse eines umfangreichen Forschungsprogramms veröffentlicht, mit dem das Verhältnis von Denken und Kommunizieren vor dem Hintergrund literatur- bzw. kunstpsychologischer Fragestellungen untersucht wurde (1975, 1990). Martindale arbeitete inhaltsanalytisch, entwickelte und validierte ein umfangreiches (computergestütztes) Diktionärsystem, den Regressive Imagery Dictionary (RID), mit dem es möglich ist, stilistische Charakteristiken des Denkens über bestimmte sprachliche Merkmale zu erfassen.

 

Nach Neisser (1974) wird seit langem eine Unterscheidung zwischen zwei kognitiven Prozessen anerkannt, die u.a. mit folgenden Gegensätzen beschrieben werden:

 

 

Das Denken scheint sich zwischen den jeweiligen Polen hin und her zu bewegen, wobei Menschen dazu tendieren können, sich auf diesem Kontinuum mehr auf der einen oder anderen Seite zu „aufzuhalten“. Insofern beschreiben die beiden Enden der Dimension unterschiedliche, konträre Arten des Denkens (Denkmodi), die man, sofern sie „chronisch einseitig“ sind, als kognitive Stile betrachtet werden können.

 

Die Unterscheidung von primär- und sekundärprozesshaftem Denken geht auf Freud (1911) zurück. Martindale greift diese Begrifflichkeit auf, ohne aber die Implikationen der Freudschen Annahmen mit zu übernehmen (1975, 16). Den kognitiven Primärprozess bezeichnet er als regressiv bzw. als ursprünglich (primordial), während er den Sekundärprozess als konzeptionell bezeichnet. Wichtig ist nun, wie Martindale die Unterschiede zwischen regressivem und konzeptionellem Denken charakterisiert:

 

„By regression we mean an alteration in state of consciousness entailing a movement toward archaic, undifferentiated modes of thought and perception. … Development, or the opposite of regression, has been seen primarily in the movement from childhood to adult thought, from primitive to civilized thought, and from hypnagogic states through reverie and fantasy to normal, waking consciousness … The basic characteristic of regressive thought is dedifferentiation“ (1975, 16-17).

 

In ähnlicher Weise hat Neisser den Unterschied zwischen Primär- und Sekundärprozess beschrieben:

 

„Der Primärprozess ist eine multiple Aktivität, ..., die auf der Basis gespeicherter Informationen grob geformte Gedanken oder Ideen konstruiert. Seine Funktionen sind denen der präattentiven Prozesse beim Sehen und Hören vergleichbar. Seine Produkte sind nur in verschwommener Weise bewusst, wenn sie keine Bearbeitung durch Sekundärprozesse erfahren. Die sekundären Prozesse des gerichteten Denkens und der absichtlichen Erinnerung sind der fokalen Aufmerksamkeit beim Sehen vergleichbar. Sie sind serieller Natur und konstruieren Gedanken und Vorstellungen, die teilweise von der vorläufigen Organisation der Primärprozesse und zu einem weiteren Teil von Wünschen und Erwartungen bestimmt werden“ (1974, 380-381).

 

Die Tabelle zeigt eine Gegenüberstellung der Merkmale regressiven und konzeptionellen Denkens. Während im konzeptionellen Denken das Operative und Instrumentelle im Vordergrund steht, ist ursprüngliches, regressives Denken mit dem charakterisierbar, was in der Alltagssprache häufig mit (Tag-) Träumerei, Fantasie (-vorstellungen), illusionärem, entrücktem, realitätsvergessenem, ausschweifendem Denken, etc. beschrieben wird. Wenn man so will, ist es eine Form des introvertierten, in sich geschlossenen Denkens, bei dem die äußere Realität mehr oder weniger ausgeblendet ist und ein Gedanke unwillkürlich den nächsten hervorbringt, ohne dass das Denken dabei irgendeine bewusste Richtung einschlägt. Das ist nichts außergewöhnliches und bei jedem Menschen immer wieder beobachtbar (z.B. beim Autofahren, wenn man sich „entspannen“ will, etc.). Baars schreibt in diesem Zusammenhang:

 

„ … Forschungsergebnisse zeigen, dass Menschen den größten Teil ihres Bewusstseinsstroms Dingen widmen wie Fantasien, Träumen, unzusammenhängenden Gedanken und zweifelhaften Überzeugungen. Der Bewusstseinsstrom scheint, wie William James so treffend geschrieben hat, ein reichlich verworrender und willkürlicher Vorgang zu sein, der immer wieder ins Stocken gerät und von einem unfertigen Gedanken zum nächsten springt. … Strukturiertes Denken ist eine relativ junge Errungenschaft unserer Kultur“ (1998, 162-162).

 

Die ungerichtete und undifferenzierte Form kognitiver Aktiviät wird im Alltag häufig nicht als produktives Denken angesehen. Wie allerdings Martindale hervorhebt, entstehen in diesem Denkmodus häufig neue, außergewöhnliche, kreative Ideen, diffuse Zielvorstellungen, Visionen, etc.:

 

„Conceptual thought cannot produce novel ideas. … Primordial thought, beeing free-associative and undirected, increases the probability of novel combinations of mental elements“ (1990, 57).

 

Nebenbei sei bemerkt, dass mit vielen Kreativitätstechniken (z.B. dem Brainstorming) ja versucht wird, die Teilnehmer vom konzeptionell-strukturierten Denken „wegzulocken" hin zu einer mehr assoziativen Denkform, die offensichtlich zu weniger konventionellen und damit kreativeren Ideen führt.

 

Letztlich basieren die literaturpsychologischen Studien von Martindale genau auf diesen Annahmen. Seine zentrale These ist, dass stilistische Änderungen in der Literatur sowie generell in der Kunst mit einem Anstieg regressiven Denkens verbunden sind. Verallgemeinert ausgedrückt: Die Zunahme regressiven Denkens ist ein Indikator für im weitesten Sinne kulturelle Veränderungsprozesse. Mit einer Vielzahl von inhaltsanalytischen Studien - über verschiedene Kunstgattungen und Zeitepochen hinweg - zeigt er die Evidenz seiner These auf. Selbst für den wissenschaftlichen Bereich scheint seine Annahme Geltung zu haben: Bezugnehmend auf Thomas S. Kuhn (Die Stuktur wissenschaftlicher Revolutionen, 1962) kann er zeigen, dass die Wende vom behavioristischen zum kognitiven Paradigma in der Psychologie mit einer entsprechenden Zunahme regressiver Inhalte in den wissenschaftlichen Publikationen einherging (1990, 340-368).

 

 

Beschreibung des inhaltsanalytischen Messverfahrens

 

Bei der Entwicklung des RID-Verfahrens ging Martindale davon aus, dass sich der jeweilige Denkmodus in der Bezugnahme auf bestimmte sprachliche Konzepte zeigt: Im Falle regressiven Denkens vor allem auf solche, die mit Trieben, Bedürfnissen und (Sinnes-) Empfindungen (z.B. Berührung, Geschmack, Geruch, Hören, Sehen, Bewegung, Passivität/Ruhe, Chaos, Unbekanntes, Grenze, Durchgang, etc.) zu tun haben, während instrumentell-konzeptionelles Denken sich in der Bezugnahme z.B. auf Sozialverhalten, instrumentelle Handlungen (fordern, produzieren, reparieren, verwenden, etc.), einschränkende und ordnende Verhaltensweisen, konkrete zeitliche Bezüge und moralische Imperative zeigt.

 

Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch, dass Martindale zwischen Bedürfnissen/Empfindungen einerseits und Emotionen/Affekten andererseits unterscheidet, was auch durch seine faktorenanalytischen Studien nahe gelegt wird. Ausführlich dokumentiert ist das System in „Romantic Progression“, der ersten umfassenden Veröffentlichung von Martindale (1975) zu diesem Ansatz.

 

Das RID-Verfahren umfasst 43 Teildiktionäre, die dann durch Summierung zu drei Kerndimensionen verdichtet werden: Primär-, Sekundär- und Emotionsprozess.

 

Allerdings hat Martindale zumeist nur mit den ersten beiden Gesamtkategorien gearbeitet - es scheint so, dass er die dritte Kategorie nur zu Kontrollzwecken eingesetzt hat. Berechnet wird zumeist das Verhältnis von primär- und sekundärprozesshaften Inhalten. Der daraus resultierende „Primary Index“ (Regressionsindex) variiert zwischen 0 und 1 - je höher der Wert, desto höher ist der Anteil regressiver Inhalte gegenüber konzeptionellen. Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über das Diktionär-System.

 

Es liegt eine Vielzahl von Untersuchungsergebnissen vor, die nicht (nur) aus einer kunst-psychologischen Forschung heraus produziert wurden und die Konstruktvalidität des RID-Verfahrens stützen.

 

U.a. untersuchten Emrich, Brower, Feldman & Garland (2001) mit dem RID-Verfahren die Reden amerikanischer Präsidenten. Sie vermuteten einen Zusammenhang zwischen Rhetorik und dem Charisma einerseits sowie ihrer (historischen) Bedeutung andererseits. Charisma und Bedeutung ließen sie durch Historiker einschätzen. Untersucht wurden die Antrittsreden sowie die jeweils wichtigste Rede des betreffenden Präsidenten - ebenfalls nach Einschätzung von Historikern.

 

Die Ergebnisse waren erwartungsgerecht. Eine stärkere „image-based“ (gegenüber einer „concept-based“) Rhetorik war deutlich positiv verbunden mit dem eingeschätzten Charisma - zunächst bezogen auf die Antrittsreden (Studie 1). Bei der Analyse der jeweils wichtigsten Reden (Studie 2) zeigten sich positive Zusammenhänge sowohl mit Charisma als auch mit der eingeschätzten historischen Bedeutung. Zusammenfassend stellen die Autoren fest:

 

„Together, these findings suggest that the successful articulation and enactment of a leader's vision may rest on his or her ability to paint followers a verbal picture of what can be accomplished with their help“ (2001, 527).

 

Mit ihrer Arbeit betonen Emrich, Brower, Feldman & Garland vor allem den Wirkungsaspekt einer anschaulich-bildhaften Sprache. Wie u.a. Baars (1998) aufzeigt, scheint unser Denken deutlich „aufgeschlossener“ zu sein gegenüber konkreten, sinnesnahen (Kommunikations-) Inhalten als gegenüber abstrakten, sinnesfernen Konzepten. Insofern bestätigen die Ergebnisse von Emrich, Brower, Feldman & Garland nur einen durchaus bekannten Zusammenhang - nun eben bezogen auf den politisch-rhetorischen Bereich.

 

Die Studien von Martindale und Kollegen verdeutlichen vor allem, dass regressives und konzeptionelles Denken nicht nur unter dem Aspekt des mehr oder weniger „Konkreten und Anschaulichen“ (in der Kommunikation) gesehen werden sollte. Hinter den Dimensionsendpunkten scheinen sich auch unterschiedliche Wahrnehmungs- und Denkhaltungen zu verbergen, die etwas darüber aussagen, in welchem Verhältnis jemand (gerade) zur „Realität“ steht.

 

Seit langem wird in der Psychologie davon ausgegangen, dass man der Realität eher analytisch, rational, utilitaristisch oder eben - das wäre das Gegenteil - ganzheitlich, intuitiv, idealisierend begegnen kann (vgl. u.a. Jaspers, 1990, Erstveröffentlg. 1954; Spranger, 1965, Erstveröffentlg. 1950).

 

Das Verhältnis von regressivem und konzeptionellem Denken beschreibt damit mehr eine generelle „Geisteshaltung“, eine weltanschauliche Perspektive mit weitreichenden Konsequenzen für das Handeln. Dass Martindale genau dieses im Auge hatte, und nicht nur ein Maß für die Konkretheit und Abstraktheit von Textinhalten entwickeln wollte, wird schon am Titel der ersten umfassenden Arbeit „Romantic Progression“ deutlich. Wie Russel (2007, Erstveröffentlg. 1950, 684-692) aufzeigte, ist romantisches Denken vor allem mit einer Rückbesinnung auf das „Ursprüngliche“ verbunden, u.a. die Betonung des Intuitiven, die Hinwendung zum einfachen Leben, zum Idealen und Ästhetischem, aber auch zum Irrationalen, Mystischen, Märchenhaften, Volkstümlichen - also eine „Geisteshaltung“ (Denkorientierung), die man zusammengefasst als ganzheitlich, intuitiv und idealisierend kennzeichnen kann.

 

Diese Überlegungen haben durchaus ihre Entsprechung im politischen Bereich, insbesondere dann, wenn zwischen politischen Realisten und Idealisten unterschieden wird. Man denke z.B. an die damalige Unterscheidung zwischen „Realos“ und „Fundis“ bei den Grünen. Laut DUDEN ist ein Realo ein „Angehöriger der Partei der Grünen, der sich in seinen Grundsätzen (im Unterschied zum Fundamentalisten) an den realen Gegebenheiten orientiert“, was letztlich als Ausdruck einer eher analytisch-rationalen, utilitaristischen Denkorientierung verstanden werden kann.

 

Schlussbemerkung: Inzwischen liegen modifizierte und erweiterte Versionen des RID-Verfahrens in englischer Sprache vor. Im Rahmen des Forschungsprojekts WORTSTROM wird allerdings mit der Ursprungsversion von Martindale - in deutscher Übersetzung von Delphendahl und in Überarbeitung von Matthias Romppel gearbeitet.