Psychologie politischer Reden und Kommunikation

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Politische Psychologie: Denkorientierungen und Denkmuster von Führenden in der Politik

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Politische Rede im Wortlaut

 

Helmut Schmidt: Bundestagserklärung zum Terrorismus am 15.09.1977

 

Redeanalyse (Kommunikationsprofil)

 

 

„Herr Präsident, meine Damen und Herren!

 

Weder die Bürger unseres Staates noch ihre gewählten Repräsentanten im Deutschen Bundestag erwarten heute, daß ich Auskunft über Schritte gebe, die wir für sinnvoll und geboten halten, um für Hanns Martin Schleyer die Freiheit zurückzugewinnen. Aber jedermann hat einen Anspruch auf ein verantwortliches Wort des Bundeskanzlers.

 

Dabei respektiere ich den Wunsch der Opposition, bei meiner Erklärung die für heute vorgesehen gewesenen Themen der Außenpolitik, des Wachstums und der Beschäftigung auszuklammern - wenngleich es sich dabei um Fragen von entscheidender Bedeutung für unser Gemeinwesen handelt.

 

Ich beschränke mich auf die unmittelbare Notlage. Dabei will ich auf Ursachen und Hintergründe des Terrorismus, auf dessen Bekämpfung, auf die Vorbeugung, auf die notwendige geistig-politische Auseinandersetzung mit dem Terrorismus jetzt nicht eingehen. Ich will heute morgen keinerlei Anlaß zur Kontroverse bieten.

 

Mir liegt am Herzen, zunächst Millionen Deutscher zu danken, die in diesen Tagen an Hanns Martin Schleyer und seine Familie denken; insbesondere auch denjenigen zu danken, die das Handeln des Staates mit Vertrauen begleiten und die ihren gewählten Abgeordneten und den staatlichen Repräsentanten mündlich und brieflich ihr Vertrauen ausgedrückt und ihren Rat angeboten haben.

 

Ich schließe in diesen Dank auch die Redaktionen in den Medien ein, von denen ein hohes Maß an Zurückhaltung und Kooperationsbereitschaft erwartet, aber in den meisten Fällen auch tatsächlich geleistet worden ist.

 

Besonderer Dank gilt den Angehörigen der Polizei, der Justiz und der anderen für unsere Sicherheit tätigen Organe. Diese in gefährlichen Berufen Tätigen haben unser Vertrauen und unsere Solidarität.

 

Ich erwähne in diesem Zusammenhang aber auch die Partei- und Fraktionsvorsitzenden, die Mitglieder des Deutschen Bundestages, die - ob Opposition oder Koalition - in diesen Tagen der Bundesregierung und den betroffenen Landesregierungen mit Ratschlag und mit Entschlußkraft zur Seite stehen.

 

Die betroffenen Ministerpräsidenten, ihre Landesminister und die Bundesregierung haben bisher, alles in allem, ein heute über zehn Tage andauerndes hohes Maß an enger Abstimmung miteinander erreicht. Ich vertraue darauf, daß diese allseitige Zusammenarbeit bis zur Lösung der schlimmen Zwangslage andauern wird, in die uns das terroristische Verbrechen gebracht hat.

 

Die Mordanschläge und die Entführung richten sich gegen ihre unmittelbaren Opfer, richten sich aber zugleich auch - darin ist dem Präsidenten des Bundestages beizupflichten, der dies heute vor einer Woche in der Trauerbekundung des Deutschen Bundestages so gesagt hat - gegen unsere freiheitliche Ordnung im Ganzen, gegen jede menschliche Ordnung überhaupt, und sie richten sich damit gegen jeden einzelnen von uns.

 

Deshalb stehen wir auch tatsächlich zusammen. Die Bundesregierung und die vier Ministerpräsidenten konnten sich bei allem, was in den letzten zehn Tagen zu entscheiden, zu tun oder zu unterlassen war, jeweils auf die einmütige Meinung derjenigen stützen, die uns in dieser Sache regelmäßig ihren Rat leihen.

 

Dies geschieht übrigens nicht, um Verantwortung zu verwischen; das wäre ein Mißverständnis. Es handelt sich nicht darum, die notwendigen Entscheidungen auf so viele Schultern zu verteilen, daß nachträglich die Verantwortlichkeit nicht mehr erkennbar wäre. Vielmehr finden wir es angesichts des schweren Verbrechens und angesichts der Bedeutung des Lebens des einzelnen selbstverständlich, gemeinsam nachzudenken, gemeinsam zu beraten - unabhängig von unserer persönlichen Zugehörigkeit zu verschiedenen Verfassungs- und Staatsorganen, zu verschiedenen Parteien und verschiedenen Bundestagsfraktionen. Das haben wir zur Zeit der Entführung unseres Kollegen Lorenz so gehalten, das haben wir im Falle des Anschlages auf unsere Stockholmer Botschaft so gehalten, und dies ist auch heute und morgen so der Fall.

 

Die eben erwähnten früheren Geiselnahmen - wie auch zum Beispiel die Geiselnahme durch ausländische Terroristen zur Zeit der Olympiade in München - geschahen alle unter jeweils verschiedenen Umständen. Wir haben inzwischen rund 70 Fälle von Geiselnahme in anderen Staaten der Welt sorgsam analysiert, die mit Nötigung oder Erpressung gegen die jeweilige Regierung verbunden gewesen sind.

 

Aus den gewonnenen Erkenntnissen ergibt sich, daß - von einer Ausnahme abgesehen - Regierungen nicht im Vorwege Regeln für ihr Verhalten aufstellen oder gar veröffentlichen können, sondern daß sie sich in jedem einzelnen Falle verantwortlich entscheiden müssen. Diese Verantwortung heißt: nichts zu versäumen und nichts zu verschulden.

 

Nicht immer lassen sich diese beiden Maximen miteinander vereinbaren. Aber sie gelten sowohl für die Bundesregierung als auch für die Landesregierungen; sie gelten für Journalisten genauso wie für Politiker; sie gelten ebenso für jeden Bürger: nichts zu versäumen und nichts zu verschulden.

 

Die Erregung über die Morde in Karlsruhe, im Taunus, in Köln und über die Entführung des Herrn Schleyer ist allenthalben in unserem Volk, sie ist ebenso im Auslande zu spüren. Zu jeder Stunde ist uns am Beratungstisch gegenwärtig, was unsere Mitbürger empfinden. Wir sind selbst tief erregt. Es braucht sich deshalb niemand zu sorgen, daß wir in unseren Überlegungen vernachlässigen könnten, was außerhalb unserer Beratungen gedacht und empfunden wird. Buchstäblich niemand braucht sich darum zu sorgen. All unser Sinnen und Planen ist darauf gerichtet, eine Lösung und ein Ergebnis zu erreichen, die mit unseren sittlichen und rechtlichen Grundüberzeugungen und mit unserem Glauben an die Grundwerte einer freiheitlichen Gesellschaft übereinstimmen. Wir werden an dieser Linie festhalten.

 

Vor zwei Jahren habe ich bei einem ähnlichen Verbrechen gesagt, wir seien bereit, bis an die Grenzen dessen zu gehen, was uns der Rechtsstaat erlaubt und was er uns gebietet. Es entspringt dieser Bereitschaft, daß wir in der gegenwärtigen Lage nicht nur die wegen terroristischer Gewalttaten rechtskräftig Verurteilten, sondern auch die solcher Aktivitäten dringend Verdächtigen, also Strafgefangene ebenso wie Untersuchungsgefangene - und wessen Urteil noch nicht rechtskräftig ist, ist auch noch Untersuchungsgefangener -, während dieser Tage auch von dem Verkehr mit ihren Verteidigern abgeschnitten haben. Mehrere Gerichte haben dies gutgeheißen. Ein anderes Gericht hat an der Rechtfertigung dieser durch Landes- und Bundesbehörden verfügten Maßnahme gezweifelt. Uns erscheint dieser Schritt zur Abwendung einer erheblichen Gefahr für Menschenleben als eine im Augenblick unabweisbare Notwendigkeit.

 

Uns erreichen vielerlei Ratschläge, die über solche Maßnahmen weit hinausgehen wollen, bis hin zu dem Vorschlag von Repressionen und Repressalien, die sich gegen das Leben einsitzender Terroristen richten. Ich will dem Bundestag dazu meine Überzeugung nicht verhehlen: Androhen kann man nur, was man auch tatsächlich ausführen will und was man tatsächlich ausführen darf.

 

Drohungen mit Schritten, die unsere Verfassung brechen würden, sind deshalb untauglich. Die Mitglieder der Bundesregierung und auch ich selbst haben vor dem Bundestag geschworen, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes zu wahren und zu verteidigen.

 

Ich habe den festen Willen, diesem Eid zu gehorchen.

 

Gleichzeitig will ich ebenso deutlich erklären, daß ich zur Erörterung jedes ernsthaften Rechtsgedankens, der uns in bezug auf zukünftige Gesetzgebung vorgetragen wird, bereit bin. Es ist klar, daß solche Erörterungen einerseits nur in Verantwortung für das Ganze und nur auf dem Fundament der tragenden Eckpfeiler unseres Grundgesetzes möglich sind; es ist andererseits klar, daß sie auch streitig geführt werden können, wenn der Zeitpunkt für solche Erörterungen gekommen sein wird.

 

Wir alle werden dabei den Staat nicht auf den Weg zu jenem Ende drängen lassen, welches die Terroristen unserer freiheitlichen, demokratischen Grundordnung zugedacht haben. Der Staat, den sie für ohnmächtig halten, den sie zu unterminieren trachten, dieser Staat ist keineswegs ohnmächtig. Er wird am Ende den Terrorismus besiegen, weil die breitesten Massen unseres Volkes den Terrorismus verabscheuen.

 

Wir können uns auch auf innere Zustimmung und tatsächliche Kooperation, auf öffentlich bekundete Zustimmung und Hilfsbereitschaft anderer Staaten stützen. Unsere Partnerstaaten im Bündnis und in der Europäischen Gemeinschaft haben hinsichtlich der Meinungsfreiheit eine ähnliche Grundstruktur wie wir selbst. So, wie wir ertragen müssen, daß ekelhaft-zynische Schmähschriften bei uns gedruckt und verbreitet werden können, ehe es zur Strafverfolgung kommt, so gibt es dergleichen auch im Ausland.

 

Einige ausländische Zeitungen haben sich anläßlich der terroristischen Verbrechen, besonders der geistigen, der geistig-politischen Lage in Deutschland zugewandt. Es mag hier und da, wie gestern eine unserer Zeitungen schrieb, die Neigung geben, die als ungeheuerlich empfundenen terroristischen Taten nicht nur einem extremistischen Wahnsinn zur Last zu legen, sondern - wie es dort hieß - einem deutschen Wahnsinn überhaupt, der periodisch ausbräche. In solche Feuer werden wir kein Öl schütten. Wir haben das auch im Falle der Flucht Kapplers nicht getan. Wir verurteilen Verbrechen, die 1944 in Italien oder 1977 in Deutschland begangen worden sind, mit der gleichen Abscheu. Wir verurteilen den Bruch der Rechtsordnungen unserer Partner ebenso wie einen Bruch unserer eigenen Rechtsordnung.

 

Die Tat von Köln ist Mord. Die Täter sind Mörder. Ein Mord, bei dem behauptet wird, er diene einem politischen Zweck, bleibt nichtsdestoweniger Mord.

 

Die Vorstellung der Terroristen, sie führten einen ‚Krieg’ - wie sie sagen -, ist eine absurde Vorstellung. Die Bundesregierung will ihrer Überzeugung getreu das Recht bewahren. Sie will keine - wie sie es nennen - ‚militärische’ Lösung; sie will, dem Auftrag des Grundgesetzes gemäß, das Recht bewahren und weiteres Blutvergießen vermeiden. Deswegen haben wir auf indirekten Wegen Kontakte mit den Entführern hergestellt; wir werden diese Kontakte mit Geduld und mit Beharrlichkeit fortsetzen.

 

In diesen Tagen haben herausragende Personen aus unserem Geistesleben und aus den Kirchen an die Entführer appelliert, unter ihnen Bischof Moser von Rottenburg und Landesbischof Class. In ähnlicher Weise ist eindringlich appelliert worden an diejenigen, welche die Entführung unterstützt haben oder sie noch unterstützen. Ebenso ist appelliert worden an solche, die Sympathie geäußert haben. Ich kann Appelle nicht qualifizieren, die von der Absicht getragen sind, die Entführer abzubringen von der Fortsetzung ihrer Untaten, die von der Absicht getragen sind, das Leben des Entführten zu retten. In vielen Fällen stammt der Appell von wahrlich kritischen Mitgliedern unserer Gesellschaft. Gleichwohl. Wir wiederholen diesen Appell, wir wiederholen diesen Aufruf: Beenden Sie Ihr irrsinniges Unternehmen!

 

Sie irren sich: Wir werden uns von Ihrem Wahnsinn nicht anstecken lassen.

 

Sie halten sich für eine ausgewählte kleine Elite, welche ausersehen sei - so schreiben Sie -, ‚die Massen zu befreien’. Sie irren sich: Die Massen stehen gegen Sie.

 

Sie wollen die Funktionstüchtigkeit unseres demokratischen Gemeinwesens unmöglich machen, Sie wollen demokratische Politik schlechthin unmöglich machen. Sie irren sich: Niemand im Bundestag, der die freiheitliche demokratische Grundordnung nicht verteidigen wird!

 

Die Arbeit in unserem Lande geht weiter. Die Arbeit des Parlaments und der Regierung geht weiter. Die Bundesregierung hat gestern wichtige haushalts-, finanz- und beschäftigungspolitische Beschlüsse gefaßt. Wir haben lange daran gearbeitet. Wir werden uns von den Terroristen keine Vernachlässigung unserer Aufgaben, keine Untätigkeit aufzwingen lassen.

 

Ich begrüße es deshalb, daß der Bundestag heute mit der Beratung der ihm vorgelegten wichtigen Steuervorlagen beginnen wird. Es ist selbstverständlich, daß es dabei nicht ohne parlamentarischen Streit abgehen kann. Es ist eine normale und zugleich eine zentrale Führungsaufgabe des Parlaments in jeder Demokratie, streitig die verschiedenen politischen Grundströmungen eines Volkes öffentlich vorzutragen und sodann den Streit durch Mehrheit zu entscheiden.

 

Dies wird auch zukünftig so bleiben. Aber ebenso - so vertraue ich - werden wir auch in Zukunft dann und dort zusammenstehen, wenn und wo es um die Abwehr einer uns alle gemeinsam bedrohenden akuten Gefahr geht.

 

Wir werden entschlossen den inneren Frieden und die politische Stabilität der Bundesrepublik bewahren. Wir brauchen dazu in diesen Tagen viel an innerer, selbstauferlegter Disziplin, sogar Gelassenheit. Ich weiß, daß dies für viele schwer ist. Für mich selbst ist es auch schwer. Aber diese Selbstbeherrschung ist ein notwendiger Ausdruck unserer Gesinnung und unserer Verantwortung.

 

Am Schluß ein Gedanke an die Jüngeren. Wir Älteren, die Diktatur und Gewalt, Zuchthäuser und Vertreibung, Elend und Not erlebt haben, wir wissen, was Krieg ist. Deshalb haben wir gearbeitet für den Frieden. Deshalb arbeiten wir heute für den Frieden, für den Frieden nach außen und für den Frieden nach innen.

 

Gewiß mögen wir Fehler machen. Gewiß mögen wir Versäumnisse begehen. Gewiß mögen die Ergebnisse unserer Arbeit die Erwartungen von Jüngeren enttäuschen. Aber eines wissen wir - wir wissen es genau: Nie hat es in Deutschland für junge Menschen so viele Rechte, so viel Freiheit, so viel soziale Sicherung, so viele Bildungs- und Lebenschancen gegeben, wie sie Ihnen im Laufe der drei Jahrzehnte des Aufstiegs der zweiten deutschen Demokratie eröffnet worden sind.

 

Lassen Sie uns den Jungen gemeinsam zurufen: Erwerben Sie auch innerlich Ihre demokratische Bürgerschaft in unserem Gemeinwesen, nehmen Sie sie an, um sie einzusetzen zur demokratischen Gestaltung des zukünftigen Lebens Ihrer eigenen Generation! Gestaltung durch Überzeugen - nicht durch Gewalt!“