Psychologie politischer Reden und Kommunikation

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Politische Psychologie: Denkorientierungen und Denkmuster von Führenden in der Politik

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CMC Forschungsprojekt WORTSTROM

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Motive in der Politik. Die Messung von impliziten Motiven in politischen Reden.

 

Dr. Peter Niebisch

 

 

Einführung

 

Politische Reden sind vielschichtige Dokumente der politischen Kommunikation, die unter diversen Gesichtspunkten analysiert werden können. Was uns im Rahmen des Forschungsprojekts WORTSTROM vor allem interessiert, ist die Frage, was diese Reden über die betreffenden Politiker/innen selbst aussagen - im weitesten Sinne über ihre Persönlichkeit, genauer gesagt: über ihre Denkorientierungen und Denkmuster.

 

Hierzu wurde in den letzten Jahren eine Infrastruktur aufgebaut, mit deren Hilfe wir denken, inzwischen Antworten auf eine solche Frage geben zu können: Dazu zählt einerseits die Sammlung/Dokumentation politischer Reden von interessierenden Politikern und andererseits die Auswahl, Evaluation und Entwicklung von Diktionären für die computergestützte Inhaltsanalyse. Die Diktionärsysteme (DOTA, RID, SymTex) sind (auf dieser Seite ) dokumentiert, so dass wir hier auf eine ausführliche Beschreibung verzichten. Inzwischen liegen eine ganze Reihe von Untersuchungsergebnissen vor. Teile davon sind ebenfalls auf dieser Seite veröffentlicht.

 

Insbesondere unser Grundlagenstudien legen den Schluss nahe, dass mit DOTA und ausgewählten Diktionären aus SymTex (politische) Motive gemessen werden (vgl. Niebisch, 2016a - auf dieser Website ).

 

Motive bestimmen vor dem Hintergrund politischer Situationen maßgeblich mit, welche generellen Einstellungen oder Absichten Politiker/innen hegen, welche politischen Ziele sie für attraktiv erachten und wie sie sich in Konflikten verhalten. Insofern wäre die Kenntnis der Motivstruktur eines Politikers (oder einer politischen Gruppe) hilfreich für die (nachträgliche) Erkärung als auch (mit Einschränkungen) für die Prognose von politischen Entscheidungen bzw. Handlungen. Defensiver ausgedrückt: Zumindest aber geben solche Motivstrukturen Hinweise auf die politische Weltanschauung und das Denken von Politikern.

 

Im Rahmen dieser Arbeit soll diese Thematik näher diskutiert werden. Dazu wird zunächst der Frage nachgegangen, was Motive aus psychologischer Sicht genau sind und wie sie üblicherweise gemessen werden. Aufbauend darauf werden einige unserer Untersuchungsergebnisse aus unseren Validierungsstudien dargestellt, die uns veranlassen, von einer motivationspsychologischen Perspektive auszugehen.

 

 

Motive aus psychologischer Sicht

 

Motivationspsychologen fragen nach dem „Warum“ eines bestimmten Verhaltens. Sie gehen davon aus, dass Handlungen durch bestimmte (latent vorhandene) Motive gesteuert werden, die ihrerseits durch situative Anreizbedingungen angeregt werden und zu einer zielgerichteten Aktivierung führen - was dann als Motivation bezeichnet wird (Salewski & Renner, 2009, 152-153).

 

Mit Motiven sind demgemäß genetisch bedingte oder gelernte Persönlichkeitsdispositionen gemeint, während der Begriff Motivation den Prozesscharakter hervorhebt (sich oder andere motivieren, sich für eine Sache motiviert fühlen, etc.). Motive als Persönlichkeitsmerkmale gelten als relativ stabil. Sie werden ganz offensichtlich schon in jungen Jahren geprägt.

 

Ob Motive im weitesten Sinne mit Zielen, Absichten, etc. gleichgesetzt werden können, wird unter Motivationspsychologen kontrovers diskutiert. Während einige von ihnen Ziele als konkrete „Übersetzungen“ von Motiven betrachten, sehen andere Motive und Ziele als getrennte Aktivierungssysteme, die nicht aufeinander bezogen sein müssen.

 

Wieviele und welche Motive zu unterscheiden sind, ist ebenfalls bis heute umstritten. Weitgehende Einigkeit zwischen den verschiedenen Theorieansätzen scheint allerdings darin zu bestehen, dass wie Salewski & Renner schreiben, „Hunger, Durst, Sexualität oder Schutz als typische angeborene physiologische Motive verstanden werden, während Leistung, Macht, Anschluss und Intimität eher zu den psychologischen Motiven gezählt werden“ (2009, 153).

 

Ein Blick in die einschlägige Literatur - insbesondere der „Heckhausen-Schule“ (vgl. u.a. Heckhausen, 1980; Heckhausen & Heckhausen, 2010; Kuhl, 2001; Scheffer 2005; Schmalt & Langens, 2009) - zeigt , dass sich die Forschung der letzten Jahrzehnte vor allem auf fünf Motivbereiche konzentriert hat:

 

 

Insbesondere die ersten drei gelten als recht gut erforscht, wobei einige Fachvertreter dazu tendieren, sie als psychologische Kernmotive zu betrachten. Schmalt & Langens schreiben dazu:

 

„Als brauchbar hat sich erwiesen, drei große Klassen von Zielen zu unterscheiden, nämlich mit Artgenossen zusammen zu sein, Einfluss auf die dingliche und soziale Umwelt zu haben und Unsicherheit zu reduzieren. … Diese Liste … hat sich als praktikabel erwiesen, sie ist aber weder endgültig noch erschöpfend. Versuche, solche endgültig verbindlichen Listen von Motivationsformen zu erstellen, sind so alt wie die Persönlichkeits- und Motivationspsychologie - sie sind alle Näherungslösungen, … universell verbindlich sind sie allerdings alle nicht“ (2009, 14).

 

Es ist in diesem Zusammenhang wichtig, intensiver auf die einzelnen Motive und ihre Abgrenzungen einzugehen. Wie Motive generell zu verstehen sind und was die einzelnen Motivklassen voneinander unterscheidet, wird dabei besonders deutlich, wenn man die Messmethoden der Motivationspsychologie näher betrachtet.

 

Man kann Personen einfach nach ihren Motiven fragen, z.B. was ihnen besonders wichtig ist oder was für sie im Leben weniger bedeutsam erscheint, etc. Hierzu werden in aller Regel standardisierte Fragebögen verwendet. Allerdings stellte sich hierbei schnell heraus, dass mit dieser Praxis offensichtlich nur explizite Motive erfasst werden, also mehr die rationalen Annahmen und Ideen (das Selbstbild) darüber, was für das eigene Handeln an Motiven maßgebend ist.

 

Die Annahme war, dass die „tieferliegenden“ und „wirklichen“ Motive für das Bewusstsein nur schwer bis gar nicht zugänglich sind. Den Grund dafür sieht z.B. Kuhl (2001) darin, dass die Vielfalt der motivationsrelevanten Erfahrungen und Erinnerungen vor allem in einem funktionalen Bereich unseres Gehirns verkodifiziert sind, in seiner Terminologie dem „Extensionsgedächtnis“, dem nur schwer, und wenn höchstens ausschnitthaft, mit rationalem Denken beizukommen ist.

 

Solche basaleren Motive werden nach heutigem motivationspsychologischen Sprachgebrauch als implizit bezeichnet. Wie Salewski & Renner betonen, sind vor allem sie es, die das Verhalten (mehr oder weniger unbewusst) beeinflussen, „indem sie immer wieder zu einer Hinwendung zu ähnlichen Themen und dem Aufsuchen ähnlicher Situationen führen“ (2009, 154).

 

Schon in den 40er Jahren entwickelte Henry Murray ein Testverfahren, mit dem es offensichtlich besser möglich ist, implizite (tiefere) Motivstrukturen zu erfassen - den Thematischen Apperzeptionstest (TAT). Das Verfahren wird den sogenannten projektiven bzw. operanten Tests zugerechnet, deren Grundidee darin besteht, dem Probanden bestimmte Stimuli zu präsentieren (z.B. Tintenkleckse, Wortlisten, Satzfragmente, etc.) auf die dann vom Probanden reagiert werden soll. Beim TAT sind es Bilder, mit denen zumeist soziale Situationen dargestellt sind. Die Bilder sind bewusst unscharf, verschwommen und vor allem mehrdeutig interpretierbar. Die Probanden werden aufgefordert, zu diesen Bildern eine Geschichte zu erzählen - wenn man so will, die Situation zu deuten.

 

Was aber passiert nun mit den transkripierten Kommentaren? Sie werden nach einem Auswertungsschlüssel einer Inhaltsanalyse unterzogen, mit der nach (z.B. macht-, leistungs- oder anschluss-) thematischen Bezügen gesucht wird. Die Häufigkeit solcher Inhalte und sprachlichen Ausdrücke in den Geschichten gibt dann Aufschluss darüber, aus welcher thematischen Perspektive die Situation gedeutet wurde. Hierbei wird davon ausgegangen, das die Probanden ihre eigenen Bedürfnisse, Gedanken, Gefühle, etc. - und somit letztlich ihre dominanten Motive - in das Bild unbewusst hineinprojiziert haben.

 

Exkurs: Beim TAT werden die Inhaltsanalysen von geschulten Kodierern vorgenommen, was recht arbeitsaufwendig ist und nicht immer befriedigende Kodierübereinstimmungen erbrachte. Dies hat in den letzten Jahren dazu geführt, das Verfahren hinsichtlich möglicher Antworten auf die Bilder stärker zu standardisieren (vgl. vor allem Scheffer, 2005; Schmalt, 1976), um damit die Auswertung zu vereinfachen und/oder die Antworten der Probanden auf wesentliche motivationsrelevante Aspekte zu fokussieren - z.B. beim Operanten Motivtest von Scheffer: „Was ist für die Person in dieser Situation wichtig und was tut sie?“ und „Wie fühlt sich die Person?“ (147-155). Die grundsätzliche Idee, mit den Bildern zunächst eine „Projektionsfläche“ anzubieten und die Antworten auf diese als Reflexion der Motivwelt der getesteten Personen zu betrachten, ist allerdings gleich geblieben.

 

Aber was macht Motivationspsychologen, die mit solchen Verfahren arbeiten, nun so sicher, dass die Reaktionen ihrer Probanden tatsächlich Motive wiederspiegeln?

 

Entscheidend ist hier die Annahme, dass Motive als Wahrnehmungsfilter fungieren - oder wie Scheffer es fomuliert als „Torwächter der Wahrnehmung“ (2005, 127). Menschen mit unterschiedlichen Motivausprägungen nehmen, so die Annahme, sich und ihre (soziale) Umwelt mit anderen thematischen Kategorien wahr. Scheffer konkretisiert dies am Beispiel von hoch bindungs-, leistungs- und machtmotivierten Personen:

 

Eine Person mit hohem Bindungsmotiv „nimmt Situationen … vorrangig vor dem Hintergrund von Bindung bzw. Beziehung, Nähe, Distanz oder Anschluss wahr. Sie bewertet andere Menschen stark durch die Kategorien Sympathie und Antipathie“ (2005, 99). Während das Denken von hoch leistungsmotivierten Personen „stark auf Professionalität, Sachthemen und Problemlösungen ausgerichtet ist. … Entscheidungen werden nicht nach Gefühlen der Sympathie oder Antipathie anderen gegenüber, sondern nach Rationalität und Effizienz ausgerichtet“ (100). Und schließlich bei hoch machtorientierten Personen: „Einfluss und Durchsetzung eigener Ideen und Werte sind für sie wichtig“ (101).

 

Von daher gesehen wird es auch verständlich, wenn Motive als Bewertungsdispositionen definiert werden: „Wir halten … fest, dass sich die Motivationspsychologie mit Zielen, konkret mit zielgerichtetem Verhalten, beschäftigt. Die Tatsache, dass Personen sich darin unterscheiden, welche Ziele sie verfolgen, wird darauf zurückgeführt, dass sie diese Ziele unterschiedlich bewerten. Diese unterschiedliche Bewertung von Zielen geschieht durch das Motiv, das deswegen auch als Bewertungsdisposition bezeichnet wird" (Schmalt & Langens, 2009, 16).

 

 

Zwischenfazit

 

Wir stellen zusammenfassend fest, dass sich Motivationspsychologen vor allem um implizite Motive bemühen, die nicht nur einfach erfragt werden können, sondern mit Hilfe qualitativ-inhaltsanalytischer Verfahren erfasst werden. Diese Verfahren sind - trotz aller Vereinfachungsversuche - noch recht aufwendig und erfordern zudem die Reaktion von Probanden in Testsituationen.

 

Was den Aufwand betrifft gilt dies im Übrigen auch für solche Methoden, mit denen „political leaders at a distance“ studiert worden sind - also insbesondere anhand von qualitativen Inhaltsanalysen ihrer politischen Reden (und Schriften) mit Hilfe recht komplexer Kodiermanuale (vgl. u.a. Winter, 1994, 2005).

 

Für uns stellte sich dabei die Frage, ob diese Verfahren (vor allem mit Blick auf die Analyse von vielen politischen Reden) nicht grundlegend vereinfacht werden können. Aus motivationspsychologischer Perspektive sind es doch letztlich nur die thematischen Denk-Kategorien, die jemand verwendet, von denen aus auf eine bestimmte Motivausprägung geschlossen wird bzw. werden kann. Beispiel:

 

Die überdurchschnittlich häufige Bezugnahme auf Ausdrücke wie z.B. Beziehungspflege, Brüderlichkeit, Freundschaft, Gemeinschaft, Integration, Kameradschaft, Kollegialität, Miteinander, Solidaritätsgefühl, Teamgeist, (Un-) Treue, Wirgefühl, etc. kann aus unserer Sicht schon als ausreichender Hinweis (Indikator) gewertet werden, dass beim Kommunikator ein starkes Bindungsmotiv vorliegt. Die Person scheint die „Welt“ vorrangig aus dieser Perspektive heraus zu betrachten und zu bewerten.

 

Genau solche sprachlichen Ausdrücke werden aber mit einigen der SymTex-Diktionäre erfasst, so dass es schon von daher nahelag, einen motivationspsychologischen Blickwinkel einzunehmen. Implizite Motive wären dann als dominante Denkorientierungen anzusehen, die anhand inhaltsanalytischer Diktionäre - auf der Ausdrucks- und Phrasenebene (feststehende Wortverbindungen) - relativ einfach gemessen werden können.

 

Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang, dass solche Annahmen einem schon entwickelten inhaltsanalytischem Instrumentarium im anglo-amerikanischen Sprachraum zugrunde liegen - der sogenannten Leadership Trait Analysis (Hermann, 2002).

 

Vor dem Hintergrund dieser Ausgangsüberlegungen stellen wir hier zwei empirische Studien vor, die aus unserer Sicht unsere Argumentation stützen.

 

 

Erste Studie

 

Bei der ersten handelt es sich um eine faktorenanalytische Studie, anhand derer wir den Gesamtzusammenhang zwischen fast allen SymTex-Kennwerten sowie zwei Indexwerten des DOTA-Verfahrens (referentielle und operative Prägnanz) geprüft haben (vgl. dazu die Rubriken „Diktionäre“ und „Dimensionen politischer Kommunikation“ auf dieser Website).

 

Ziel der explorativen Faktorenanalyse ist es, Variablen ausfindig zu machen, die untereinander hoch korrelieren (also einen Faktor bzw. eine Komponente bilden), aber mit anderen Variablen (-sätzen) korrelativ kaum oder gar nicht in Beziehung stehen. Die Güte der gefundenen Faktorenlösung wird an der gesamten Varianzaufklärung abgelesen: Je „reiner“ und unabhängiger die einzelnen Faktoren sind, desto größer ist dieser Wert.

 

Gerechnet wurde bei dieser Analyse über alle bis dahin erfassten 264 Politiker/innen auf der aggregierten Ebene - also pro Politiker/in ein Datensatz über alle (seine/ihre) bei uns vorhandenen Reden. Das Ergebnis ist in Tabelle 1 in der linken Teil-Tabelle  zu sehen.

 

Tab. 1: Ergebnisse der explorativen Faktorenanalyse und motivationspsychologische Bezüge.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Es zeigt sich eine Fünf-Faktoren-Struktur (grau unterlegte Zellen), deren Stabilität anhand verschiedener zufallsgenerierter Teilstichproben geprüft wurde. Zudem konnte mit Hilfe hierachischer Clusteranalysen und Multidimensionalen Skalierungen (MDS), also alternativen clusterbildenden Verfahren, die gefundene Variablenstruktur bestätigt werden.

 

Aber was sagen die einzelnen Faktoren aus? Dazu ist es sinnvoll, die Zusammensetzung der einzelnen Komponenten näher zu betrachten.

 

Faktor 1 zeigt einen engen Zusammenhang zwischen ideologie-, konfrontations- und machtthematischen Ausdrücken an. Die Kategorie Wettbewerb (Konkurrenz, Sieg, Triumph, etc.) war bei den Stichprobenberechnungen unterschiedlich eng, aber immer ausschließlich, an diesen Faktor angebunden, so dass es sinnvoll erscheint, diese Variable trotz mäßiger Faktorladung dieser Dimension zuzuordenen. Relativ eng mit dieser Komponente verbunden sind außerdem wohlfahrtsthematische Ausdrücke (Frieden, Gerechtigkeit, Chancengleichheit, Gleichberechtigung, etc.). Zudem, und das ist wichtig, ist dieser Faktor in hohem Maße mit dem eigentlichen Dogmatismuskennwert Referentielle Prägnanz korreliert, was mit einem gewissen Schwarz-Weiß-Denken, der Tendenz zur Polarisierung sowie mit einer utopisch-fiktional-visionären Denk- und Zukunftsorientierung einhergeht. Kurzum: Politiker, die auf diesem Faktor hohe Werte erreichen, scheinen in ihrem Denken geprägt zu sein von ideologisch-machtpolitischen Visionen, einerseits verbunden mit einer konfrontativ-dogmatischen Konkurrenzhaltung und andererseits mit mehr oder weniger fiktionalen Vorstellungen von einer besseren, gerechteren, friedlicheren, … Welt. Das tragende Element ist das Denken und Kommunizieren in ideologisch-machtvisionären Kategorien, warum dieser Faktor mit der Kurzform Domination gelabelt wurde.

 

Kennzeichnend für den Faktor 2 ist ein gewisser Negativismus, d.h. die starke Betonung von kommunikativen Kategorien mit denen das Schlechte, das Unangenehme, das Mangelhafte, das Verwerfliche, das Zerstörerische, etc. hervorgehoben wird. Leitvariable ist hier die Kategorie Negative Emotion, eng verbunden mit negativen Bewertungen, der Thematisierung von destruktiven Aspekten sowie (allerdings etwas weniger stark) der Verwendung von Schimpf- und Kraftausdrücken (Beschimpfung). Die Kategorien Abstraktion und Wandel korrelieren deutlich negativ mit diesem Faktor, was nochmals den negativ-emotionalen Charakter dieses Faktors betont. Es scheint also nicht um rationale Problemlösungen (im weitesten Sinne) zu gehen, sondern in erster Linie um das Problematisieren und Emotionalisieren von Missständen, Miseren, etc., was vor allem als mahnendes Element verstanden werden kann. Von daher gesehen ist es auch nicht mehr verwunderlich, wenn religionsthematische Bezüge eng mit diesem Faktor verbunden sind. Für diesen Faktor erscheint das Kurzlabel Lektion recht passend. Laut DUDEN ist eine Lektion einerseits eine Lesung aus der Bibel und andererseits eine einprägsame Belehrung bzw. auch eine Zurechtweisung (z.B. „eine bittere Lektion“, „das soll dir eine Lektion sein“, „eine heilsame Lektion“, etc.).

 

Die Variablen Konformität, Gemeinschaft, Wohlfahrt, Stabilität, Positive Sanktion und Sicherheit bilden den Faktor 3. Mit ihm werden ganz offensichtlich soziale bzw. gesellschaftliche Bindungskräfte thematisiert. In der sozialpsychologischen und soziologischen Literatur wird in diesem Zusammenhang von Kohäsion gesprochen (u.a. Cartwright & Zander, 1953; Wiswede 1998, 166). Seit Maslow (1954) dürfte ein weitgehender Konsens darüber bestehen, dass das Leben in sicheren und einigermaßen stabilen Verhältnissen, die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, in der es ehrlich, fair, gerecht, friedlich, etc. zugeht sowie Erfolg und soziale Anerkennung, mit zu den zentralen Bedürfnissen fast aller Menschen gehören. Konformität (z.B. Pflichtgefühl, Verantwortungsbewusstsein, Gleichgesinntheit, Respekt, etc.) gegenüber den Spielregeln und Praktiken einer Gemeinschaft, in der diese Bedürfnisse weitgehend befriedigt werden können, stellt sich dann schon fast zwangsläufig ein.

 

Mit Rückgriff auf die grundlegenden sozialpsychologischen Studien von Lewin zur Dynamik in Gruppen in den 40er Jahren (zsfd. Lippitt & White, 1975) wird dem Bindungsfaktor Kohäsion ein Bewegungsfaktor gegenübergestellt, der als Lokomotion bezeichnet wird und sich in Faktor 4 wiederzuspiegeln scheint. Im Kern geht es um die Bewältigung von Herausforderungen, denen eine Gemeinschaft gegenüber steht, um Produktivität und Leistung, um den Wandel der äußeren Rahmenbedingungen und damit einhergehend um die Neugestaltung und Weiterentwicklung der Lebens- und Arbeitsverhältnisse im sozialen Gefüge. Interessanterweise korreliert dieser Faktor negativ mit Selbstbestimmung, was allerdings dann nicht weiter verwundert, wenn man sich verdeutlicht, dass es auch hier um eine kollektive Anpassungsleistung geht. Besonders hervorzuheben ist die klare Korrelation mit der stilistischen Variable Operative Prägnanz des DOTA-Verfahrens, denn es erscheint auch theoriekonform, dass diese Variable gerade diesem Faktor zugeordnet ist. Vor allem die Themen Konstruktion (Gestaltung, Aufbau, etc.), Leistung und Wandel sind häufig verbunden mit rational-operativen Überlegungen, analytischen Einsichten, die bis zu einem bestimmten Grad Gewissheit bieten und nicht zuletzt auch in der Kommunikation mit Appellen hinsichtlich Notwendigkeit und Wichtigkeit geeigneter politischer Maßnahmen. Operative Prägnanz wird genau in diesem Sinne als kommunikativer Ratio-Faktor interpretiert. Gestützt wird diese Interpretation durch die (schwache, aber dennoch gegebene) Korrelation dieses Faktors mit der SymTex-Kategorie Abstraktion, mit der Ausdrücke erfasst werden, die häufig dann verwendet werden, wenn es gilt, Probleme zu strukturieren und zu lösen.

 

Überraschend war die „Entdeckung“ von Faktor 5. Erwartet wurde zunächst, dass konformitätsthematische Ausdrücke relativ stark mit norm- und ordnungsthematischen Ausdrücken korrelieren, also gemeinsam auf einer Dimension laden. Wie die Tabelle zeigt, ist dies aber nicht der Fall. Die Kategorie Norm-Ordnung bildet zusammen mit Negativen Sanktionen einen eigenständigen Faktor. Es scheint also hier in thematischer Hinsicht um den (Neu-) Entwurf von gesetzlichen Regelungen und deren Durchsetzung zu gehen, weswegen für diesen Faktor auch das Label Regulation gewählt wurde. Kennzeichnend für diesen Faktor ist weiterhin eine „sachlich-unemotionale“ Stilistik, die fast als „trocken“ bezeichnet werden kann: Abstrakt-problemstrukturierende Ausdrücke sowie Operative Prägnanz korrelieren positiv, während konkret-anschauliche negativ laden und nicht zuletzt sind negative Emotionen und Bewertungen deutlich „unterrepräsentiert“, d.h. ebenfalls negativ korreliert.

 

Weiter oben hatten wir implizite Motive als dominante Denkorientierungen beschrieben. Vor diesem Hintergrund betrachten wir die fünf Faktoren als hoch generalisierte Komponenten politischer Kommunikation, die je nach Ausprägung, die vorherrschenden Motive einer politischen Rede, eines Politikers oder einer Politikergruppe aufklären.

 

Aus psychologischer Sicht machen diese Motive vor allem deutlich, aus welcher Wahrnehmungs- und Denk-Perspektive Politiker/innen die politische Welt, die Aufgaben in der Politik, Kontrahenten, politische Konflikte und nicht zuletzt ihre (persönlichen) politischen Herausforderungen sehen. Mit anderen Worten: Was an Generalthemen „bewegt“ den Politiker in seinem Denken, was sind die Prioriäten (dominant concerns) seines politischen Tuns (im Spiegel seiner Reden). Beispielsweise die ...

 

 

Die genannten Punkte schließen sich nicht gegenseitig aus. Im Gegenteil, irgendwie gehören alle diese Aspekte zu einem „runden“ und ausgewogenen politischen Geschäft (z.B. geht es in der Politik fast immer um die Durchsetzung von Machtinteressen - die Frage ist nur, in welcher Intensität und mit welchen Mitteln). Man sollte also meinen, dass es nur geringe Unterschiede bei Politikern in diesen politischen Motivklassen gibt (zumindest bei der Analyse vieler Reden).

 

Unsere Einzelfallanalysen zeigen allerdings, dass die Motive von Politikern recht unterschiedlich ausgeprägt sind (vgl. Rubrik  „Kommunikationsprofile für ausgewählte Politiker“ ). Die Palette reicht von sehr einseitig ausgeprägten Motivationsprofilen bis hin zu fast völlig ausbalancierten - mit leichten Schwerpunkten in ein oder zwei Motiven. Nach unserer Einschätzung hat das eine deutliche Aussagekraft mit Blick auf die politische Persönlichkeit und Führung. Dazu die angekündigte zweite Untersuchung.

 

 

Zweite Studie

 

Aufbauend auf dem Fünf-Faktoren-Modell wurden nun die Ausprägungen der Motiv-Komponenten (Domination, Lektion, Kohasion, Lokomotion, Regulation) von einigen Regierungschefs untersucht, wobei wir von der allgemeinen Erwartung ausgingen, dass sich bei Demokraten und Autokraten deutliche Unterschiede in den Motivkonstellationen zeigen müssten.

 

Aus unserem Referenzdatensatz wurden 15 augewählt - und zwar alle acht Kanzler seit 1949 (Adenauer, Erhard, Kiesinger, Brandt, Schmidt, Kohl, Schröder, Merkel), die letzten drei US-Präsidenten (Clinton, Bush, Obama), Ulbricht und Honecker als „Vertreter“ der ehemaligen DDR sowie Hitler. Um einen zweiten Politiker der Nationalsozialisten zu haben, wurde Goebbels mit in die Auswahl von Regierungschefs aufgenommen.

 

In der Rubrik „Kommunikationsprofile für ausgewählte Politiker“ (auf dieser Website ) sind für jeden dieser 15 Politiker die ausführlichen statistischen Einzelfallanalysen zusammengestellt. Bei diesen Daten ist auch angegeben, auf wieviel Reden des jeweiligen politischen Akteurs die Analyse beruht.

 

Berechnet wurden sogenannte Faktorsummenscores, wobei nur die positiv gerichteten Variablen der Faktorenanalyse berücksichtigt wurden (ein übliches Vorgehen):

 

 

Die folgenden drei Abbildungen zeigen die Motiv-Profile - getrennt nach „rechten“ und „linken“ Autokraten (Abbildung 1), Bundeskanzlern (Abbildung 2) und US-Präsidenten (Abbildung 3). Dargestellt sind die am Referenzdatensatz (3678 Reden von 264 Politikern) relativierten Werte mit einem Mittelwert von 100 pro Variable bzw. Dimension. Deutliche Abweichungen von 100 nach oben oder unten sind bedeutsam.

 

 

 

 

 

Abb. 1: Kennwerte für die 5 Motivkomponenten bei Autokraten im Vergleich.

Abb. 2: Kennwerte für die 5 Motivkomponenten bei den Bundeskanzlern im Vergleich.

Abb. 3: Kennwerte für die 5 Motivkomponenten bei den US-Präsidenten im Vergleich.

 

Wir wollen hier (noch) nicht auf die einzelnen Politiker und ihre Motivstrukturen eingehen - dies soll Gegenstand weiterer Artikel sein, bei denen auch biografische und historische Aspekte mit berücksichtigt werden sollten/müssen. Aber schon ein flüchtiger Blick über die einzelnen Abbildungen zeigt, dass zwischen Autokraten und Demokraten sehr deutliche Unterschiede auszumachen sind - und selbst bei linken und rechten Autokraten die Unterschiede (und Gemeinsamkeiten) deutlich hervortreten.

 

Wir sehen uns daher aufgrund der Daten zunächst einmal in unserer Erwartung bestätigt, dass mit Hilfe der textstatistisch ermittelten Motivkomponenten Unterschiede und Gemeinsamkeiten in den politischen Denkorientierungen und Denkmustern sichtbar gemacht werden können, die nach unseren bisherigen biografischen/historischen Studien auch „stimmig“ sind.

 

Abschließend zu zwei wichtigen Details in den Daten:

 

Domination: Zunächst einmal fällt auf, dass der Motivfaktor Domination sehr klar zwischen Autokraten und Demokraten trennt. Bei den Autokraten ist diese Komponente deutlich stärker ausgeprägt als bei den demokratischen Regierungschefs: Hitler (159), Goebbels (223), Ulbricht (226) und Honecker (208). Der korrespondierende Wert für die Bundeskanzler liegt zumeist deutlich unter 100 Punkten, bei den US-Präsidenten in etwa um 100 Punkte: Clinton (103), Busch (127) und Obama (91). Der „Wille“ zur „konfrontativen Durchsetzung politischer Ideologien oder Machtinteressen“ scheint demnach ein zentrales Unterscheidungsmerkmal in der politischen Motivstruktur von Autokraten und Demokraten zu sein.

 

Domination und Kohäsion: Motivationspsychologische Untersuchungen haben vor allem gezeigt, dass das Verhältnis der beiden Motivkomponenten Domination (Machtmotiv) und Kohäsion (Bindungsmotiv) einen hohen prognostischen Wert hat (vgl. u.a. Schmalt & Langens 2009, 231-234; Hogenraad, 2005): Hohe Machtorientierung bei gleichzeitig niedriger Bindungsorientierung (u.a. in den Reden von Spitzenpolitikern) scheint dabei eine konflikträchtige, kritische Konstellation zu sein, die häufig einhergeht mit einem verstärkten Risiko und/oder gar mit der Initiierung kriegerischer, (oder zumindest) konfrontativer Auseinandersetzungen. Bei Hitler und Goebbels zeigt sich genau diese Konstellation - ihre Kohäsionswerte liegen deutlich niedriger als ihre Dominationswerte. Für Ulbricht und Honecker liegen die Werte für Kohäsion zwar höher, aber immer noch deutlich unter ihren Dominationswerten. Bei den demokratischen Regierungschefs hingegen ist es zumeist umgekehrt: Die Motivkomponente Kohäsion überwiegt gegenüber Domination oder es zeigt sich ein ausgeglichenes Verhältnis (wie bei Adenauer und Bush).