Psychologie politischer Reden und Kommunikation

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Politische Psychologie: Denkorientierungen und Denkmuster von Führenden in der Politik

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Assoziationen und Dissoziationen von sprachlichen Konzepten in politischen Reden. Zwei explorative Kontingenzanalysen anhand 544 Reden von Bundeskanzlerin Angela Merkel.

 

Dr. Peter Niebisch

 

 

Einführung

 

Mit dem Begriff Kontingenzanalyse werden im Allgemeinen alle Methoden und Verfahren zusammengefasst, die zum Ziel haben, die statistischen Zusammenhänge zwischen interessierenden Variablen aufzuklären. Im Bereich der inhaltsanalytischen Forschung ist der Begriff Kontingenzanalyse allerdings noch spezifischer besetzt: Gemeint ist in diesem Zusammenhang ein auf Osgood zurückgehendes Verfahren, mit dem Assoziationen und Dissoziationen von sprachlichen Ausdrücken in Texten untersucht werden.

 

Hierzu werden die Texte zunächst in variable oder fixe Abschnitte segmentiert (nicht unter 150 Ausdrücke). Anschließend wird untersucht, ob und in welchem Maße die interessierenden Ausdrücke bzw. Kategorien in den Textsegmenten überzufällig assoziiert oder dissoziiert sind. Da für jede Texteinheit das Auftreten eines Ausdrucks nur einmal gezählt wird (obwohl er mehrmals in einem Textsegment auftreten kann), ergeben sich - für jeweils zwei betrachtete Variablen - Vierfelder-Tabellen. Für diese wiederum können entsprechende Assoziationsmaße (u.a. Phi-4-Punkt-Korrelation, Yule-Q, Yule-Y, Russell & Rao, Jaccard-Koeffizient, etc.) berechnet werden, die dann zumeist Eingang finden in komplexitätsreduzierende, multivariate Analysen (insbesondere Cluster- und Faktorenanalysen sowie  Multidimensionale Skalierungen).

 

Die Notwendigkeit des letzten Schritts wird vor allem dann deutlich, wenn man die Menge der dabei entstehenden Variablenbeziehungen berechnet: Beispielsweise bei der simultanen Betrachtung von nur (!) 100 Variablen (sprachlichen Konzepten) ergeben sich 4.900 Vierfelder-Tabellen bzw. Korrelationen, bei 1.000 Variablen sind es dann schon 49.9000.

 

Entwickelt und erprobt wurde die Kontingenzanalyse vor allem im Bereich der psychotherapeutischen Forschung (vgl. u.a. Lisch & Kriz, 1978; Rust, 1983). Mit ihr verbindet sich die Hoffnung, anhand von Psychotherapie-Protokollen (oder auch anhand anderer persönlicher Texte) das näher explorieren zu können, was man heute häufig als dominante Denkmuster, kognitive Strukturen, mentale Netzwerke, Denkschemata oder auch als Relational Frames bezeichnet - nicht zuletzt, um damit differenziertere Hinweise auf die psychische Situation des Klienten und für den weiteren therapeutischen Interventionsprozess zu gewinnen. Ein Beispiel findet man bei Rust (1983, 224-226).

 

Die Anwendbarkeit der Kontingenzanalyse auf politische Texte wurde schon von Osgood selbst eingehend diskutiert. Wie Rust mit Bezug auf Osgood hervorhebt, sind aber dann die gefundenen Kontingenzen weniger Ausdruck des persönlichen Denkens, sondern vielmehr als Indizien für eine bestimmte Politik bzw. Propaganda zu betrachten: „ … je sorgfältiger und planvoller eine Mitteilung angelegt ist, wie zum Beispiel für Propaganda- oder Erziehungszwecke, desto weiter rücken vermutlich die Kontingenzen der Mitteilung von der ‚wirklichen' Assoziationsstruktur der Textproduzenten ab“ (1983, 220).

 

Aus Sicht der Psychologie mögen damit geplante Mitteilungen für ihre Forschungsziele nicht wirklich brauchbar sein - aus Sicht der politischen Kommunikation wäre es allerdings schon ein großer Schritt, mit Hilfe der Kontingenzanalyse die Politik (quasi das „Grundgerüst“ des politischen Denkens, das sich in politischen Reden verbirgt) deutlicher extrahieren zu können. So gesehen betrachten wir die Kontingenzanalyse in der Tradition Osgoods als eine Möglichkeit, auf empirisch-statistischem Weg dominante Kommunikations- bzw. Argumentationsmuster in politischen Reden aufspüren zu können.

 

Zur Zeit experimentieren wir mit dem Ansatz, wobei vor allem methodische Fragen im Vordergrund stehen: Die Größe der Textsegmente, die Auswahl geeigneter Kategorien bzw. Konzepte (z.B. aus SymTex), die Wahl des angemessenen Vierfelder-Assoziationskoeffizienten sowie die Weiterverarbeitung dieser mit Hilfe clusterbildender Verfahren.

 

Der Optimismus, der in manchen Lehrwerken zur Inhaltsanalyse verbreitet wird, man könne anhand dieses explorativen Verfahrens mehr oder weniger komplette Kognitions- oder Kommunikationsstrukturen erfassen, halten wir allein schon aus rechentechnischen Gründen für überholt, so dass wir ein theorie- oder zumindest hypothesengeleitetes, aber in jedem Fall selektiveres Vorgehen bevorzugen.

 

Das nachfolgende Untersuchungsbeispiel bezieht sich auf die Reden von Angela Merkel.

 

 

Erwartungen

 

Um die Arbeitsweise der Kontingenzanalyse aufzeigen und prüfen zu können, ist es zunächst einmal sinnvoll, „rückwärts“ vorzugehen - also von recht bekannten Kommunikationsmustern eines Politikers auszugehen und dann zu analysieren, wie sich diese in einer Kontingenzanalyse abbilden.

 

Auf der persönlichen Homepage von Angela Merkel (angela-merkel.de) ist unter der Rubrik „Meine Überzeugungen“ u.a. folgendes zu lesen:

 

„ … Unseren Wohlstand können wir nur mit innovativen Produkten und einem hohen technischen Standard absichern. Deshalb müssen wir gerade auch in schwierigen Zeiten gezielt in die Zukunft investieren. Die CDU sorgt dafür, dass Forschung und Spitzentechnologien besonders gefördert werden. … Eine erstklassige Bildung ist der wichtigste Rohstoff in unserem Land. Als CDU legen wir unsere Schwerpunkte auf eine frühe Förderung von Kindern, eine begabungsgerechte Schulbildung und mehr Freiheit für die Hochschulen. Unser Land braucht alle Talente, praktische und akademische.“

 

Mit dieser Passage wird deutlich, dass Merkel einen engen Zusammenhang kommuniziert zwischen Wohlstand einerseits und Innovation, Technik, Technologie, Forschung sowie Bildung, etc. andererseits. Sofern es sich hier um ein dominantes - d.h. häufig vorkommendes - Argumentationsmuster handelt, müsste es sich in einer Kontingenzanalyse ihrer Reden wiederspiegeln.

 

 

Methodische Aspekte

 

Geprüft wurde es anhand 544 Reden von Merkel. Die Texte wurden entsprechend den Literaurempfehlungen in Abschnitte von 250 Worte segmentiert. Die Gesamtanzahl der Textsegmente beträgt n = 5.441. Als Assoziationsmaß wurde der Phi-4-Punkt-Korrelationskoeffizient gewählt. Die Phi-Koeffizienten wurden dann mit Faktorenanalysen (Hauptkomponenten) weiter verrechnet.

 

Methodische Anmerkung: Wie u.a. Bacher (1994, 122-132) hervorhebt, setzt die Anwendung der Faktorenanalyse strenggenommen quantitative, normalverteilte Variablen voraus. Wie zahlreiche Simulationsstudien und auch die Forschungspraxis aber gezeigt hätten, ist die Faktorenanalyse auch für ordinale und dichtome Variablen einsetzbar. Bei dichotomen Variablen (0 = nicht vorhanden, 1 = vorhanden) sei vor allem zu beachten, dass möglicherweise mehr bedeutsame Faktoren berechnet werden können, als tatsächlich vorhanden sind (1994, 128).

 

 

Ergebnisse der ersten Studie

 

Die Tabelle zeigt die Ergebnisse der ersten Faktorenanalyse.

 

Tab. 1: Ergebnisse der Faktorenanalyse über 12 Schlüsselausdrücke bei Angela Merkel in 544 Reden mit ingesamt 5.441 Textsegmenten (Eigenwerte > 1, Varianzaufklärung = 42,6 %, Faktorladungen < 0.30 unterdrückt).

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Ergebnisse der Faktorenanalyse zeigen zunächst einmal vier Cluster (auch Faktoren oder Komponenten genannt):

 

 

Die Cluster sind bezogen auf die zwölf ausgewählten Schlüsselausdrücke als zentrale und voneinander unabhängige Assoziationsbereiche zu vestehen. Mit anderen Worten und vereinfacht ausgedrückt: Redet Angela Merkel über Innovation, spricht sie auch über Kreativität, Forschung und Wohlstand (Cluster 1), redet sie über Technik, nimmt sie auch Bezug auf die Konzepte Wissenschaft, Technologie und Forschung (Cluster 3), etc. Die Größe der einzelnen Faktorladungen (Wertebereich -1 bis +1) drückt die Enge und die Richtung des Zusammenhangs mit der jeweiligen Komponente aus: Positive Werte (> 0.30) zeigen eine Assoziation an, während negative Ladungen (<  -0.30) im Sinne einer Dissoziation zu verstehen sind - was aber in Tabelle 1 nicht vorkommt.

 

Wie die Ergebnisse der Faktorenanalyse zeigen, ist interessanterweise bei Merkel das Konzept Wohlstand deutlich stärker mit Cluster 4 (Globalisierung, Bedrohung) verbunden als mit Cluster 1 (Innovation, Kreativität, Forschung) - ein Resultat, das wir so nicht erwartet haben.

 

Natürlich sagt uns die Kontingenzanalyse nichts darüber aus, wie die jeweiligen Ausdrücke (in diesem Fall Globalisierung, Wohlstand, Bedrohung) sprachlich miteinander verbunden sind, obwohl die Argumenationslinie hier leicht vorstellbar ist. Grundsätzlich prüfbar ist dies aber über intelligentere Suchprogramme mit der Fähigkeit zur Mustererkennung (pattern recognition), die dann in den Texten die Konzeptmuster im Sprachkontext identifizieren.

 

 

Ergebnisse der zweiten Studie

 

In Zeiten zunehmender Politik- und Politikerverdrossenheit versäumt es kaum ein Politiker oder eine Partei den „menschlichen Bezug“ des eigenen politischen Tuns zu betonen. So auch bei Angela Merkel (angela-merkel.de):

 

„ … Im Mittelpunkt unserer Politik steht nicht irgendein abstraktes Konzept. Im Mittelpunkt unserer Politik steht der Mensch. Denn wir wissen: Jeder Mensch ist einmalig.“ Und weiter heißt es: „ … Wir wollen eine Gesellschaft, in der alle Bürgerinnen und Bürger frei und sicher leben können.“

 

Bekanntlich ist Angela Merkel eine engagierte Europa-Politikerin und auch zu diesem Thema finden wir auf ihrer Homepage einige Anmerkungen:

 

„ … Die Europäische Union ist unsere Antwort auf die Globalisierung. Nur gemeinsam können wir Sicherheit, Wohlstand und Frieden in Europa sichern. Viele Menschen haben jedoch die Sorge, dass die Europäische Union zu viele Kompetenzen an sich zieht. Das darf nicht sein.“

 

Sicherheit, Wohlstand und Frieden in Europa? Wo ist in diesem Zusammenhang die Freiheit? Denn wir haben auch gelesen: „ … Wir wollen eine Gesellschaft, in der alle Bürgerinnen und Bürger frei … leben können.“

 

Vor dem Hintergrund dieser Passagen haben wir eine weitere Kontingenzanalyse berechnet. Hierbei interessierte uns die Frage, in welcher Relation die folgenden Gruppen von Ausdrücken in den Reden von Merkel zueinader stehen:

 

 

Tab. 2: Ergebnisse der Faktorenanalyse über 15 Schlüsselausdrücke bei Angela Merkel in 544 Reden mit ingesamt 5.441 Textsegmenten (Eigenwerte > 1, Varianzaufklärung = 45,6 %, Faktorladungen < 0.30 unterdrückt).

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Tabelle zeigt die Ergebnisse der zweiten Faktorenanalyse. Aus unserer Sicht sind hier zwei Aspekte besonders bemerkenswert:

 

Ausdrücke wie Bürger, Mensch, Bevölkerung, etc. sind in den Reden von Merkel nicht assoziiert mit „Deutschland“ oder „Europa“ - im Gegenteil: Die Kategorie Europa ist sogar stark dissoziiert mit den Konzepten Familie und Mensch.

 

Selbstbestimmungsthematische Ausdrücke sind ebenfalls nicht mit den Begriffen Europa und Deutschland verbunden - mit einer Ausnahme: Die Ausdrücke Souveränität und Eigenverantwortung bilden einen Faktor, der mit „Deutschland“ stark dissoziiert ist. Mit anderen Worten: Bei der Bezugnahme auf Ausdrücke wie deutsch, deutsche, deutschem … Deutschland, etc. scheint Merkel thematische Bezüge zu Fragen der Souveränität und Eigenverantwortung zu vermeiden - aus psychologischer Sicht zu „verdrängen“ (Lisch & Kriz, 1978, 169).

 

 

Diskussion

 

Gerade die letzten Ergebnisse machen die Feinsinnigkeit und den - aus unserer Sicht - aufklärerischen Wert von Kontingenzanalysen deutlich. Sie ermöglichen einen ziemlich tiefen Blick in die thematischen Zusammenhänge politischer Kommunikation und Argumentation. In gewisser Weise können sie sogar entlarvend sein:

 

Schwarz, eine Vertreterin der Kognitiven Linguistik, schreibt dazu: „ … Textanalysen können einerseits helfen, das persuasive Potenzial solcher Texte transparent zu machen und andererseits dazu beitragen, die Konzeptualisierungsmuster der Textproduzenten kritisch zu reflektieren" (2008, 235).

 

Mit dem Begriff Konzeptualisierungsmuster nimmt sie dabei Bezug auf die in der Kognitiven Linguistik übliche Unterscheidung zwischen „Denken“ und „Artikulation“ (sprachlich oder schriftlich). Unterstellt wird dabei, dass einer „Sprachproduktion“ eine mehr oder weniger lange Phase der gedanklichen Planung vorausgeht, bei der der Kommunikator ...

 

„die Informationen auswählt, die (er) mit einer bestimmten Intention mitteilen will“ (208).

 

Das Weglassen oder das Hinzufügen eines bestimmten Gesichtspunkts wird dabei als ein wesentlicher Aspekt der „Perspektivierung“ - und damit als ein zentraler Beeinflussungsfaktor in der Kommunikation betrachtet (235).

 

Vertreter der sogenannten Relational Frame Theorie (Hayes, Barres-Holmes & Roche, 2001) betrachen sprachliche Kontingenzen, wie wir sie hier beispielhaft untersucht haben, u.a. unter dem Aspekt des Lernens und der Einstellungsbildung. Aus ihrer Sicht bleibt ein solcher „Dreiklang“ wie z.B. „Globalisierung, Wohlstand und Bedrohung“ nicht ohne Wirkung auf den Adressaten. Häufig genug in zeitlicher Nähe wiederholt, wird eben ein Relational Frame (ein Denk-, Einstellungs- oder auch Verhaltensmuster) gelernt, und das selbst dann, wenn die einzelnen Ausdrücke nicht direkt in einem Satzgefüge in Verbindung stehen. Aus unserer Sicht eine „wunderbare Chance“, das Denken der Menschen maßgeblich und nachhaltig zu beinflussen, ohne direkt und klar werden zu müssen oder seine „Political Correctness“ aufs Spiel zu setzen.