Psychologie politischer Reden und Kommunikation

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Politische Psychologie: Denkorientierungen und Denkmuster von Führenden in der Politik

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Politische Rede im Wortlaut

 

Ludwig Erhard: Große Regierungserklärung am 18.10.1963

 

Redeanalyse (Kommunikationsprofil)

 

 

„Herr Präsident! Meine Damen und Herren!

 

Sie haben mir durch Ihre Entscheidung das höchste Regierungsamt übertragen. Ich danke dem Herrn Bundespräsidenten und dem Hohen Hause für das mir bezeugte Vertrauen. Dieser Dank gilt dem ganzen deutschen Volk.

 

Ich werde aus christlicher Gesinnung und Verantwortung handeln. Ich fühle mich der Demokratie und der tragenden Kraft des Geistes verpflichtet. Meine Politik ist eine Politik der Mitte und der Verständigung. Unser Weg in die Zukunft wird uns weiter aufwärts führen, aber er bleibt voller Gefahren. Bezeugen wir Mut, Gewissen und Solidarität!

 

Nach einem so bedeutenden Abschnitt in der Geschichte unseres Landes, der - durch Konrad Adenauer geprägt - den Weg des deutschen Volkes aus politischem, wirtschaftlichem und sozialem Chaos bis in unsere Gegenwart kennzeichnet, kann eine Regierungserklärung nicht auf die Forderung des Tages beschränkt sein. Ich bin mir nur zu bewußt, welches schwere, aber auch reiche Erbe ich mit dem Regierungswechsel übernehme, das zu wahren und zu mehren mir aufgegeben ist.

 

Eine Rückschau auf diese vierzehn Jahre läßt uns alle noch einmal nacherleben, welche unendliche Fülle schicksalhafter Aufgaben nicht nur für das deutsche Volk, sondern auch für Europa und den Zusammenhalt der freien Welt während der Regierungszeit Konrad Adenauers bewältigt werden mußte. Es gibt kaum einen Abschnitt der deutschen Geschichte, der, was Aufgabe und Leistung anlangt, dem Werk Konrad Adenauers gleichkäme.

 

So richte ich denn in dieser Stunde mein Wort an Sie, den ersten Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, der Sie durch vierzehn Jahre nicht nur Regierungschef, sondern weit darüber hinaus der mutige und entschlossene deutsche Staatsmann waren. Daß wir für den freien Teil unseres Vaterlandes einen geachteten Platz im Kreise der fielen Völker erringen konnten, ist in erster Linie Ihr Verdienst, und daß unsere Brüder und Schwestern jenseits der Zonengrenze darauf hoffen dürfen, es werde und möge auch für sie einmal die Stunde der Freiheit schlagen, verdankt das deutsche Volk Ihrer nimmermüden Arbeit und Ihrer überzeugenden Haltung, die uns wieder Vertrauen und Freunde in der Welt finden ließen.

 

Ich bitte Sie, mir als Ihrem Nachfolger auch in Zukunft Ihren Rat nicht zu versagen.

 

Diese Regierung ist eine Koalitionsregierung, die auf vertrauensvoller Partnerschaft beruht. Sie stützt sich auf gemeinsam erarbeitete Grundsätze, wie sie auch in dieser Erklärung ihren Ausdruck finden.

 

Wir haben die materiellen Kriegsfolgen weitgehend überwunden und konnten durch den Aufbau einer blühenden Wirtschaft vielen dringenden sozialen Aufgaben genügen. Die demokratische Ordnung unseres Landes ist fest gefügt, und die Bundesrepublik hat im westlichen Bündnissystem Sicherheit gefunden. Aber unser Volk ist weiterhin geteilt. Der eine Teil darf sich der Freiheit erfreuen, der andere lebt in von außen aufgezwungener Unfreiheit. Das Einigungswerk Europas ist trotz ermutigender Anfänge keineswegs vollendet. Die freie Welt ermangelt noch jener festen Bindungen, die sie ihre politischen, wirtschaftlichen und sozialen Aufgaben glücklich bewältigen lassen.

 

Schon dieser kurze Überblick läßt erkennen, daß die Aufgaben, die vor uns liegen, von hohem Rang sind. Wir haben unseren Blick vorwärts zu richten. Nicht nur die Bundesrepublik, sondern die ganze Welt ist im Begriff, aus der Nachkriegszeit herauszutreten. Die Völker sind in Bewegung geraten. Den Strom der Zeit können wir zwar nicht lenken, aber wir werden unser Schiff sicher steuern. In dieser Zeit ist auch die deutsche Politik zum Handeln aufgerufen und hat ebenso überzeugend für die Einigkeit und Stärke des westlichen Bündnisses zu wirken wie auch für den Frieden und die Lösung unserer nationalen Fragen einzutreten.

 

Die Freiheit ist ein so hoher und absoluter Wert, daß sich ein Volk selbst preisgibt, wenn es auf sie verzichtet. Es muß das Ziel unserer Politik bleiben, den Kalten Krieg beenden zu helfen, den die Sowjets vor allem durch die Verweigerung des Selbstbestimmungsrechts für die Deutschen in der Zone seit eineinhalb Jahrzehnten führen. Die deutsche Politik wird deshalb nach innen wie nach außen immer weltweit orientiert und so freiheitlich gestaltet werden müssen wie nie zuvor in unserer Geschichte. Sie wird ihren Beitrag zur Stärkung der europäischen und atlantischen Zusammenarbeit leisten und sich dabei unverlierbar der schicksalhaften Bedeutung des engen Zusammengehens und Zusammenstehens mit allen unseren Verbündeten bewußt bleiben.

 

Den Gefahren, die die Bundesrepublik bedrohen, werden wir um so wirksamer begegnen können, je stärker wir unsere Kräfte sammeln und sie der Zukunft unseres Volkes nutzbar machen. Mehr denn je wird künftig die Zusammengehörigkeit unseres Volkes auf eine hohe Probe gestellt und zur Bewährung aufgerufen sein.

 

Die schöpferischen Energien des deutschen Volkes sind nach dem Kriege in erster Linie dem wirtschaftlichen Wiederaufbau zugute gekommen. Dank unserer freiheitlichen Politik verfügen alle Schichten unseres Volkes über einen weiten Spielraum zur eigenen Entfaltung. Der wirtschaftliche Wettbewerb hat die Kräfte gewogen und gestärkt. So ist die Bundesrepublik heute zu einer der größten Wirtschaftsmächte der Welt geworden. Dabei beruht diese Kraft nicht nur auf ihrer industriellen Potenz, der Leistung der Landwirtschaft, des Handels, des Handwerks, der freien Berufe sowie dem Einsatz und dem Können von Unternehmern, Arbeitern und Angestellten sowie allen Angehörigen des öffentlichen Dienstes, sondern auch auf der Befruchtung unserer Arbeit durch Wissenschaft und Forschung:

 

Das Werk lobt alle seine Meister.

 

Aber welches Bild des öffentliches Lebens stellt sich uns heute dar? Wir laufen Gefahr, daß der produktive Elan unserer Gesellschaft zunehmend dem Genuß des Erreichten weichen will. Eine oft ausschließlich materiell bestimmte Grundhaltung weiter Kreise der Bevölkerung charakterisiert die Lage - 18 Jahre nach Beendigung der größten Katastrophe deutscher Geschichte. Aus diesem Grunde bedeutet es eine wesentliche Aufgabe aller verantwortungsbewußten Kräfte im Lande, jenen Leistungswillen, der uns gerettet hat, für alle Zukunft wachzuhalten.

 

Wie noch deutlich zu machen sein wird, müssen wir damit aufhören, unsere Kräfte und Mittel jeweils nur an speziellen und individuellen Forderungen auszurichten, sondern wir müssen das Ganze bedenken und alles Handeln an gemeinsamen Zielen messen.

 

Ich bin gewiß, einer Sorge und zugleich einem Verlangen des deutschen Volkes Ausdruck zu geben, wenn ich Regierung und Parlament mahne, über Interessentenwünsche hinweg sich entschiedener den prinzipiellen Fragen der Politik zuzuwenden.

 

Vor allem junge Menschen wollen nach übergeordneten Werten und Maßstäben handeln. Sie erwarten, daß sich auch der Staat an diese Maxime hält. Unsere Jugend will vor Aufgaben gestellt werden! Je bewußter und wahrhaftiger wir sie darauf ansprechen, um so besser wird es uns gelingen, sie von dem falschen Weg des nur Geld-verdienen- und Versorgt-sein-Wollens abzubringen.

 

Bemühen wir uns darum auch, jedwede Forderung an den Staat nicht vorschnell mit dem Wort ‚sozial’ oder ‚gerecht’ zu versehen, wenn es in Wahrheit nur zu oft um partikuläre Wünsche geht!

 

Verschließen wir die Augen nicht vor der Tatsache, daß dem entwickelten Engagement für das Private und für das Gruppeninteresse zunehmend ein Defizit an Bürgersinn gegenübersteht!

 

Das ist um so gravierender, als die Bundesrepublik ihren Bürgern ein ungewöhnliches Maß an Freizügigkeit in ihren privaten Tätigkeiten zugesteht und ihnen den großen Respekt vor dem Wert individueller Entfaltung bezeugt.

 

Es muß unser unablässiges Bemühen sein, die Werte, die unsere Verfassung setzt, ins Bewußtsein aller Bürger zu rücken und es immer wieder deutlich zu machen, daß Freiheit mit Verantwortung gepaart sein muß, wenn sie nicht chaotisch entarten soll.

 

So haben wir uns denn auch immer wieder zu fragen, was im Einzelfall die Notwendigkeit eines weiteren Ausbaus unserer freiheitlichen Lebensordnung und das Erfordernis wirklicher sozialer Gerechtigkeit gebieten. Das Vertrauen in unseren Rechtsstaat ist nur so lange gesichert, wie die politisch Verantwortlichen durch ihr eigenes Verhalten das gute Beispiel Vorleben.

 

Wenn es darum unverzichtbar ist, den Interessengruppen die Grenzen ihrer Ansprüche deutlich zu machen, so erscheint das nur glaubhaft, wenn auch der Staat die rechten Maße zu setzen weiß.

 

Der Staat ist kein von der Gemeinschaft eines Volkes losgelöstes, abstraktes Gebilde. Gewiß ist er aber auch mehr als die Addition seiner Staatsbürger.

 

Wenn darum im politischen Leben dem Staat die Sorge um Verteidigung und Sicherheit aufgetragen ist, wenn er Bildung, Forschung und Gesundheit  fördern soll, wenn er für Reinhaltung der Luft und des Wassers sorgen,

 

die Verkehrsverhältnisse ordnen,  

 

den Wohnungsbau fortführen soll,

 

wenn ihm zunehmend höhere soziale Leistungen abverlangt werden und der Ruf nach Subventionen und Beihilfen gewiß nicht schwächer wird, dann muß der Staatsbürger begreifen, daß er damit im letzten Grunde sich selbst anspricht.

 

Aus solcher Sicht spiegelt die Anklage, der Staat bezeuge zu wenig Verständnis und leiste zu Geringes, nur die mangelnde Einsicht des Staatsbürgers wider. Es gibt keine Leistungen des Staates, die sich nicht auf Verzichte des Volkes gründen.

 

In diesem Zusammenhang sind deshalb die Interessenorganisationen im weitesten Sinne anzusprechen. Wohl gliedern sie das Volk und verhindern auf solche Weise, daß die einzelnen zur beliebig manipulierbaren Masse werden. Auf der anderen Seite können diese Verbände auch zu wachsender Unmündigkeit der Menschen führen. Es ist einzusehen, daß die Gruppen dem Bedürfnis des einzelnen entstammen, durch solidarisches Handeln die private Ohnmacht zu überwinden und auch politisch handlungsfähig zu werden; aber es ist auch nicht zu verkennen, daß die so geschaffene Apparatur ständig der Versuchung unterliegt, die von ihr vertretenen Menschen nach ihrem Willen zu lenken.

 

Aus solchem Widerstreit der Interessen erwächst kein organisches Ganzes, solange die Beteiligten bewußt oder unbewußt der Devise huldigen, daß gerade das und nur das recht sei, was ihnen nütze. Ich erkläre, daß sich die Bundesregierung aus ihrer besonderen Verantwortung keinem Zwang und auch keiner offenen oder versteckten Drohung zu beugen gewillt ist.

 

Dagegen werde ich immer jedem guten Argument zugänglich sein. Um zu einer gedeihlichen Arbeit hinzufinden, appelliere ich an die Verantwortung der Organisationen gegenüber dem Ganzen.

 

Diese Bundesregierung sieht es auch als ihre Aufgabe an, den Kontakt zu den geistig und kulturell führenden Schichten unseres Landes zu suchen und zu vertiefen.

 

In der Welt, in der wir leben, kann kein Bereich des menschlichen Handelns neben der Erfahrung der tieferen Erkenntnis entraten. So wie viele Sparten des öffentlichen Lebens schon längst mit der Wissenschaft zusammenarbeiten, um ihre Aufgaben besser meistern zu können, kann auch die Politik nicht darauf verzichten, ihre Probleme durch den menschlichen Geist durchleuchten zu lassen und für ihre Zwecke alle Kräfte zu mobilisieren.

 

Wenn wir die Wissenschaft fragen, wie sie uns in der Aufgabe, die Freiheit zu verteidigen und unsere innere Ordnung zu vervollkommnen, helfen kann, so sind wir dabei doch weit davon entfernt, Politik mit Wissenschaft zu verwechseln. Das Handeln entspringt anderen Gesetzen als das Denken; gleichwohl sind beide aufeinander angewiesen. So sollten die Politiker auch das Gespräch mit denen suchen, deren Beruf es ist, über die Geschäfte der Menschen nachzudenken. Vielleicht wird dann der Rahmen deutlicher, in dem sich unser Handeln vollzieht, und wie dieses sinnvoll angelegt sein sollte. Dieser Dialog scheint mir besser als eine einseitige Polemik gegen die Intellektuellen.

 

Wir brauchen eine verantwortungsbewußte öffentliche Kritik. Sie ist ein unveräußerlicher Bestandteil unserer Ordnung und geeignet, die innere Beteiligung des Bürgers am staatlichen Leben wachzuhalten. Ich bekenne mich ausdrücklich dazu, daß nicht jeder Tadel an einer Regierung den Staat erschüttert, wie umgekehrt nicht jede Kritik der Regierung an den Organen der öffentlichen Meinung schlechthin als Eingriff in demokratische Grundrechte aufgefaßt werden sollte.

 

Die Bundesregierung wird nach Kräften bemüht sein, den Trägern der öffentlichen Meinung ihre Arbeit zu erleichtern. Sie wird ihrem Informationsbedürfnis so weit Rechnung tragen, wie es die ordnungsmäßige Tätigkeit von Regierung und Verwaltung des Bundes gestattet.

 

Ich rufe die schöpferischen Menschen in der Bundesrepublik zur Mitarbeit an diesem Staate auf. Wir haben gemeinsam die Werte zu respektieren und zu verteidigen, die das Fundament eines freien Gemeinwesens sind.

 

Die Amtsübernahme der neuen Bundesregierung fällt in eine weltpolitische Phase, in der sich Veränderungen im West-Ost-Verhältnis abzeichnen. Langjährige Gespräche über Abrüstungsfragen haben im August dieses Jahres erstmals zu einer Übereinkunft zwischen den Vereinigten Staaten, Großbritannien und der Sowjetunion über eine partielle Einstellung von Kernwaffenversuchen geführt. Die Bundesregierung hat nach den notwendigen politischen Klarstellungen dieses Abkommen unterzeichnet und wird dem Hohen Hause in Kürze das erforderliche Zustimmungsgesetz vorlegen. Dabei gibt sich die Bundesregierung in Übereinstimmung mit ihren Bundesgenossen nicht der trügerischen Hoffnung hin, daß sich durch dieses Abkommen die weltpolitische Lage entscheidend verändert hätte. Die Bedrohung bleibt bestehen; die Unterdrückung der Freiheit dauert auch auf deutschem Boden an.

 

Die deutsche Frage ist ungelöst, und das freie Berlin leidet weiter unter der unnatürlichen Abschnürung gegenüber dem anderen Teil der Stadt und deutschen Gebieten, die in einer langen Geschichte mit ihm auf das engste zusammengewachsen sind. Die Bundesregierung ist dennoch der Auffassung, daß Kontakte und Gespräche zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion nützlich sein können und daß sie mit dem Ziele fortgesetzt werden sollten, zu prüfen, ob es Möglichkeiten eines Abbaues der Spannungen gibt. Die Bundesregierung hat immer wieder mit Nachdruck die Forderung nach einer allgemeinen, kontrollierten Abrüstung erhoben und hält an dieser Forderung fest.

 

Sie erscheint als der einzig sichere Weg, um den Ausbruch eines Krieges endgültig unmöglich zu machen. Aber da wir uns darüber im klaren sind, daß eine allgemeine und vollständige kontrollierte Abrüstung nur schrittweise verwirklicht werden kann, gebietet es unser Interesse, auch an weltweiten Teil-Maßnahmen mitzuwirken, sofern sichergestellt ist, daß sie das Kräfteverhältnis zwischen Ost und West nicht zu unserem Nachteil verschieben und uns nicht diskriminieren.

 

Es ist unsere Pflicht, immer erneut die Aufmerksamkeit der Welt auf die ungelöste deutsche Frage zu lenken. Die Bundesregierung erhebt auf Grund des Mandats, das das Grundgesetz und das deutsche Volk ihr erteilen, die Forderung, jede sich bietende Möglichkeit in den West-Ost-Gesprächen zu ergreifen, um hinsichtlich der Lösung des Deutschland-Problems Fortschritte zu erzielen.

 

Denn darüber darf kein Zweifel sein: Die Deutschland-Frage ist eine der Hauptursachen für die Spannungen in der Welt, und man kann nicht hoffen, diese Spannungen zu beseitigen, wenn die Deutschland-Frage ungelöst bleibt.

 

In keinem Falle werden wir eine Maßnahme zu akzeptieren bereit sein, die den unbefriedigenden Stand in dem sich das Deutschland-Problem befindet, statt zu verbessern verschlechtern würde, sei es, daß durch sie die unnatürliche Teilung unseres Landes sanktioniert oder gefestigt würde, sei es, daß eine Anerkennung oder auch nur eine internationale Aufwertung des Regimes der sowjetisch besetzten Zone mit ihr verbunden wäre.

 

Dies bleibt ein allgemeiner Grundsatz unserer Politik, denn die Herrschaft, die in jenem Teil Deutschlands errichtet wurde, ist nichts anderes als eine Fremdherrschaft und ein Gewaltsystem, das gegen den Willen der überwältigenden Mehrheit des unterdrückten Teiles unseres Volkes die freie Verbindung zwischen ihm und uns zerschneidet und die Ausübung der elementarsten politischen und humanitären Rechte verhindert.

 

Man sagt uns, die Teilung unseres Landes sei eine ‚Realität’, die hingenommen werden müsse. Sicher haben wir es hier mit einer Realität zu tun, aber mit einer unerträglichen.

 

Auch eine Krankheit ist eine Realität, und doch wird es niemandem einfallen, den zu tadeln, der sich vor ihr zu schützen und sie zu heilen sucht.

 

Auch Unrecht ist Realität, und doch wird man alles daransetzen müssen, es zu beseitigen.

 

Vor allem aber ist, wenn schon die Teilung unseres Landes als eine Realität hingestellt wird, der Wille des deutschen Volkes zur Wiederherstellung seiner Einheit eine weit stärkere Realität, denn die Geschichte lehrt, daß der elementare Drang eines Volkes, um seine Einheit und Freiheit zu ringen, zu den mächtigsten Kräften überhaupt gehört.

 

Die Sowjetunion wäre deshalb gut beraten, dieser Realität Rechnung zu tragen und dem ehrlichen Friedenswillen des deutschen Volkes zu vertrauen.

 

Die sowjetische Haltung gegenüber der deutschen Frage beruht auf einem Irrtum, nämlich auf der Annahme, daß den sowjetischen Interessen besser durch die Teilung als durch die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands gedient wäre. Hier dürfte das entscheidende Hemmnis für eine Normalisierung unserer Beziehungen zur UdSSR liegen. Wir wissen nicht, wieweit die sowjetische Regierung ihrer eigenen Propaganda Glauben schenkt, die von der Bundesrepublik Deutschland das Zerrbild eines Landes zeichnet, das nach Eroberungen strebt und in dem militärische Motive die Politik bestimmen. Wir werden nicht aufhören, diesen Propagandathesen die Wahrheit deutschen Lebens entgegenzustellen.

 

Und es wird unser ständiges Bemühen sein, auch in unserem Verhältnis zur Sowjetunion eine auf gegenseitiger Achtung vor den Lebensrechten der beiden Völker beruhende Normalisierung herbeizuführen.

 

Die Bundesrepublik Deutschland ist ein freies Land. Jeder kann sich von den hier herrschenden Zuständen überzeugen. Jeder, dem es hier nicht gefällt, kann unser Land verlassen. Millionen von Besuchern aus allen Teilen der Welt sehen Jahr für Jahr die deutsche Wirklichkeit mit eigenen Augen. Auch die sowjetische Regierung und andere, die in ihre monotonen Anschuldigungen einfallen, sollten sich endlich davon überzeugen, daß das Mittel der Diffamierung gewiß am wenigsten geeignet ist, zu einer Entspannung beizutragen.

 

Die Vorstellungen der Bundesregierung von der Lösung der deutschen Frage gehen von der Überlegung aus, daß alle Schritte notwendig mit Maßnahmen auf dem Gebiet der Sicherheit verbunden sein müssen. Wir sind uns bewußt, daß dabei auch die Interessen anderer Völker und Länder berührt werden. Ebenso wie wir von unseren Nachbarn erwarten, daß sie Verständnis für unser Verlangen nach Freiheit und Wiederherstellung der Einheit unseres Volkes aufbringen, wollen und müssen wir bereit sein, ihren berechtigten Interessen Rechnung zu tragen.

 

Da die vier Mächte nach dem Kriege Verpflichtungen in bezug auf Deutschland als Ganzes übernommen haben, fallen ihnen bei der Regelung der Deutschland- und Sicherheits-Frage besondere Aufgaben zu: Diese könnten durch Bildung eines Gremiums der vier Mächte wahrgenommen werden, das seine Funktionen bis zu dem Zeitpunkt einer endgültigen Friedensregelung ausüben würde: Mit diesem Gedanken würde zugleich dem Beschluß des Deutschen Bundestages vom 9. Oktober 1962 Rechnung getragen werden.

 

Wir sind uns alle darüber klar, daß auf dem Wege zur Wiederherstellung der deutschen Einheit große Schwierigkeiten zu überwinden sind. Der Weg mag lang und dornenvoll sein; er wird uns Entbehrungen, materielle und auch psychische Belastungen auferlegen. Wir wollen in unserem Willen, in unserer Zähigkeit nie erlahmen und - wenn es not tut - entschlossen sein, Opfer auf uns zu nehmen.

 

Am Ende dieses Weges wird nach der Überzeugung der Bundesregierung ein Friedensvertrag stehen, der von einer in freien Wahlen gebildeten gesamtdeutschen Regierung frei verhandelt und geschlossen wird. In diesem Vertrag - und nur in ihm - können und müssen die endgültigen Grenzen Deutschlands, das nach gültiger Rechtsauffassung in seinen Grenzen vom 31. Dezember 1937 fortbesteht, festgelegt werden.

 

In der Zwischenzeit aber dürfen wir die Hände nicht in den Schoß legen. Unseren Brüdern und Schwestern in der Zone werden die Menschenrechte vorenthalten. Sie leben unter einem schweren Gewissenszwang und sind täglichen Verfolgungen ausgesetzt. Wir dürfen daher niemals in dem Bemühen nachlassen, für sie lebenswürdige Verhältnisse herstellen zu helfen. Und ebensowenig dürfen wir in dem Eifer erlahmen, die persönlichen Verbindungen zwischen den Menschen, die in beiden Teilen unseres Landes wohnen, neu zu knüpfen, zu festigen und den Besucher- und Reiseverkehr zwischen ihnen zu ermöglichen.

 

Dabei denken wir auch nicht zuletzt an das geteilte Berlin; die Mauer mahnt uns und die ganze Welt täglich an die Erfüllung dieser humanitären Verpflichtung. Wir werden alles in unseren Kräften Stehende tun, hier Erleichterungen und Verbesserungen herbeizuführen. Die Stellung der Bundesregierung zur Berlin-Frage ist eindeutig. Die unabdingbaren Grundsätze der deutschen Berlin-Politik lauten dahin:

 

1. Die Anwesenheit der Westmächte und ihre Zuständigkeiten für Berlin beruhen auf internationalem Recht, und deshalb muß jede neue Vereinbarung über Berlin auf diesen Rechten aufbauen.

 

2. Der freie Zugang nach Berlin muß ungeschmälert aufrechterhalten bleiben.

 

3. Berlin gehört zum freien Teil Deutschlands. Die mit Billigung der Schutzmächte in den vergangenen Jahren durchgeführte enge politische, rechtliche und wirtschaftliche Verflechtung Berlins mit der Bundesrepublik ist ein Grundpfeiler für die Lebensfähigkeit der Stadt. Pläne zur Bildung einer sogenannten ‚Freien Stadt West-Berlin’ sind indiskutabel.

 

4. Jede Vereinbarung über Berlin hat den eindeutigen Willen der Berliner zu achten, die in den letzten achtzehn Jahren der Welt mutig und unverzagt gezeigt haben, daß sie zu Deutschland und zur freien Welt gehören.

 

Die Bundesregierung kann nicht aufhören zu fordern, daß die untragbaren, den Frieden der Welt gefährdenden Maßnahmen der Gewalthaber der Zone aufgehoben werden.

 

Die Bundesregierung wird der weiteten Verbesserung des Verhältnisses zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den osteuropäischen Staaten ihre volle Aufmerksamkeit widmen.

 

Sie ist bereit, mit jedem dieser Staaten Schritt für Schritt zu prüfen, wie man auf beiden Seiten Vorurteile abbauen und vorhandenen Sorgen und Befürchtungen den Boden entziehen kann. Im Zuge eines solchen Prozesses ist die Bundesregierung auch bereit, im Rahmen ihrer Möglichkeiten den Wirtschaftsaustausch mit diesen Ländern zu erweitern. In gleicher Weise begrüßt sie die Verstärkung kultureller Kontakte, wie sie sich mit einigen Ostblockländern bereits angebahnt haben.

 

Für die Bundesregierung bleibt die Nordatlantikpakt-Organisation ein Grundpfeiler ihrer Politik. Sie ist sich bewußt, daß die Sicherheit Europas und der Bundesrepublik Deutschland nur durch die NATO im Zusammenwirken der europäischen und nordamerikanischen Partner auf politischem und militärischem Gebiet gewährleistet werden kann. Die Bundesregierung unterstützt daher nachdrücklich alle Bemühungen, welche geeignet sind, die politische Zusammenarbeit der NATO-Partner zu vertiefen und die Integration der Verteidigungsmittel der NATO zu stärken.

 

Eine multilaterale nukleare Streitmacht würde einen wesentlichen Beitrag zur Verwirklichung dieser Ziele leisten. Die Bundesregierung beteiligt sich aktiv an den Verhandlungen über diesen Plan. Wir sind der Ansicht, daß eine solche vollintegrierte Streitmacht, über die keine einzelne Nation ein autonomes Verfügungsrecht besitzt, neue Wege der politischen und militärischen Zusammenarbeit im Rahmen der NATO weisen wird: Die Bundesregierung würde es deshalb begrüßen, wenn sich möglichst viele NATO-Staaten an dieser integrierten Streitmacht beteiligten.

 

Im Rahmen der NATO wird die Bundesregierung ihre bisherige Verteidigungspolitik fortsetzen. Diese Politik hat dazu beigetragen, der Bundesrepublik Deutschland und den Ländern des freien Europas Frieden und Unabhängigkeit zu bewahren. Wir sind uns mit unseren Verbündeten darin einig, daß wir angesichts der weltpolitischen Situation in unseren gemeinsamen Anstrengungen auf dem Gebiet der Verteidigung nicht nachlassen dürfen. Die Erhaltung der wirksamen Abschreckung vor jeder Form einer Aggression und die Organisation einer Schutz gewährenden Verteidigung sind nur in langfristiger Planung und kontinuierlicher Durchführung möglich.

 

Die Verteidigung des Territoriums der NAT0 ist unteilbar. Die einzelnen Staaten des Bündnisses können sich angesichts der Größe und Art ihrer Bedrohung nicht allein schützen. Die starken Verbände amerikanischer Truppen in Deutschland und die auf unserem Gebiet stationierten Truppen unserer anderen Bundesgenossen führen uns täglich vor Augen, wie weit unsere Bündnisgemeinschaft über die militärische Verklammerung hinaus immer mehr eine Lebensgemeinschaft der Völker empfunden wird.

 

Unser Beitrag zur NATO muß in nächster Zeit vor allem in der Konsolidierung unserer Streitkräfte bestehen. Es gilt die Kampfkraft der Verbände der Bundeswehr zu erhöhen. Hierzu ist eine innere Festigung der militärischen Einheiten und eine ständige Modernisierung auf rüstungstechnischem Gebiet erforderlich. Gleichzeitig ist dem Aufbau der territorialen Verteidigung größte Sorgfalt zuzuwenden.

 

Die Bundeswehr ist sichtbarer Ausdruck unseres Verteidigungswillens. In acht Jahren ist hier eine beispielhafte Aufbauleistung vollbracht worden. Ich danke allen Soldaten, daß sie treu und unermüdlich ihren Dienst leisten für die Sicherheit unseres Volkes.

 

Das deutsche Volk ist sich bewußt, wie viel es den Vereinigten Staaten beim Wiederaufbau seines Landes nach dem Kriege zu verdanken hat, wie sehr die Freiheit und Sicherheit der Bundesrepublik einschließlich Berlins von der Macht und Entschlossenheit der Vereinigten Staaten abhängen und welche hervorragende Rolle den Vereinigten Staaten bei der Wiederherstellung der Einheit Deutschlands zukommt. Es ist darum nur zu verständlich, daß das deutsche Volk der engen Freundschaft und Verbundenheit mit den Vereinigten Staaten, wie sie bei dem Besuch des Präsidenten Kennedy im Juni dieses Jahres eindrucksvoll demonstriert wurde, einen besonders hohen Wert beimißt.

 

Die Bundesregierung wird deshalb fortfahren, in allen Fragen gemeinsamen Interesses sich in enger und freundschaftlicher Konsultation mit der amerikanischen Regierung abzustimmen.

 

Durch unsere Außen- und Wirtschaftspolitik zog sich seit der Begründung der Bundesrepublik als Leitgedanke der Wille, unser nationales Schicksal trotz seines Wertes in sich selbst nicht mehr in der Isolierung, geschweige denn nach nationalistischen und protektionistischen Vorstellungen zu formen. Nach meiner festen Überzeugung ist angesichts der weltpolitischen Konstellation und der heutigen Lebensbedingungen der Völker kein Land mehr für sich allein befähigt, sein Schicksal glücklich zu meistern. Wenn die Völker der freien Welt selbst unter großen materiellen Opfern die Voraussetzungen dafür schaffen müssen, sich verteidigen zu können, und gleichwohl dem wirtschaftlichen Fortschritt, dem Wohlstand und der sozialen Sicherheit breiteren Raum geben wollen, dann wird ihnen das nur gelingen können, wenn sie sich in ihren politischen Zielen einigen und durch die Zusammenfügung ihrer Kräfte ein höchstes Maß an politischer und wirtschaftlicher Effizienz erreichen. Aus solcher Erkenntnis heraus und im Bewußtsein der Notwendigkeit einer Neuordnung Europas wurde - inspiriert durch Männer wie Robert Schuman, Alcide de Gasperi und Konrad Adenauer, und nicht zu vergessen Winston Churchill - ein europäisches Bewußtsein entzündet, daß über Erfolge und Rückschläge zum Abschluß der Römischen Verträge führte.

 

An deren Beginn stand ein politisches Bekenntnis, das nicht verlorengehen und vergessen sein darf. Im gleichen Geiste bekennt sich die Bundesregierung mit dem Hohen Hause eindeutig und nachdrücklich zu der Verpflichtung, die europäische Integration fortzuführen. Aber wir bleiben auch dessen eingedenk, daß die Zusammenführung der ‚Sechs’ von Anbeginn an nicht als das letzte Ziel gelten sollte.

 

Die europäische Integration ist in ein kritisches Stadium geraten. Die Ursache hierfür ist wohl zum Teil in interessengebundenen Differenzierungen zu suchen, aber vom Grundsätzlichen her kommen die Zweifel aus der Überlegung, ob eine nur wirtschaftliche Integration ohne politische Bindungen dem praktischen Leben und den staatspolitischen Gegebenheiten der beteiligten Länder gerecht zu werden vermag. Aus dieser Sicht ist mit jeder weiteren Übertragung nationaler Souveränitätsrechte auf europäische Organe die Frage zu stellen, ob nicht der Abbau der nationalen Zuständigkeit und Verantwortung, so wie es die Römischen Verträge wollen, in dem Aufbau einer europäischen politischen Gestalt mit parlamentarisch-demokratischer Verantwortung eine Entsprechung finden muß.

 

Die Bundesregierung wird deshalb ihr ganzes Bemühen darauf richten, durch neue Aktivität in der politischen Formierung Europas Fortschritte zu erreichen.

 

Dem gleichen Ziele soll auch der deutsch-französische Vertrag nutzbar gemacht werden. Er dokumentiert die Aussöhnung der beiden Völker und soll zu einer bewegenden Kraft für die Einigung Europas werden.

 

Alle Fragen der europäischen Politik rücken die Beziehungen zwischen dem deutschen und dem französischen Volk in den Mittelpunkt. Der Vertrag über gegenseitige Konsultation und Zusammenarbeit vom 22. Januar 1963 wird in der Folge mit immer mehr Leben zu erfüllen sein. Die Zusammenarbeit zwischen den beiden Völkern gründet sich auf gegenseitiges Verständnis und Vertrauen. Es liegt mir am Herzen, zu versichern, wie sehr ich bereit bin, in den Beziehungen der Bundesrepublik zu Frankreich diese Haltung und Gesinnung zu bezeugen.

 

Die Bundesregierung hofft, daß das deutsch-französische Jugendwerk noch vor Ablauf dieses Jahres seine Tätigkeit aufnehmen wird, das den Austausch und die Begegnung einer großen Zahl von jungen Menschen beider Völker ermöglichen soll. Damit schaffen wir die beste Voraussetzung dafür, daß das Werk der Versöhnung und Freundschaft von den kommenden Generationen weitergetragen und zum Wohle unserer beiden Völker und Europas immer mehr gefestigt wird.

 

Mit der Pflege und dem Ausbau unserer Beziehungen zu Frankreich müssen einhergehen enge freundschaftliche Beziehungen zu den anderen europäischen Staaten, wie vor allem zu Großbritannien, das uns durch Bündnisverträge, durch die Anwesenheit seiner Truppen zum Schutze unseres Landes und durch eine gemeinsam mit uns vereinbarte Deutschland- und Berlin-Politik verbunden ist. Wir erachten die Bemühungen, die innereuropäischen Bande zu Großbritannien zu intensivieren, als einen wesentlichen Teil unserer europäischen Politik.

 

Wer eine europäische Aufgabe darin erkennt, in der weltweiten Auseinandersetzung unserem Kontinent den gebührenden Rang zu sichern und stärkeres Gewicht zu verleihen, wird auf die Dauer nicht darauf verzichten können, sowohl auf politischem wie auf wirtschaftlichem Felde eine Politik zu bejahen, die sich die Einigung aller freien Völker Europas zum Ziele setzt. Dabei sind wir uns bewußt, daß jedwede Stärkung Europas zugleich der Festigung der freien Welt zu dienen hat.

 

Ohne in diesem Zusammenhang die Frage der räumlichen Ausweitung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft eingehender erörtern zu wollen, möchte ich doch darauf hinweisen, daß unser aller Bestreben darauf gerichtet bleiben muß, durch die Pflege und Vertiefung der wirtschaftlichen Beziehungen gegenüber Drittländern aufkommende Spannungen oder gar ein Auseinanderleben der Völker zu verhindern. Wenn auch eine sofortige Wiederaufnahme der Verhandlungen über den Beitritt Großbritanniens zum Gemeinsamen Markt derzeit nicht möglich erscheint, so gibt die Bundesregierung dieses Ziel nicht preis. Sie wird auch nicht aufhören, nach Mitteln und Wegen zu suchen, die Beziehungen zu den außerhalb der EWG stehenden Ländern zu intensivieren. Wir entsprechen damit Vorstellungen und Wünschen unserer europäischen Freunde. Die Bundesregierung begrüßt es deshalb auch, daß mit Griechenland und der Türkei und auch mit 18 Staaten Afrikas und Madagaskar Assoziierungsabkommen abgeschlossen werden konnten.

 

Einenge Verflechtung mit der Weltwirtschaft bedeutet für die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft nicht nur eine Lebensnotwendigkeit, sondern eine internationale Verpflichtung. Dies gilt besonders für Deutschland, dessen Wirtschaft in starkem Maße exportorientiert, aber auch einfuhrabhängig ist. Der EWG-Vertrag fordert in Art. 110, daß die Mitgliedsstaaten ‚zu einer harmonischen Entwicklung des Welthandels, zur schrittweisen Beseitigung der Hemmnisse im internationalen Handelsverkehr und zum Abbau der Zollschranken beizutragen haben’. Ein ‚gemeinsamer Markt’ darf nicht zu einem sich selbst genügenden Markt entarten.

 

Eine solche Vorstellung entspräche auch nicht dem Geist der Römischen Verträge. Die ‚Kennedy-Runde’ wird für die freie Welt zum Prüfstein ihrer Prinzipien.

 

Ich brauche kaum zu versichern, daß sich die Bundesregierung mit Nachdruck für einen Erfolg dieser GATT-Verhandlungen einsetzen wird. Dabei ist sich die Bundesregierung zu ihrem Teil dessen bewußt, daß es sich bei Verhandlungen dieser Art immer um ein Geben und Nehmen handelt. Mit der Bezeugung unseres guten Willens erwarten wir auch bei unseren Partnern Verständnis dafür, daß die Wahrung unserer Lebensinteressen nicht auf allen Gebieten beliebige Konzessionen zuläßt.

 

Die Bundesrepublik, die wegen der fortdauernden Spaltung Deutschlands nicht Mitglied der Vereinten Nationen ist, bekennt sich indessen zu deren Grundsätzen und Zielen. Das kommt in allen UN-Organisationen und Gremien, denen sie angehört, zum Ausdruck.

 

Unsere politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu den befreundeten Völkern des Nahen und Fernen Ostens, Afrikas und Südamerikas haben sich auf dem Fundament gegenseitiger Achtung und Gleichberechtigung in den vergangenen Jahren erfreulich fortentwickelt. Unsere Außenpolitik gegenüber diesen Ländern hat sich als richtig erwiesen; wir werden sie fortsetzen.

 

Das geteilte deutsche Volk hat stets besonderes Verständnis für das Verlangen anderer Völker nach Freiheit und Unabhängigkeit bewiesen. Es hofft und vertraut darauf, daß die Länder, die in Anwendung des Selbstbestimmungsrechts der Völker ihre nationale Selbständigkeit erlangt haben, auch für die deutsche Forderung, nämlich die Gewährung eben dieses Selbstbestimmungsrechts für unser Volk, Verständnis aufbringen.

 

Die Bereitschaft zur Mitgestaltung einer über die nationalen Interessen hinausgreifenden Politik schließt für uns auch die Verpflichtung ein, einen Beitrag zur Entwicklungshilfe zu leisten. Wir folgen dabei dem in der innerdeutschen Politik verwirklichten Grundsatz, daß eine auf die Dauer wirksame und fruchtbare Hilfe zuerst beim Menschen und bei der Entwicklung seiner Fähigkeiten anzusetzen hat. Das aber bedeutet auch, daß wir uns in jenen Ländern allein mit der Veränderung der technologisch-ökonomischen Faktoren nicht zufriedengeben sollten. Wie in unserem eigenen Staat kommt auch dort dem Aufbau einer gesunden wirtschaftlichen Ordnung als dem Fundament demokratischer Staatswesen hohe Bedeutung zu.

 

Der Erfolg unseres Bemühens ist daran abzulesen, daß es uns in steigendem Maße gelungen ist, durch unsere multilateralen Leistungen, aber auch durch unsere bilateralen Maßnahmen, Ansatzpunkte für eine wirksame Aufbauförderung in Entwicklungsländern zu geben und unsere Freunde unter den großen Geberländern davon zu überzeugen, daß wir mit ihnen einen wesentlichen Teil dessen leisten, was von den Industrienationen im Sinne einer weltweiten Verantwortung gemeinsam besorgt werden muß.

 

Diese Aussage soll nicht darüber hinwegtäuschen, daß, wie bei der Vorlage des Haushaltsplanes 1964 ersichtlich werden wird, unserer Aufgeschlossenheit für die Entwicklungshilfe finanzielle Grenzen gesetzt sind. Sie überschreiten zu wollen, wäre nicht zu verantworten. Der Zwang zur Beschränkung auf das Mögliche soll umgekehrt vor der Weltöffentlichkeit die Ernsthaftigkeit unseres Willens bekunden, die Entwicklungshilfe als eine Daueraufgabe von hohem Rang zu akzeptieren.

 

Neben den heutigen Hilfsmaßnahmen werden andere Möglichkeiten der Förderung an Bedeutung gewinnen. Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang handelspolitische Maßnahmen und z.B. das in diesen Tagen dem Bundestag zugeleitete Entwicklungshilfe-Steuergesetz. Mit diesem Gesetz sollen private Initiativen für den Aufbau der Entwicklungsländer mobilisiert werden, die bei vernünftiger Anwendung gleichzeitig die Bildung eines staatstragenden Mittelstandes in diesen Ländern wirksam fördern sollen. Hier verdient auch der von dem Herrn Bundespräsidenten geförderte Entwicklungsdienst dankbare Würdigung.

 

Unsere Eingliederung in die Weltpolitik und in übernationale politisch-ökonomische Systeme zwingt uns zu einer fortdauernden Überprüfung und Zusammenschau unserer inneren Lebensordnung. Nach Herkommen und Gewöhnung und gewiß auch aus verwaltungstechnischen Notwendigkeiten ist es fast zur Selbstverständlichkeit geworden, die verschiedenen Lebensbereiche eines Volkes nach ressortmäßiger Aufgliederung zu behandeln. Zwar versucht die Regierung, einer einseitigen Betrachtung durch die Bildung von interministeriellen Ausschüssen zu begegnen, aber gleichwohl bleibt von der Sache und vom Effekt der Entscheidung her ein unbefriedigender Rest. Ich halte es für eine besonders wichtige Aufgabe, die Verwaltungstechnik und Praxis so zu reformieren, daß sie den Anforderungen eines modernen Staatswesens gerecht werden und aufgeschlossenem Bürgersinn entsprechen.

 

Dem neu zu bestellenden Bundesbeauftragten für Wirtschaftlichkeit eröffnet sich hier ein weites Betätigungsfeld.

 

Alle meine Kabinettskollegen stimmen mit mir darin überein, daß sie sich nicht nur als Ressortminister, sondern nicht minder als Mitglied des Gesamtkabinetts verantwortlich fühlen. Seien wir - ob Regierung oder Parlament - uns immer dessen bewußt, daß jede vermeidbare Reibung und unnütze Spannung in unserer Zusammenarbeit im deutschen Volke Unbehagen auslösen und dazu beitragen, das notwendige Vertrauen zwischen Volk, Parlament und Regierung zu erschüttern.

 

Gerade weil wir uns redlich um eine Neuordnung des demokratischen Lebens in Deutschland bemüht haben, sollten wir trotz der Spaltung unseres Vaterlandes den Mut haben, uns als Volk geschlossen zur Bundesrepublik, d.h. zu unserem Staat zu bekennen.

 

Ein wenig entwickeltes Staatsbewußtsein nährt die gesellschaftlichen Spannungen und schwächt die Kraft, die wir benötigen, um der Sehnsucht aller Deutschen nach einem Zusammenleben in einer freiheitlichen und friedlichen Ordnung Aussicht auf Erfüllung zu bieten.

 

Gewiß gehört es zum Wesen der parlamentarischen Demokratie, daß sich der Bundeskanzler auf eine Fraktion oder Koalition stützt, die im Parlament über die Mehrheit verfügt. Mit seiner Wahl aber hat er sich über alle Parteiungen hinweg als Sachwalter des ganzen deutschen Volkes zu fühlen und aus dieser Verantwortung heraus zu handeln.

 

Zur Wahrung dieses Grundsatzes bekenne ich mich vor dem Hohen Hause ausdrücklich. So erblicke ich denn auch in der Opposition einen notwendigen und vollwertigen Bestandteil des parlamentarisch-demokratischen Systems und erwarte, daß unsere gewiß unvermeidlichen Auseinandersetzungen von diesem Geist getragen sein werden.

 

Dabei darf die Bundesregierung voraussetzen, daß über wichtige Ziele unserer Politik - auch der Innenpolitik - vor allem hinsichtlich der gemeinsamen Verpflichtung, die Stabilität unserer Wirtschaft und Währung zu wahren, Übereinstimmung besteht. Die Anerkennung des Vorrangs dieser Forderung bedeutet nicht - wie oft gesagt und verwechselt - einen Verzicht auf wirtschaftliches Wachstum und die daraus fließenden materiellen Verbesserungen, aber sie zeigt nicht minder deutlich die Grenzen des Begehrens und die Möglichkeiten des Erfüllens auf.

 

Wenn die Bundesregierung dem Hohen Hause den Haushaltsplan für 1964 vorlegen wird, kann über die Bedeutung und den Ernst dieser Aussage kein Zweifel bestehen. Es erscheint mir in Übereinstimmung mit dem Bundesfinanzminister zwingend geboten, daß sich Regierung und Parlament hinsichtlich der materiellen Anforderungen an den Haushalt über eine Rangordnung der Werte verständigen und in gerechter Abwägung der Notwendigkeiten und Dringlichkeiten in gegenseitiger Rücksichtnahme auch Teillösungen zu akzeptieren bereit sind.

 

Die seitherige Entwicklung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in der Bundesrepublik läßt die glaubhafte Aussage zu, daß ein noch nicht oder nicht voll erfüllbares Begehren nicht schlechthin abgeschrieben werden müßte. Die kommenden Haushaltsberatungen werden den Rahmen für die möglichen Ausgaben und Leistungsverbesserungen zu setzen haben.

 

Ich hoffe, daß dieses harte Muß als ein zwingendes Gebot beachtet werden wird. Würde sich diese meine Erwartung nicht erfüllen, dann erwächst mir aus meinem Diensteid die Verpflichtung, um das deutsche Volk vor Schaden zu bewahren, den Artikel 113 des Grundgesetzes anzuwenden.

 

Vor seiner Anwendung werde ich gewiß nichts unversucht lassen, die Fraktionen zu einer maßvollen, die Stabilität gewährleistenden Ausgabenwirtschaft zu bewegen, aber ich würde mich auch nicht scheuen, den zunächst vielleicht unpopulär anmutenden Weg des Einspruchs zu beschreiten. Schließlich hat die Bundesregierung die Verantwortung gegenüber jedem Bürger und damit auch gegenüber jedem Sparer.

 

Dies wird für jedermann erkennbar, wenn ich auf die Höhe der Spareinlagen von über 70 Milliarden DM verweise.

 

In solchem Zusammenhang hängt viel von dem verantwortungsbewußten Verhalten der Tarifpartner ab. Das Geschehen in vielen Ländern sollte uns mahnen, besonnen zu bleiben und uns in den Grenzen des Möglichen zu bewegen. Ich erkenne an, daß die letzten Vereinbarungen der Sozialpartner über Lohnhöhe und Vertragsdauer einen Fortschritt bedeuten. Unter diesen Bedingungen und in der Erwartung, daß auch in Zukunft selbst harte Auseinandersetzungen nicht zu reihen Machtkämpfen entarten, zögert die Bundesregierung nicht, sich zur Wahrung der Tarifautonomie zu bekennen. Die Bundesregierung hat das betonte Ja der Gewerkschaften zur staatsbürgerlichen Verantwortung dankbar begrüßt. Sie erwartet, daß diese auch in ihrem Bereich den demokratischen Grundfreiheiten der von ihnen betreuten Menschen uneingeschränkt Raum geben.

 

Es wird immer einen Widerstreit der Interessen geben. Auch das Verhältnis von Bund und Ländern ist davon nicht frei. Mag die derzeitige Situation auch unbefriedigend sein, so hat es doch keinen Sinn - ja, es ist Unsinn -, sich in gegenseitigen Vorwürfen zu ergehen und nach Schuldigen zu fragen. Ich jedenfalls werde in voller Unvoreingenommenheit bemüht sein, zu gesunden und gedeihlichen Grundlagen einer für das Wohl des Staates - und das heißt gewiß auch zum Nutzen der Länder - fruchtbaren und freundschaftlichen Zusammenarbeit zu gelangen.

 

Ein Bundesstaat wie die Bundesrepublik verträgt nicht ein nebengeordnetes staatenbund-ähnliches System.

 

Wir müssen uns vielmehr in jedem Augenblick der inneren Geschlossenheit und der Geltung unseres Staates als einer Einheit in der Vielfalt  bewußt bleiben. Damit werden wir auch den Vorstellungen des ganzen deutschen Volkes und den Notwendigkeiten europäischer und atlantischer Bindungen gerecht.

 

Der Bund hat ein elementares Interesse an einem guten Verhältnis zu den Ländern, wie umgekehrt den Ländern an einer guten Zusammenarbeit mit dem Bund gelegen sein muß. Es hat gewiß auch keinen Sinn, den tatsächlich oder vermeintlich zu engen Raum, den das Grundgesetz dem Bunde gibt, zu kritisieren. Laut ausgesprochene Wunschträume oder Überlegungen der Art etwa, welche Verfassung wir uns geben würden, wenn wir noch einmal von vorne beginnen könnten, scheinen mir für den Augenblick keinen Schritt vorwärts zu führen. Sie schaden vielmehr, weil sie immer aufs neue Mißtrauen zwischen Bund und Ländern zu nähren geeignet sind.

 

Es ist uns gemeinsam aufgegeben, das Bund-Länder-Verhältnis, von dem alles durchdringenden Gedanken des Gemeinwohls ausgehend, zum Besseren zu wenden. Die in der Vergangenheit aufgebaute Hypothek des Mißtrauens muß abgetragen werden. Deshalb beabsichtige ich, die Herren Ministerpräsidenten der Länder ehestens zu einer grundlegenden Besprechung einzuladen und diese Verbindung zu pflegen. Ich zolle der Aufgabe und der Leistung der Länder vollen Respekt und bin gewiß, daß diese auch volles Verständnis für die der Verantwortung des Bundes obliegende deutsche Innen- und Außenpolitik bezeugen werden. Der Bundesminister für Angelegenheiten des Bundesrates und der Länder wird die Kontaktpflege mit den Ländern weiter intensivieren.

 

Ein neuer Geist und Stil der Beziehungen zwischen Bund und Ländern wird sich in der Auseinandersetzung über die Höhe des Bundesanteils an der Einkommen- und Körperschaftssteuer zu bewähren haben. Eine klare Abgrenzung der Finanzverantwortlichkeiten zwischen Bund, Ländern und Gemeinden sowie eine angemessenere Verteilung der Steuereinnahmen auf alle Gebietskörperschaften ist dringlich geworden.

 

Die Vorarbeiten für eine Finanzreform, die eine allzu lange Verzögerung erfahren haben, werden deshalb unverzüglich aufgenommen.

 

Ich bin mit dem Bundesfinanzminister über die Bedeutung dieser Aufgabe einig, denn das Ziel, einen gerechten Ausgleich von Einnahmen und Ausgaben von Bund, Ländern und Gemeinden zu erreichen, bietet dem Steuerzahler den besten Schutz gegen eine überhöhte Belastung.

 

So sehr ich um die Eilbedürftigkeit dieser Arbeiten weiß, ist doch die Finanzreform mit Erfolg nur Schritt für Schritt zu verwirklichen.

 

Gleichwohl muß diese schwierige Aufgabe sofort in Angriff genommen werden. Der deutsche Staatsbürger ist es leid, dauernd mit der Bereinigung des Bund-Länder-Verhältnisses befaßt zu werden. Er hat, wenn es um das Wohl des Ganzen geht, für Prestige- und Zuständigkeitsfragen kein Verständnis.

 

Auch das gehört zu einem wachen Staatsbewußtsein, daß wir bei aller Verbundenheit und Liebe zu unserer engeren Heimat nur um ein Vaterland wissen, das Deutschland heißt.

 

Aus solcher Sicht mutet ein Anti-Bund- oder ein Anti-Länder-Komplex als eine fast mittelalterliche Reminiszenz an.

 

Das Bund-Länder-Verhältnis wird zu einer Lebensfrage, wenn es sich um Zuständigkeit und Verantwortung für das

Schul- und Bildungswesen oder um das weite Gebiet der Forschung handelt. So gewiß die Bundesregierung bereit ist, die Zuständigkeit der Länder in der Kulturpolitik zu respektieren, so gewiß hat doch die Bundesregierung die Pflicht, vorausblickend die Lebensbedingungen eines modernen Staates zu garantieren.

 

Das aber bedeutet, den Menschen auf allen Bildungsstufen das geistige Rüstzeug an die Hand zu geben, ihnen die technischen Kenntnisse und Fertigkeiten zu vermitteln, deren sie und wir alle nicht entraten können, wenn wir in einer dynamischen Welt unseren Rang behaupten und unsere Zukunft gesichert wissen wollen.

 

Ohne dieses Thema hier eingehender behandeln zu können, möchte ich doch ganz deutlich machen, daß sich hier ein weites Feld der Heran- und Fortbildung unserer Jugend eröffnet, das das allgemeine Schul- und Fachschulwesen wie auch Hochschulen und Universitäten bis zur Forschung und Lehre hin einschließt. Dieser kritische Situationsüberblick darf uns nicht übersehen lassen, daß es auch vorbildliche Leistungen gibt. Ich erinnere nur an unser Berufsausbildungssystem, das als mustergültig bezeichnet werden kann.

 

Ohne Verstärkung der geistigen Investitionen müßte Deutschland gegenüber anderen Kultur- und Industrieländern zurückfallen. Das aber hieße, nicht nur den wirtschaftlichen Fortschritt und Wohlstand, sondern auch die soziale Sicherheit aufs Spiel setzen. Bund und Länder müssen zusammenwirken, um eine große, gemeinsame Aufgabe mit Tatkraft anzupacken. Es muß dem deutschen Volke bewußt sein, daß die Aufgaben der Bildung und Forschung für unser Geschlecht den gleichen Rang besitzen wie die soziale Frage für das 19. Jahrhundert.

 

Vergessen wir auch nicht, daß der Pflege der kulturellen Beziehungen zu andern Ländern eine immer stärkere außenpolitische Bedeutung zukommt. In friedlichem Wettkampf messen die Nationen ihre Kräfte auf dem Gebiet der Wissenschaft, der Kultur, der Kunst und des Sports. Das Bild des Deutschland von heute spiegelt sich nicht nur in wirtschaftlichen Leistungen wider, sondern wird in der Wertung anderer Völker wesentlich von dem Beitrag Deutschlands zur geistigen Neugestaltung der Welt geprägt.

 

Gewiß ist das Wort vom ‚Volk der Dichter und Denker’ abgegriffen. Dennoch sollten wir nicht vergessen - und es auch vor der Welt deutlich machen -, daß deutsche Geschichte nicht nur Schande barg, sondern daß wir durch die Jahrhunderte Väter hatten, die uns der geistigen Welt verpflichten.

 

Mögen die Früchte dieser Arbeit auch langsam reifen, so werden es doch wertvolle Früchte sein, die nicht nur uns zugute kommen sollen.

 

Wenn wir von Wirtschafts-, Agrar-, Sozial-, Steuer- oder Verkehrspolitik sprechen und in der ressortmäßigen Behandlung dieser Fragen Fortschritte zu erzielen suchen, so wird diese Arbeit vom Ganzen her gesehen doch erst sinnvoll und fruchtbar, wenn sie sich an einem gesellschaftlichen Leitbild orientiert. Es geht schlechthin um die Fortgestaltung unserer Lebensordnung, aus deren Begehung einem Volke ein waches Lebensgefühl und ein starker Lebensmut zufließen. Wir sind vielleicht auf diesem Wege zu sehr im Technischen steckengeblieben. Das findet seinen Ausdruck z.B. darin, daß gegenüber jedem Gesetzgebungswerk nur noch vorgefaßte und vorgeformte Kollektivmeinungen vertreten werden; fast möchte ich sagen: man sieht vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr.

 

Dazu ist ein Weiteres festzustellen! Obwohl wir aus dem Geschehen der letzten 15 Jahre angesichts auch des Fortschritts in der individuellen Lebensführung von Zuversicht und Vertrauen in unsere Kraft getragen sein müssen und sein können, will dennoch eine Stimmung des Sich-selbst-Bemitleidens und eines selbstquälerischen Pessimismus um sich greifen. Auch scheint es mir ein Zeichen unserer Zeit zu sein, die Beziehung zwischen Leistung und Ertrag - vom Einzelnen und vom Ganzen her gesehen -, allzu leicht zu vergessen. Nüchternheit in der Sache und innere Wahrhaftigkeit sind unerläßliche Voraussetzungen, um wichtige gesellschaftspolitische Aufgaben erfolgreich in Angriff zu nehmen und sich nicht in romantischen Vorstellungen zu verlieren.

 

In diesem Geiste haben wir uns auch mit der Frage der Eigentumspolitik zu befassen. Ohne die oft gebrauchten Thesen ‚Wohlstand für alle’, ‚Eigentum für jeden’ und andere mehr an dieser Stelle noch einmal interpretieren zu wollen, kann und soll niemand an der Ernsthaftigkeit des Willens der Bundesregierung zweifeln, daß sie auf dem Wege über immer breiter gestreutes privates Eigentun das Selbstbewußtsein zu wecken und den Bürgersinn zu stärken wie auch das soziale Ansehen und die wirtschaftliche Sicherheit zu mehren bestrebt ist.

 

Es ist nicht nur in nationalökonomischen Lehrbüchern nachzulesen, sondern es ist lebendige, praktische Erfahrung, daß dieses Ziel - soll nicht Schaden für die Gesamtheit daraus erwachsen - nicht auf dem Wege der Umverteilung bestehender Vermögen erreicht werden kann. Jede Bildung von Eigentum setzt Sparen und Konsumverzicht voraus.

 

Der Ansatz für eine erfolgreiche Eigentumspolitik wird jedermann sichtbar, wenn ich darauf verweise, daß das durchschnittliche Brutto-Einkommen aus Lohn und Gehalt je beschäftigten Arbeitnehmer seit 1950 von rund 2900 DM auf nunmehr über 7700 DM angestiegen ist. Damit wird aber auch der unlösbare Zusammenhang zwischen Produktivität und Leistungsgrad einer Volkswirtschaft und der Chance individueller Vermögensbildung aufgezeigt.

 

Die bisher von der Bundesregierung eingeleiteten Spar-Förderungsmaßnahmen sind von vielen Erwerbstätigen wahrgenommen worden. Die Eigentumsbildung soll in Zukunft nachdrücklicher zugunsten der einkommensschwachen Bevölkerungskreise gefördert werden. Bei höheren und hohen Einkommen kann und soll auf solche Impulse verzichtet werden - unbeschadet der Aufrechterhaltung des Grundsatzes, daß die private Alterssicherung allgemein steuerliche Begünstigung verdient. Daß im Rahmen dieser Überlegungen fiskalische Grenzen berücksichtigt werden müssen, versteht sich von selbst.

 

Als eigentumsfördernde Maßnahme, die noch in dieser Legislaturperiode entwickelt bzw. umgeformt werden sollen, strebt die Bundesregierung die Harmonisierung der verschiedenen Sparförderungen an. Des weiteren soll das Gesetz zur Förderung der Vermögensbildung der Arbeitnehmer praktikabler gestaltet und die soziale Privatisierung fortgesetzt werden. Mir liegt insbesondere daran, bei einer Überprüfung der Wohnungsbaugesetze dem Hohen Hause wirkungsvolle Maßnahmen zur Privatisierung des öffentlich geförderten Wohnungseigentums vorzuschlagen.

 

Vergessen wir nicht, daß eine moderne und freiheitliche Gesellschaftspolitik den Menschen in dem Bewußtsein des Wertes und der Würde seiner Persönlichkeit stärken will. Dieses Bild hat unserer Sozialpolitik als Richtschnur zu dienen. Es bedeutet keinen gedanklichen Widerspruch, wenn die Bundesregierung nach wie vor auch die kollektiven Formen der Lebenssicherung bejaht. Immerhin aber kann nicht übersehen werden, daß die Fähigkeit und die Bereitschaft zu eigenverantwortlicher Vorsorge in enger Beziehung und Abhängigkeit von Art und Umfang der kollektiven Sicherheit stehen.

 

Es war natürlich und notwendig, nach dem Zusammenbruch eine neue Sozialordnung aufzubauen, wie sie sich in unserer Gesetzgebung widerspiegelt. Mit dem Blick nach vorwärts aber und angesichts der Hebung der materiellen Lebensverhältnisse der in abhängiger Arbeit stehenden Menschen wird es nützlich sein, innerhalb unserer Sozialordnung der individuellen Verantwortung breiteren Raum zu geben. In dieser sich bewegenden Welt dürfen wir nicht in den Vorstellungen von gestern erstarren.

 

Die Bundesregierung wird ihre Raumordnungspolitik zielstrebig aktivieren. Eine wirksame Raumordnung ist ein notwendiger Bestandteil einer verantwortungsbewußten Gesellschaftspolitik und unerläßliche Voraussetzung für die Erneuerung unserer Städte und Dörfer sowie die Fortführung des Wohnungsbaus. Die Bundesregierung erhofft die baldige Verabschiedung des dem Parlament vorliegenden Bundesraumordnungsgesetzes. Sie sieht in diesem Gesetz ein unerläßliches Mittel für eine wirksame Raumordnungspolitik in Bund und Ländern. Außerdem arbeitet die Bundesregierung an einem Gesetz zur Förderung städtebaulicher Maßnahmen in Stadt und Land. Hier geht es vor allem darum, die Städte und Dörfer entsprechend unseren gesellschaftspolitischen Vorstellungen so zu gestalten, daß sie in Anlage und Gliederung den neuzeitlichen Bedürfnissen der Bevölkerung entsprechen. In der Bundesrepublik ist unverkennbar ein Prozeß im Gange, der die Daten unseres wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens grundlegend gewandelt hat. Wir sind nach Überwindung des Klassenkampfes über wachsenden Wohlstand auf dem besten Wege, immer mehr Bürgern zu einem bewußteren Lebensstil und Lebensgefühl zu verhelfen. Immer ausgeprägter kommt der Fortschritt allen Schichten unseres Volkes zugute.

 

Der Sozialpolitik sind sowohl kurzfristig zu lösende Aufgaben gestellt, wie sie sich auch mit zukunftsweisenden Problemen zu befassen bat. Eine gründliche Durchleuchtung der heutigen Sozialgesetzgebung ist unabdingbar geworden. Darum wird die Bundesregierung unverzüglich die Durchführung einer Sozial-Enquete veranlassen, die die Grundlage dafür bilden soll, die sozialen Leistungen und Maßnahmen in ihrer Ganzheit und in ihren gegenseitigen Beziehungen überschaubar zu machen.

 

Sie soll die Voraussetzung für eine Sozialgesetzgebung in einem Guß schaffen.

 

Vordringlich erscheint in der Fortführung unserer Sozialpolitik der Ausbau des Familien-Lastenausgleichs. Der Familie muß der ihr zukommende Platz in Gesellschaft und Staat gesichert werden. Sie hat einen Anspruch darauf, an dem wirtschaftlichen Aufstieg unseres Volkes teilzuhaben. Darum gilt der kinderreichen Familie die besondere Sorge der Bundesregierung.

 

Neben materiellen Hilfen aber sollen auch andere Maßnahmen dem Schutze der Familie dienen. Durch gleiche Bildungsmöglichkeiten auf den verschiedenen Stufen, je nach Neigung und Begabung, unserer Jugend - ohne Rücksicht auf Einkommen und Vermögen der Eltern - gleiche Lebens- und Fortkommens-Chancen einzuräumen, ist wesentlicher Bestandteil einer positiven Familienpolitik.

 

Wache Aufmerksamkeit auch seitens des Staates muß die Erhaltung der Gesundheit unseres Volkes beanspruchen. Dabei ist die körperliche Ertüchtigung, um die sich die deutsche Turn- und Sportbewegung große Verdienste erworben hat, von besonderem Wert. Der Schutz der Bevölkerung vor Umweltschäden macht es notwendig, daß die Wirtschaft ihre soziale Verpflichtung bei der Entwicklung der Technik durch Maßnahmen zur Abwehr von Schäden für die Menschen erkennt und verwirklicht.

 

Dem Deutschen Bundestag sind von der früheren Bundesregierung eine Reihe wichtiger sozialer Gesetze vorgelegt worden. Da auch die von mir gebildete Regierung die Verbesserung sozialer Leistungen für unverzichtbar hält, möchte ich sehr wünschen, daß die Beratungen über diese Gesetze bald zu einem befriedigenden Abschluß gelangen. Die Bundesregierung teilt die einmütige Auffassung des Parlaments, daß der Arbeiter im Krankheitsfalle in gleicher Weise wie der Angestellte wirtschaftlich gesichert werden soll. Wir alle sind uns bewußt, daß die Neuregelung der gesetzlichen Krankenversicherung schwierige Probleme aufwirft. Es ist die Absicht der Bundesregierung, die Sozialversicherten vor einer immer weitergreifenden Kollektivierung zu bewahren.

 

Die Tatsache, daß die in Arbeit Stehenden in weitem Umfang die Verpflichtung übernehmen, für die nicht mehr Erwerbstätigen Sorge zu tragen, und die Rentenversicherung sie auch noch an der steigenden Produktivität der Volkswirtschaft teilhaben läßt, kennzeichnet die Ausgeschlossenheit unserer Sozialpolitik und deren Fundierung auf dem Grundsatz einer die Generationen verbindenden Solidarität. Die Veränderungen im Altersaufbau der Bevölkerung, die längere Ausbildungszeit unserer Jugend, ihr späteres Eintreten in das Erwerbsleben, die Verbesserung des Gesundheitswesens, der Fortschritt der medizinischen Wissenschaft und die dadurch erreichte höhere Lebenserwartung - das alles muß bei der Fortentwicklung unserer Sozialpolitik vorausschauend bedacht werden.

 

In der kommenden Zeit wird eine stagnierende oder vielleicht sogar absinkende Zahl von Vollerwerbstätigen für eine immer größere Zahl aus dem Arbeitsprozeß Ausgeschiedener die erforderlichen Mittel aufzubringen haben. Der Anteil der über Fünfundsechzigjährigen wird sich in wenigen Jahren gegenüber der Vorkriegszeit verdoppeln. Um nicht mißverstanden zu werden, erkläre ich ausdrücklich, daß es nicht in unserer Absicht liegt, das Pensionsalter der Beamten und die Altersgrenze der Arbeiter und Angestellten nach oben zu rücken. Aber wenn uns die Vor- und Fürsorge für ältere und alte Menschen am Herzen liegt, dann sollten wir ihnen im allgemeinen Interesse die Chance geben, auch später ihr Können und ihr Wissen nicht ungenutzt zu lassen und aus solcher Arbeit natürlich auch persönlich Nutzen zu ziehen. Soweit alte Menschen nicht in der Geborgenheit der Familie leben können, wird die Errichtung von Altersheimen gewiß zum Segen vieler Menschen. Aber auf vielen, die aus ihrer Berufstätigkeit ausschieden, lastet doch auch die Bedrückung, die Verbindung zum Leben zu verlieren. Ich habe den sicheren Eindruck, daß hier ein menschliches Problem vorliegt, dessen wir uns anzunehmen haben.

 

Die Bundesregierung hat den Vorstellungen über Verbesserungen der Kriegsopferversorgung durch den dem Hohen Haus vorgelegten Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Kriegsopferrechts Rechnung getragen. Mir ist an einer baldigen Verabschiedung dieses Gesetzes gelegen; aber auch für diesen Bereich hat der wiederholt herausgestellte Grundsatz zu gelten, die finanziellen Grenzen des Haushalts nicht zu überschreiten. Die Bundesregierung akzeptiert die rechtliche und moralische Verpflichtung des Staates, Einbußen an Leben und Gesundheit, die im Dienst für die Allgemeinheit erlitten wurden, zu entschädigen. Sie hält es aus diesen Gründen für ihre Pflicht, alles zu tun, die Kriegsopferversorgung angemessen und würdig zu gestalten.

 

Meine besondere Sorge werde ich der Fortsetzung der sozialen und wirtschaftlichen Eingliederung der Vertriebenen, Flüchtlinge, Kriegssachgeschädigten, der ehemaligen Kriegsgefangenen und der politischen Häftlinge zuwenden. Dabei geht es nicht nur um ein Gebot der sozialen Gerechtigkeit. Der rasche Wiederaufbau Deutschlands nach dem Kriege wäre ohne die großen Leistungen der Vertriebenen und Flüchtlinge nicht denkbar gewesen. Dafür gebührt ihnen Dank und Anerkennung.

 

Wir werden alle Möglichkeiten der Eingliederung ausschöpfen, das bereits Geschaffene sichern und das vollenden, was noch vollendet werden kann.

 

Wenn ich den Raum, den die Haushaltslage der kommenden Jahre für soziale Leistungsverbesserungen offen läßt, in Beziehung zu den Vorstellungen setze, die in dieser Richtung gehegt werden, zwingt das Gebot der Stabilität zu der Feststellung, daß wir, wie schon gesagt, nach Wertigkeit, Dringlichkeit und Nützlichkeit im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten ein Bezugssystem und einen längerfristigen Zeitplan aufstellen müssen. Ja, lassen Sie mich ein offenes Wort sprechen: Wir müssen uns entweder bescheiden oder mehr arbeiten. Die Arbeit ist und bleibt die Grundlage des Wohlstandes.

 

Es muß uns ferner daran gelegen sein, die mit dem wachsenden Wohlstand sichtbar gewordenen Mißstände auf ein Mindestmaß zu beschränken. So mancher Begüterte scheint in seiner persönlichen äußeren Lebensführung nur allzu leicht zu vergessen, daß der Wohlstand wohl eine Grundlage, nicht aber das Leitbild unserer Lebensgestaltung schlechthin ist.

 

Sicher handelt es sich dabei um Leute, denen es leichter war, den Wohlstand zu erringen, als ihn zu bewältigen. Wenn deren Haltung oft sogar zum öffentlichen Ärgernis wird, dann bin ich mir wohl bewußt, daß solche Entartungserscheinungen nicht durch Gesetze eingefangen werden können, sondern daß die Kreise, die es angeht, das Ihre tun müssen, um ein Standesbewußtsein zu entwickeln, das unserem sozialen Leben und unserer Stellung in der Welt gemäß ist.

 

Die Bundesregierung will ihrerseits bei allen relevanten Gesetzen und Verordnungen prüfen, mit welchen geeigneten Maßnahmen sie derartigen Mißständen begegnen könnte.

 

Wenn ich Grundfragen des Rechts und der Rechtspolitik in den Vordergrund rücke, so nicht zuletzt deshalb, weil nicht übersehen werden kann, daß in der deutschen Öffentlichkeit ein echtes Bedürfnis nach Klarheit und Übersichtlichkeit des Rechts lebendig ist. Ich habe den Eindruck, daß unser Rechtssystem unter einer allzu großen Aufsplitterung leidet.

 

Unser Recht birgt in manchen Teilen keine volle Harmonie in sich und steht mit dem Gerechtigkeitssinn der Bürger nicht immer in Einklang. Wir dürfen es in der Erinnerung an die vergangene Zeit des Unrechtsstaates als einen großen Gewinn verbuchen, daß das deutsche Volk für Fragen des Rechts in hohem Maße aufgeschlossen ist.

 

Der Blick auf das Willkür-Regime jenseits der Zonengrenze macht uns bewußt, wie zwingend die Rechtsordnung zu unserer Lebensordnung gehört. Als Regierungschef bekenne ich mich zu der hohen, allerdings auch selbstverständlichen Verpflichtung, die rechtsstaatlichen Prinzipien in unserem Lande zu wahren.

 

Manche Rechtsbereiche sind nach Auffassung des Justizministers, der ich mich anschließe, in einer Weise geregelt, die sich unnötig von vergleichbaren Regelungen in anderen Rechtsbereichen entfernt. Die Zahl der geschriebenen Normen mit ihren vielen Einzelbestimmungen erschwert die Übersicht über das geltende Recht und seine Verwirklichung, zumal die Vorschriften vielfach zu verschiedenen Zeiten mit unterschiedlichen politischen und sozialen Zuständen, also nicht aus dem gleichen Geist heraus, entstanden sind. Das heißt, daß wir uns für die Zukunft noch mehr um ein von allgemeiner Rechtsüberzeugung getragenes, von klaren und zeitnahen rechtspolitischen Grundsätzen übersichtlich und verständlich gestaltetes Gesetzesrecht zu bemühen haben. Es kommt darauf an, das Vertrauen des Bürgers zum Recht zu vertiefen und zu stärken. Deshalb, bittet die Bundesregierung das Hohe Haus, die vorgelegten Reformwerke wie die Reform des Strafrechts, des Aktienrechts und des Urheberrechts zügig weiter zu beraten.

 

Die Bundesregierung empfindet es weiterhin als ihre Aufgabe, der Rechtszersplitterung zu begegnen und dem Hohen Haus entsprechende Vorschläge auf dem Gebiet des Verfahrensrechts zu unterbreiten. Auch soll gemeinsam mit den Ländern nach Möglichkeit noch in dieser Legislaturperiode ein einheitliches Recht für das Verwaltungsverfahren und damit erstmalig eine einheitlich kodifizierte Ordnung der Verwaltungstätigkeit gesetzt werden.

 

Ich fasse zusammen: Das Recht sollte uns allen und jedem Bürger zu heilig sein, als daß es manchmal in recht einseitiger Darstellung zum Spielball demagogischer Auseinandersetzungen herabgewürdigt wird.

 

Wenn in einer freien demokratischen Ordnung jeder Staatsbürger an der Wahrung des Rechts lebendigen Anteil nehmen soll, so obliegt uns allen die gewiß noch höhere Verpflichtung, zu jeder Zeit und ohne Ansehen der Person für Recht und Gesetz einzutreten.

 

Zur Mehrung der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit gehört es auch, jene Gesetze zu verabschieden, die - wenn auch unter unterschiedlichen Aspekten - dem Schutze der Person und der Gesellschaft zu dienen haben. Es liegt dem Hohen Hause bereits ein umfassendes Gesetzgebungswerk unserer Notstandsverfassung vor. Es kommt darauf an, dem Staat und seinen Organen eine gesetzliche, von rechtsstaatlichen Vorstellungen geformte Grundlage für das Handeln im Notfalle zu geben. Gerade die Diskussionen der letzten Wochen haben deutlich gemacht, wie dringend erwünscht es ist, in diesem Bereich das alliierte Recht durch deutsche Vorschriften zu ersetzen, um so die Lücken zu schließen, die bis heute durch alliierte Verordnungen provisorisch und auch noch unzulänglich ausgefüllt wurden. Dabei bin ich mir der Schwierigkeiten, die bei der Behandlung der Ihnen vorliegenden Entwürfe zur Ergänzung des Grundgesetzes zu meistern sein werden, voll bewußt.

 

Von dem gleichen Grundgedanken ausgehend, ist die Bundesregierung entschlossen, dem Parlament den Entwurf eines Gesetzes vorzulegen, das im Einklang mit Art. 10 des Grundgesetzes die für jedermann erkennbaren Ausnahmen festlegt, in denen aus Gründen der Sicherheit des Staates und seiner Bürger wie auch der bei uns stationierten alliierten Truppen gewisse Einschränkungen des Post- und Briefgeheimnisses geboten sind.

 

Wenn ich von solchen wichtigen Fragen des öffentlichen Lebens spreche, dann bedarf es eines weiteren Hinweises. Die Bundesregierung weiß um die große Bedeutung des öffentlichen Dienstes für die innere und äußere Ordnung unseres Staates. Sie wird sich in Anerkennung der auch in diesem Bereich erbrachten großen Leistungen den weiteren Ausbau des Rechts der im öffentlichen Dienst Tätigen angelegen sein lassen.

 

Bei der Ausgestaltung unseres Besoldungsrechts geht es darum, die innere Gerechtigkeit in unserem Besoldungssystem, die durch viele Änderungen der letzten Jahre Schaden gelitten hat, wiederherzustellen. Darüber hinaus wird sich die Bundesregierung bemühen, den Verbund der Besoldung in Bund, Ländern und Gemeinden als Voraussetzung für eine große Besoldungsreform rechtlich zu fundieren. Eine gute, in sich abgewogene Ordnung im Besoldungssystem aller Bereiche des öffentlichen Dienstes ist und wirkt als ein stabilisierender Faktor im Gesamtgefüge der Lohn-, Gehalts- und Arbeitszeitvereinbarungen.

 

Meine Damen und Herren, wenn ich erst spät auf die Wirtschaftspolitik zu sprechen komme, für die ich über fünfzehn Jahre lang die unmittelbare Verantwortung trug - ja sie von ihren Anfängen, vom Frankfurter Wirtschaftsrat her gestaltete -, dann kann ich darauf verzichten, an dieser Stelle neue, grundlegende Erklärungen abzugeben. Das gilt um so mehr, als sich heute offenkundig alle Fraktionen dieses Hohen Hauses zur ‚Sozialen Marktwirtschaft’ bekennen wollen.

 

Nach allem aber, was ich in meinem früheren Amt an wirtschaftspolitischen Debatten erlebt habe, kann mir niemand die Genugtuung verargen, die ich heute ob einer so weitgehenden Übereinstimmung empfinde.

 

Auch als Bundeskanzler verbürge ich mich dem Hohen Haus und der deutschen Öffentlichkeit gegenüber, die Politik der ‚Sozialen Marktwirtschaft’ konsequent fortzuführen.

 

Die wesentlichen Elemente dieser Politik sind Ihnen bekannt.

 

Das Bemühen um ein stabiles Preisniveau steht an der Spitze der wirtschaftlichen Rangordnung. Wir alle sollten uns bei jeder Entscheidung dieser schweren Verantwortung bewußt sein, handelt es sich doch dabei um eine Aufgabe, die keine Regierung zu keinem Zeitpunkt als endgültig gelöst ansehen kann. Wenn ich sage ‚wir alle’, dann möchte ich damit zum Ausdruck bringen, daß die Wahrung der Stabilität nicht nur von Entscheidungen der Regierung abhängt, sondern daß es des Zusammenwirkens aller bedarf, um diesem Grundsatz Geltung zu verschaffen. Gerade eine freiheitliche Gesellschaftsordnung, die der Entfaltung der Persönlichkeit und der privaten Betätigung der Bürger weitesten Spielraum geben will, setzt eine festgefügte staatliche Ordnung und eine stabile Währung voraus.

 

Zu jenem Ordnungsrahmen gehört das Prinzip des Wettbewerbs. Er ist nicht lediglich als ein ökonomisch-technisches Organisationsprinzip des Marktgeschehens zu begreifen; Wettbewerbspolitik im weitesten Sinne dient der Durchsetzung gerechter Entscheidungen und verhindert die Erstarrung des Lebens in vorgefaßten ideologischen Normen oder gesellschaftlichen Zuständen. Eine so verstandene Politik wird darum auch am besten dem gesellschaftspolitischen Wunsch und Willen gerecht, das Bewußtsein der Selbstverantwortung des Staatsbürgers zu stärken, aus der die Kraft fließt, sich durch Leistung bewähren zu wollen. Das Wettbewerbsprinzip ist die Wurzel des sozialen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufstiegs überhaupt und besitzt darum Gültigkeit nicht etwa nur für die Schicht der Unternehmer, sondern für die Angehörigen aller Berufe.

 

Hier an anknüpfend möchte ich nur auf wenige spezielle Maßnahmen und Überlegungen hinweisen. So erwähne ich den Kartellbericht, den die Bundesregierung dem Parlament am 22. August 1962 zugeleitet hat. Eine baldige Beratung wäre um so wünschenswerter, als sich in diesem Zusammenhang die Möglichkeit bieten wird, das Problem der Zusammenarbeit der mittleren und kleineren Unternehmungen im Vorfeld des Marktes zu behandeln. Zu diesem Fragenkreis gehören auch Kooperationsrichtlinien, die das Bundesministerium für Wirtschaft in den nächsten Tagen der Öffentlichkeit übergeben wird. Bei der Beratung des Kartellberichts wird sich das Hohe Haus ferner mit der Behandlung marktbeherrschender Unternehmen sowie der Preisbindung der zweiten Hand zu befassen haben. Die Bundesregierung sieht keine Veranlassung, in der Beurteilung dieser beiden Probleme von dem durch das frühere Kabinett gebilligten ‚Kartellbericht’ abzuweichen.

 

Die Bedeutung des Mittelstands und die Notwendigkeit seiner Erhaltung und Festigung wird von mir erneut bekräftigt.

 

Bei dem betonten Willen zur Erhaltung der Stabilität von Währung und Wirtschaft ist auch die Wichtigkeit der Arbeit des Sachverständigenrats, der auf Grund des von Ihnen einstimmig beschlossenen Gesetzes zu bilden ist, deutlich gekennzeichnet. Der Bundeswirtschaftsminister wird dem Kabinett unverzüglich seine Vorschläge für die Besetzung dieses Gremiums unterbreiten. Ich hoffe, daß sich hervorragende Persönlichkeiten für diese so wichtige Aufgabe zur Verfügung stellen.

 

Eine gesunde wirtschaftliche Entwicklung kann sich nicht allein am Wachstum, sondern muß sich, wie gesagt, nicht minder auch am Ziele der Stabilität der Währung orientieren. Eine so verstandene erfolgreiche Wirtschaftspolitik dient zugleich der Erhaltung der politischen Ordnung. Gerade die Geschichte der Weimarer Republik zeigt die enge Beziehung zwischen Politik und Wirtschaft auf. In diesem Zusammenhang kommt der Fortentwicklung des konjunkturpolitischen Instrumentariums zunehmende Bedeutung zu. Zwischen autonomen nationalen Entscheidungen und der internationalen Kooperation im Rahmen der EWG und der OECD besteht eine enge Wechselwirkung.

 

Die Bundesregierung ist sich bewußt, daß ihr der hohe Anteil der öffentlichen Ausgaben an der gesamten Nachfrage nicht nur eine Handhabe bietet, sondern sogar die Verpflichtung auferlegt, durch eine sinnvolle Beeinflussung der öffentlichen Ausgaben vor allem im Investitionsbereich die Wirtschaftstätigkeit anzuregen oder gegebenenfalls auch zurückzudämmen. Dem gleichen Ziel würde ein Einwirken auf die private Nachfrage durch eine beweglichere Steuer- und Abschreibungspolitik dienen. Gewiß ist es leichter, diese Erkenntnis auszusprechen, als sie praktisch zu verwirklichen. Die Schwierigkeiten sollten uns aber nicht hindern, an der Lösung dieses Problems zu arbeiten.

 

Die Erfahrung lehrt, daß die Praxis der einjährigen Haushaltsansätze modernen konjunkturpolitischen Bedürfnissen nicht mehr gerecht wird. Es erweist sich vielmehr als notwendig, die üblichen Jahreshaushalte in längerfristige, etwa 4 Jahre währende Haushaltsüberlegungen einzubetten, um auf solche Weise sichere Maßstäbe für Wert und Rangordnung der einzelnen Ausgaben zu gewinnen.

 

Die Bundesregierung kann erfreulicherweise bei diesen Überlegungen an weit gediehene Vorarbeiten anknüpfen. Ich werde das Bundeswirtschafts- und das Bundesfinanzministerium sogleich beauftragen, in enger Zusammenarbeit mit den beteiligten Ressorts und den Ländern dem Bundeskabinett zweckentsprechende konkrete Vorschläge zur Verwirklichung dieser Ideen zu unterbreiten.

 

Wenn ich im öffentlichen Sektor für eine planvolle Vorausschau eintrete, dann gerate ich wohl nicht in den Verdacht, der nationalökonomischen Modeerscheinung, wie sie indem fast schon zum Schlagwort gewordenen Begriff der ‚Planifikation’ Ausdruck findet, zu frönen. Wer allerorts Rückschläge und Mißerfolge des Dirigismus in anderen Ländern beobachtet, begreift schwer, daß ausgerechnet die Bundesrepublik nach einer langen Reihe von Jahren, die durch anerkannte Erfolge ihrer Wettbewerbspolitik gekennzeichnet sind, zu einer planifizierten Wirtschaft übergehen soll. Niemand wird von mir erwarten, daß ich meine Haltung gegenüber solchen Ideen ändern könnte.

 

Auch die Umsatzsteuerreform mit der Abkehr vom derzeitigen System und dem Übergang zu der Mehrwertsteuer steht unter dem Leitgedanken der Förderung des Wettbewerbs. Die Behandlung dieser Materie in den kommenden Ausschußberatungen wird Zeit und Gelegenheit zur gedanklichen Vertiefung und Verbesserung bieten. Aber wenn sich das Hohe Haus darin einig ist, daß von der Umsatzsteuer keine konzentrationsfördernden Anreize ausgehen dürfen und die Verzerrungen im Außenhandel beseitigt wenden sollen, dann wird die Reform geradezu zu einem zwingenden Gebot. Dabei ist es gewiß nicht Sinn und Absicht der Systemänderung, etwa die freien Berufe zu benachteiligen oder dem Mittelstand höhere Lasten aufzubürden.

 

Dies mag auch daraus ersichtlich werden, daß die Bundesregierung im Zusammenwirken mit den Ländern noch in dieser Legislaturperiode den geltenden Einkommensteuertarif überprüfen wird, um in einem finanziell vertretbaren Rahmen steuerliche Unausgeglichenheiten im Bereich vor allem der mittleren Einkommen zu bereinigen.

 

Zu den die deutsche Öffentlichkeit mehr und mehr erregenden Fragen zählen zweifellos der Verkehr, die Parkraumnot, der Straßenbau und die Verkehrssicherheit. Weil das Automobil in unserer heutigen Gesellschaft zu mehr als einem nur technischen Hilfsmittel geworden ist, muß jedes Kalkül über die künftigen Aufgaben im Verkehrswesen von einer weiterhin rasch und stark zunehmenden Zahl von Personenkraftwagen ausgehen. Der Bund hat bis heute im Straßenbau große Anstrengungen unternommen und gewaltige Investitionen getätigt. Dennoch werden ihm Versäumnisse und unzulängliches Handeln vorgeworfen.

 

Gerade weil dieses Urteil in solcher Vereinseitigung nicht gerechtfertigt ist, scheint es mir dringend geboten, daß von der Bundesregierung eine Initiative ausgeht, ihre eigenen Bemühungen mit denen der Länder und Gemeinden besser aufeinander abzustimmen. Ein gemeinsam erarbeitetes Rahmenprogramm würde der gemeinsamen Aufgabe nur dienlich sein. Ich hoffe auf die bereitwillige Mitwirkung der Länder und Gemeinden.  

 

Auch die Wettbewerbsverhältnisse zwischen den Verkehrsträgern müssen neu überdacht werden, vor allem in Hinblick darauf, daß jedem von ihnen diejenigen Leistungen zufallen, zu deren Bewältigung sie auf Grund ihrer technischen und kostenwirtschaftlichen Eigenart besonders geeignet sind. Das heißt, daß die Verkehrspolitik nicht nur den von der Öffentlichkeit in erster Linie darunter verstandenen Straßenbau im Auge zu haben hat. Die Tarifpolitik ist ein nicht minder wichtiges Instrument der Verkehrspolitik. Mit den Verkehrs-Änderungs-Gesetzen von 1961 ist zwar in dieser Hinsicht ein neuer Weg erschlossen worden, der aber von den Verkehrsträgern bis heute nur unzulänglich begangen wird. Ich kann diese nur ermuntern, von den Chancen einer freieren Tarifgestaltung reicher, als es seit dem Inkrafttreten der Verkehrsnovelle geschehen ist, Gebrauch zu machen.

 

Daß bei der Bevölkerungsdichte in der Bundesrepublik den strukturellen Fragen der Raumgliederung, der Ansiedlung von Gewerbebetrieben sowie der Städteplanung nicht nur unter verkehrspolitischem Aspekt, sondern z.B. auch im Zusammenhang mit der Agrarpolitik große Bedeutung zukommt, wird aus meinen Ausführungen noch deutlich werden.

 

Ich möchte diesen Teil meiner Erklärung nicht abschließen ohne ein Wort der Anerkennung für die Leistungen von Bundesbahn und Bundespost, die nur durch den hingebungsvollen Einsatz aller Mitarbeiter dieser großen Organisationen möglich sind.

 

Eine erfolgreiche Lösung der agrarpolitischen Fragen liegt mir besonders am Herzen, denn wir alle verkennen nicht die Bedeutung, die der Agrarpolitik und ihrer Fortentwicklung unter veränderten Umweltbedingungen zukommt.

 

Niemand soll an meinem guten Willen und an dem festen Entschluß zweifeln dürfen, alles Zweckmäßige zu unternehmen, um ein lebenskräftiges deutsches Bauerntum zu erhalten und die in ihm tätigen Menschen von der Unruhe und Unsicherheit zu befreien, daß es für sie keine gesicherte und glückliche Zukunft geben könne.

 

Die nach dem Kriege von der deutschen Landwirtschaft erbrachten Leistungen können sich auch im internationalen Vergleich sehen lassen. Sie berechtigen zur Zuversicht und sollen auch die Landwirtschaft in dem Glauben an die eigene Kraft stärken.

 

Es wird und muß durch eine positive Agrarpolitik auch in einer enger zusammenrückenden Welt gelingen, die Agrarwirtschaft immer organischer in die deutsche Volkswirtschaft einzufügen. Wenn auch die Landwirtschaft ihre eigenen Gesetze kennt, so muß doch die Agrarpolitik als Teil der allgemeinen Wirtschaftspolitik verstanden werden. Damit bringe ich zum Ausdruck, daß an einer Erhaltung und Festigung der Landwirtschaft nicht allein die bäuerliche Bevölkerung interessiert ist, sondern daß auch alle anderen Volksschichten und Berufsgruppen Verständnis für die Landwirtschaft bezeugen sollten.

 

Die europäische Agrarpolitik stellt uns zweifellos vor schwierige Fragen der Anpassung und Umstellung. Wir alle sind uns dabei einig, daß es die deutsche Landwirtschaft als Ansatzpunkt einer allgemein gültigen Agrarpolitik nicht gibt, daß vielmehr aus unterschiedlichsten Ursachen differenzierte Mittel und Methoden Platz greifen müssen.

 

Die Aufgabenstellung ist aber im Großen dennoch zu umreißen:

 

Die moderne Wirtschaft mit ihrem hohen Mechanisierungs- und Technisierungsgrad, vor allem auch mit dem hohen Preis, den sie für die menschliche Arbeitskraft zu zahlen gewillt und in der Lage ist, verlangt von der ursprünglich nahezu ausschließlich arbeitsintensiven Landwirtschaft eine tiefgreifende Umstellung. Der Umstand, daß die Verbraucher sich von dem Verzehr von Grundnahrungsmitteln, wie z.B. Getreideerzeugnissen, zunehmend höherwertigen Nahrungsmitteln zuwenden, zwingt die deutsche Landwirtschaft, wenn sie für die Zukunft ihr Einkommen verbessern will, der Veredelungswirtschaft noch höhere Bedeutung beizumessen. Eine moderne Agrarpolitik wird sich aus den vorerwähnten Gründen um eine immer stärkere Differenzierung und Variierung des Angebots wie auch um eine organische Verbindung von Produktion und Markt zu bekümmern haben.

 

Die bäuerliche Bevölkerung weiß sehr wohl, daß die Absatzmöglichkeiten für Veredlungsprodukte und hochwertige landwirtschaftliche Erzeugnisse wesentlich von der Mehrung des allgemeinen Wohlstands abhängen, der seinerseits wieder die enge Verflechtung mit der Weltwirtschaft zur Voraussetzung hat. Damit wird sich für die kommende Zeit die Agrarpolitik mit Spezialfragen zu befassen haben, deren Bedeutung offen zutage liegt. Wenn ich in Verbindung mit der europäischen Agrarpolitik das Problem des deutschen Getreidepreises berühre, so möchte ich dazu erklären, daß der derzeitige Preis nach Maßgabe der nicht zuletzt durch die Struktur der Betriebe bedingten Kostenverhältnisse und der Ertragslage der Landwirtschaft im allgemeinen zu Beanstandungen keinen Anlaß gibt und deshalb mit gutem Gewissen vertreten werden kann. Gleichwohl ist bekannt genug, daß diese Frage innerhalb der Europäischen Gemeinschaft noch vor Beginn der Kennedy-Runde zur Erörterung ansteht. Die deutsche Landwirtschaft kann davon überzeugt sein, daß ich bei diesen Verhandlungen ein fairer Sachwalter auch der Interessen der deutschen Landwirtschaft sein werde.

 

Bei der Bewältigung der von mir skizzierten Aufgaben und Probleme wird die Bundesregierung der Landwirtschaft entschlossen zur Seite stehen. Sie wird die Mittel des Grünen Plans konsequent für eine Gesundung der Landwirtschaft wie für die Stärkung ihrer Wettbewerbsfähigkeit einsetzen. Die Steigerung der Arbeitsproduktivität in dem Betrieb selbst und seine rationelle Verbindung zum Markt bleiben eine ständige Aufgabe.

 

Die Bundesregierung wird nicht nur die von Bundespräsident Lübke seinerzeit so erfolgreich begonnenen Agrarstrukturmaßnahmen fortsetzen. Darüber hinaus wird sie die Möglichkeit für technisch, betriebs- und marktwirtschaftlich sinnvolle Investitionen in den einzelnen Betrieben verbessern und beim Ausbau geeigneter Produktions- und Verarbeitungsmaßnahmen Hilfen gewähren. Die Verwirklichung solcher Vorstellungen erfordert, wie sich die Bundesregierung bewußt ist, einen großen Kapitalaufwand. Sie wird dieses Problem sorgfältig prüfen und dabei auch die Frage der Zinsbelastung nicht außer acht lassen.

 

Soweit Betriebe nicht existenzfähig sind, sollen sie zu Voll-Erwerbsbetrieben aufgestockt werden oder sollten zu ihrem eigenen Vorteil ihre Flächen zur Aufstockung anderer Betriebe zur Verfügung stellen. Dabei sind finanzielle Anreize mannigfacher Art zu entwickeln.

 

Hierzu gehört auch die Intensivierung der regionalen Wirtschaftspolitik, die der Existenzsicherung der von dem Strukturwandel berührten bäuerlichen Bevölkerung dienen soll. Nicht minder wichtig ist es, den Bildungs- und Erziehungseinrichtungen auf dem Lande größeres Augenmerk zuzuwenden. Auf diesem Gebiet scheinen mir Reformen dringend geboten zu sein.

 

Aus soziologischen Gründen ist es ferner bedeutsam, daß die Erhaltung des ländlichen Wohneigentums einer weiteren Abwanderung aus manchen ohnedies dünnbesiedelten Gebieten vorzubeugen hat.

 

Eine phantasievolle und aufgeschlossene Agrarpolitik hat den bäuerlichen Familienbetrieb in den Mittelpunkt zu stellen. Sie soll dem Bauern für die Gegenwart und die Zukunft wieder Mut und Sicherheit geben.

 

Meine Damen und Herren, wir Deutschen bedürfen nach den Brüchen in unserer jüngeren Geschichte neuer Ausdrucksformen in allen Äußerungen unseres gemeinsamen Lebens. Wir sind zu bewußter Solidarität aufgerufen. Gerade die Industriegesellschaft braucht einen starken Staat. Je größer der Druck der Verbände und Gruppen auf den Gang der Politik, je ungehemmter der Egoismus von Teilgewalten sich entfesselt, um so entschiedener ist es allen verantwortlichen Kräften - und in besonderem Maße der Bundesregierung - aufgegeben, für die Respektierung des Gemeinwohls Sorge zu tragen. Wir werden die großen Zukunftsaufgaben der deutschen Politik nur meistern können, wenn die gesellschaftliche Kraft der Verbände nicht ausschließlich den eigenen Interessen nutzbar gemacht wird. Es würde einen gewaltigen Fortschritt in den öffentlichen Dingen unseres Staates bedeuten, wenn die große Macht und der Sachverstand der Interessengruppen und die Fülle der Talente auch für die allgemeinen Aufgaben des Gemeinwesens zur Verfügung stünden.

 

Die Zielstrebigkeit unserer Politik und ihre Vitalität bedeuten keine Machtpolitik; sie ist, wie eingangs gesagt, eine Politik der Mitte, die um die Notwendigkeit der Verständigung und des Ausgleichs weiß. In einer Welt, die immer mehr in die Weite strebt, bedarf ein freies Volk eines gesunden nationalen Selbstbewußtseins. Nur wer sicher in sich selbst ruht und um seine Wurzeln weiß, wird diesen Weg gehen können, ohne sich zu verlieren.

 

Wir haben die Schuld, die während jener tragischen zwölf Jahre der Gewaltherrschaft im Namen Deutschlands allen Deutschen aufgebürdet wurde, schonungslos offenbart. Wir werden diese Schuld vollends abtragen, soweit Menschen dazu in der Lage sind. Darum betrachten wir die Wiedergutmachung als eine bindende Verpflichtung.

 

Wir wissen es zu würdigen, wenn Menschen aus ihrem eigenen Erleben heraus noch nicht bereit sind, sich mit dem neuen Deutschland zu versöhnen. Aber wir haben keinen Sinn für jene Bestrebungen, die aus vergangener Barbarei für alle Zeit eine deutsche Erbsünde herleiten und als politisches Mittel konservieren möchten.

 

Unser Tun dient nicht nur der Stunde, dem Tag oder diesem Jahr. Wir haben die Pflicht, in Generationen zu denken und unseren Kindern und Kindeskindern ein festes Fundament für eine glückliche Zukunft zu bauen.

 

Ich lege vor jedem Bürger unseres Volkes das Versprechen ab, all meine Kraft, mein Wissen und meine ganze Erfahrung für die Sicherung unserer inneren und äußeren Freiheit, für die Festigung des demokratischen Lebens und für das Wohlergehen des deutschen Volkes einzusetzen. In einer sich bewegenden Welt werden wir nicht erstarren dürfen, aber wir haben die Pflicht, in der Verfolgung der Ziele unserer Politik fest zu bleiben.

 

Denn der Mensch, der zur schwankenden Zeit auch schwankend gesinnt ist,

 

Der vermehret das Übel und breitet es weiter und weiter;

 

Aber wer fest auf dem Sinne beharrt, der bildet die Welt sich.“